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Einundvierzigstes Kapitel.

Fräulein Firman, wenn ich nicht irre?

Das hagere, große Fräulein mit den angenehmen Gesichtszügen sah weit älter und sorgenvoller aus als beim Verhör. Sie stand von dem Platz in ihrem Wohnzimmer auf und betrachtete den unerwarteten Besuch mit verwunderten Blicken.

Mein Name ist Ihnen vielleicht unbekannt, fuhr der Fremde mit freundlicher Stimme fort. Ich heiße Gryce, und Sie sind, soviel ich weiß, eine Verwandte der Frau Klemmens, die in Sibley auf so schmähliche Weise ermordet wurde. Natürlich liegt Ihnen viel daran, daß der Mörder entdeckt wird; da dies nun auch mein Wunsch ist, haben wir beide das gleiche Interesse, nicht wahr?

Er sprach diese Worte zwar mit besonderer Betonung, aber ohne jede verletzende Vertraulichkeit. Fräulein Firman verstand ihre Bedeutung.

Sie sind ein Detektiv, rief sie eifrig. Ist etwa Craik Mansell freigesprochen worden?

Das Urteil ist noch nicht gefällt, und die Verhandlung einstweilen vertagt worden, damit er einen neuen Anwalt wählen kann.

Fräulein Firman bat Gryce, Platz zu nehmen. Was führt Sie denn zu mir? fragte sie ohne Umschweife.

Das will ich Ihnen sagen, erwiderte er offenherzig.

Nicht wahr, Sie halten Craik Mansell für unschuldig? Ich auch.

Das freut mich, rief sie und streckte ihm die Hand entgegen, die er verständnisvoll drückte. Craik wäre ja nicht seiner Mutter Sohn, wenn er eine solche Untat verüben könnte. Aber die Beweise sprechen alle gegen ihn; wie kommt es, daß Sie an seine Unschuld glauben?

Ich habe mit ihm gesprochen und mit Fräulein Dare. Auch war ich zugegen, als sein Verteidiger im Sterben lag.

Herr Orkutt – was hat das damit zu tun?

Die verwunderte Frage vernichtete seine kühnen Hoffnungen; er schlug einen andern Ton an.

Sie haben also den Rechtsanwalt nicht gekannt? Er war doch fast täglich im Hause Ihrer Cousine; haben Sie diese denn nie in Sibley besucht?

Doch, einmal. Ich hatte auch die Ehre, ihn dort zu sehen, aber seine Bekanntschaft machte ich darum noch nicht.

Er war wohl stolz und verschlossen?

Nicht besonders; nur wie man das in unserem Stande von einem solchen Herrn nicht anders erwarten kann.

Gryce holte tief Atem. Aus diesem leeren Brunnen schien es wirklich unmöglich, noch etwas herauszupumpen.

Warum fragen Sie mich nach Herrn Orkutt? Hat etwa sein Tod Einfluß auf den Prozeß des jungen Mansell?

Jawohl, das ist es eben, entgegnete Gryce schnell. Wo hat denn Frau Klemmens die Bekanntschaft des Rechtsanwalts gemacht? Wohl irgendwo im Westen?

Nicht, daß ich wüßte. Ich habe immer geglaubt, sie waren zuerst in Sibley bekannt geworden.

Sie kamen doch aber beide aus Nebraska, vielleicht hatten sie sich dort schon getroffen?

Davon weiß ich nichts; meine Cousine hat es nie erwähnt. –

Es war für Gryce eine starke Geduldsprobe, aber er ließ sich die Mühe nicht verdrießen. –

Ich dachte, sie wäre in Toledo aufgewachsen, sagte er.

Jawohl. Sie war eine Waise und mußte früh für ihr Fortkommen sorgen. In einem Gasthaus in Swanson brauchte man eine Kellnerin, und sie nahm die Stelle an. Hm! Also doch in Nebraska! Blieb sie denn in der Stelle bis zu ihrer Verheiratung?

Ich glaube wohl, aber aus jener Zeit weiß ich wenig. Wir sprachen nie darüber, es war ihr zu schmerzlich.

Weshalb denn?

Weil sie dort ihren Mann so früh verlor.

So? – wissen Sie mir gar nichts Näheres darüber zu sagen?

Nein, höchstens wäre meine Mutter imstande gewesen, Ihnen Auskunft zu geben. Doch können wir sie nicht darum befragen, ohne sie allzusehr aufzuregen. Ihre schon vorher schwache Gesundheit ist durch den Schrecken über die Ermordung meiner Cousine so erschüttert worden, daß sie kaum mehr das Bett verläßt.

