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Achtzehntes Kapitel.

In recht düsterer Stimmung saß der Bezirksanwalt in seinem Bureau. Er hatte am Morgen aus dem Gefängnis die Nachricht erhalten, daß Valerian Hildreth in der Nacht einen Selbstmordversuch angestellt habe und jetzt in bedenklichem Zustand im Krankenhaus liege.

Wenn auch die Wahrscheinlichkeit der Schuld des Mannes durch diesen verzweifelten Schritt keineswegs verringert wurde, so fühlte sich Ferris doch von dem Vorfall tief ergriffen. Er konnte dem Bedauernswerten, welchen Reue oder Hoffnungslosigkeit getrieben hatten, Hand an sich selbst zu legen, sein Mitleid nicht versagen. Dies veranlaßte ihn zugleich, nochmals ernstlich zu prüfen, ob auch die Behörden kein Vorwurf treffe, ob Hildreths Gefangensetzung, unter welchem Gesichtspunkt man sie auch betrachten mochte, völlig gerechtfertigt sei.

Im allgemeinen fand er an den Verfahren nichts auszusetzen; nur einPunkt, den er bisher übersehen hatte, erregte ihm Bedenken: das Papier, auf welchem die Witwe ihre schwere Beschuldigung gegen Valerian Hildreth niedergeschrieben, war merkwürdig vergilbt, und die Tinte so verblichen, als sei der Zettel mindestens ein Dutzend Jahre alt. Demnach mußte der Angeklagte, der jetzt noch nicht fünfundzwanzig Jahre zählte, ein reines Kind gewesen sein, als die Schrift aufgesetzt wurde. Sie bezog sich also gar nicht auf ihn, sondern auf seinen Vater, der den gleichen Namen geführt hatte.

Wenn nun auch das Ereignis durch diese Entdeckung viel von seinem dramatischen Charakter verlor, so entstand doch kein wesentlicher Unterschied dadurch. Man erkannte nur, daß sich des Vaters Verderbtheit und Gesinnungslosigkeit auch auf den Sohn fortgeerbt habe.

Während Ferris noch mit solchen Gedanken beschäftigt war, ging die Tür auf, und er sah zu seinem Erstaunen die beiden Detektivs Byrd und Hickory zusammen eintreten.

Wir kommen, Ihnen zu melden, nahm ersterer sogleich das Wort, daß Tatsachen zu unserer Kenntnis gelangt sind, die wohl auch Ihre Meinung über die Person des Mörders der Witwe Klemmens beeinflussen dürften.

Wirklich, rief Ferris überrascht, das müssen ja wichtige Umstände sein, welchen Sie beide einen so großen Wert beilegen. Er warf einen fragenden Blick auf Hickory.

Freilich, bestätigte dieser, hören Sie nur, und Sie werden uns recht geben: bald nachdem ich zuletzt bei Ihnen war, erhielt ich höchst seltsame Mitteilungen, die mich bewogen, einen ganz andern Kurs einzuschlagen. Ich traf auf meiner neuen Fährte mit diesem Herrn zusammen, welcher das gleiche Wild verfolgte, und wir machten gemeinsame Sache. Das Beweismaterial, das wir gesammelt haben, ist für den Betreffenden nicht minder belastend, als was gegen Valerian Hildreth vorliegt.

Das wäre! – und gegen wen richtet sich Ihr Verdacht?

Gegen Craik Mansell, den Neffen der Frau Klemmens.