Aber Sie haben ihr doch mitgeteilt, was sich weiter zugetragen, die Gerichtsverhandlung, Orkutts Tod – –

Freilich; auch fragt sie mich, sobald sie sieht, daß ich die Zeitung lese, ob keine Nachricht aus Sibley darin steht. Ich vermeide es aber so viel wie möglich, den Prozeß zu erwähnen; des Rechtsanwalts schreckliches Ende hat sie nämlich so ergriffen, daß ich ernstlich für ihren Verstand fürchte. Sie gerät seitdem häufig in fieberhafte Unruhe und führt ganz wirre Reden.

Das muß Ihnen ja rechte Sorge machen; wie äußert sie sich denn zum Beispiel?

Sie murmelt in ihrem geistesschwachen Zustand viel vor sich hin, was ich nicht verstehe, auch verspricht sie sich manchmal und sagt Frau Orkutt statt Frau Klemmens. Erst vorhin rief sie im Halbschlafe: »Marie Anna, warum hast du mir'sgesagt, hättest du doch dein Geheimnis Emilien anvertraut. Nun muß ich ihr verschweigen, daß eigentlich Frau Orkutt –« weiter kam sie nicht. –

Gryce rieb sich vergnügt die Hände; der Brunnen war doch nicht ganz ausgetrocknet. –

Seltsam, rief er, aber für mich von großer Wichtigkeit. Glauben Sie mir, nicht von ungefähr bringt Ihre Mutter Orkutts Namen mit dem ihrer unglücklichen Nichte in Zusammenhang; das muß eine tiefere Bedeutung haben, denn ich sage Ihnen: Orkutt und kein anderer war der Mörder der Witwe Klemmens.

Ihr Mörder? Nicht möglich!

Das ist meine feste Ueberzeugung, versicherte Gryce feierlich. Soviel es ihm nötig schien, machte er hierauf Emilie Firman mit den Einzelheiten des Falles bekannt. Sie vernahm seine Erklärungen mit grenzenlosem Erstaunen.

So verbirgt meine Mutter am Ende wirklich ein Geheimnis vor mir, rief sie. Hätte ich es doch ahnen können, gewiß hat ihr das auf der Seele gelastet und sie so schwer bedrückt. Wer weiß, ob nicht der Briefumschlag etwas damit zu tun hat, den sie so ängstlich bewacht. Sie hält ihn stets unter dem Kopfkissen versteckt, seitdem sie das Bett hütet. Ich glaubte, es seien Briefe meines Vaters, aber –

Trägt der Umschlag eine Aufschrift? Ich möchte wohl wissen, was darin ist.

Wozu – hat das für Sie irgendein Interesse? Gewiß würde die Mutter merken, wenn man das Papier entfernte; es könnte sie ängstigen und ihr schaden.

Stecken Sie ihr einen andern Umschlag mit einem zusammengefalteten Papier unter das Kissen.

Weshalb soll ich sie täuschen?

Um Craik Mansell zu retten.

Den jungen Mansell kann doch das unmöglich etwas angehen.

Vielleicht ist weder leeres Papier in dem Umschlag noch alte Briefe Ihres Vaters – vielleicht enthält er irgendeine Urkunde – einen Trauschein zum Beispiel –

Einen Trauschein? –

Ja – eine Bescheinigung der Heirat von Frau Klemmens mit Herrn Orkutt. Wäre das der Fall, so könnte man ohne allzu großen Scharfsinn vorhersagen, daß die Folge davon Craik Mansells Freisprechung sein würde.

Marie Anna – Herrn Orkutts Frau? Unmöglich! rief Emilie Firman erregt; schon stand sie auf der Schwelle des Schlafzimmers.

Es sind schon weit unwahrscheinlichere Dinge in dieser Welt geschehen, entgegnete Gryce mit überlegenem Lächeln; Frau Klemmens kann sehr wohl Frau Orkutt gewesen sein.

Länger vermochte Emilie Firman ihre Neugier nicht zu bezähmen. Sie ließ den Detektiv stehen und schlich leise an das Bett ihrer Mutter. Bald kam sie mit geröteten Wangen zurück.

Ich habe den Umschlag, stieß sie hervor und nahm aus der Schürze ein Paket, das sie mit fliegender Hast öffnete.

Dicht beschriebene Blätter lagen darin.


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