Von Hickory dazu aufgefordert, begann nun Byrd dem Bezirksanwalt ausführlich über das Ergebnis ihrer letzten Forschungen zu berichten. Ferris hörte ihm mit wachsendem Staunen zu; was er vernahm, konnte jedoch nicht verfehlen, ihm die peinlichste Unruhe und Verlegenheit zu bereiten. Die Verdachtsgründe gegen Mansell wogen einerseits so schwer, daß ein gerichtliches Einschreiten fast geboten schien, andererseits war ihm aber der Umstand, daß Fräulein Dares Name mit in die Sache verwickelt wurde, im höchsten Grade unerwünscht. Es konnten daraus Schwierigkeiten entstehen, die jeden Freund des Rechtsanwalts Orkutt mit Besorgnis erfüllen mußten. Orkutt liebte das Fräulein; ihre Beziehung zu dem des Verbrechens verdächtigen Mann war für ihn eine bittere Enttäuschung, ein schwerer Schlag. Und Imogen Dare selbst? Sollte das stolze Mädchen, das bisher so erhaben dagestanden hatte über allem, was niedrig war und gemein, nun der Neugier und dem böswilligen Geschwätz der Menge preisgegeben und von ihrer Höhe herabgezogen werden in den Staub? – Das schien hart. Ferris brauchte Zeit, um zu überlegen, ob es wirklich die Pflicht von ihm fordere, einen Schritt zu tun, der solche Folgen nach sich ziehen mußte. Er hielt es daher für ratsam, die Detektivs einstweilen zu entlassen.

Am nächsten Tage ließ er jedoch Byrd und Hickory schon wieder zu sich rufen. Er hatte die Wahrscheinlichkeit von Hildreths oder Mansells Schuld ernstlich geprüft und jedes Für und Wider genau erwogen.

Wie Sie sich erinnern werden, Byrd, wandte er sich an den jungen Mann, hat die Witwe Klemmens in ihren letzten, bewußten Momenten einen Ausruf hören lassen, der dazu dienen konnte, den Mörder kenntlich zu machen. Sie rief: »Ring« und »Hand«, als wollte sie zu verstehen geben, daß die gegen sie erhobene Hand einen Ring getragen habe. Von dieser Ansicht ausgehend, machte ich gestern einen Versuch: ich stellte mich vor die große Wanduhr im Eßzimmer, wo die Witwe erschlagen wurde, und hieß meinen Schreiber ein Holzscheit mit beiden Händen umfassen, es hoch emporhalten und von hinten auf mich zukommen. Als er hierauf die Arme wie zum Schlage senkte, vermochte ich, ohne den Kopf zu wenden, mit einem schnellen Seitenblick den großen Siegelring zu erkennen, den ich ihm vorher an den kleinen Finger gesteckt hatte. Dies überzeugte mich vollends, daß der Ring ein wichtiges Glied in unserer Beweiskette gegen den Verbrecher sein muß. Nun wissen wir alle, daß Hildreth am Tage des Mords einen Ring getragen hat und ihn sogar vom Finger zog, als er fürchtete, daß man gegen ihn Verdacht schöpfen werde. Bei den Beweisen gegen Mansell ist dagegen von keinem Ring die Rede gewesen; das nimmt ihnen zwar nicht gerade ihre Glaubwürdigkeit, macht sie aber weit weniger belastend.

Haben Sie denn den Diamantring vergessen, den ich an jenem verhängnisvollen Morgen in Frau Klemmens' Eßzimmer aufhob? fragte Byrd mit innerem Widerstreben.

Nein, war die kurze Antwort. Aber Fräulein Dare hat ihn als ihr Eigentum bezeichnet, und die Richtigkeit dieser Behauptung ist noch nicht widerlegt. Bringen Sie Beweise bei, daß Mansell den Ring am Finger trug, als er am Tage des Mordes Frau Klemmens' Haus betrat – auch seine Anwesenheit dort beruht übrigens bis jetzt nur auf Vermutung; wenn Sie das können, will ich zugeben, daß der Verdacht gegen Mansell so stark ist, wie gegen Hildreth – sonst nicht.

So werden Sie ihn nicht verhaften lassen? fragte Byrd.

Ich sehe dazu noch keine Veranlassung. Er mag wohl den Wunsch gehegt haben, durch das Ableben seiner Tante in den Besitz ihres Vermögens zu gelangen, möglich sogar, daß er das Verbrechen wirklich geplant hat. Ob aber er es ausgeführt hat oder ein anderer, der ein ebenso starkes Interesse an dem Tod der Witwe hatte, ist durch Ihre Ermittelungen nicht bewiesen. Nur ganz überzeugende Gründe könnten mich – besonders jetzt, nach Hildreths Selbstmordversuch – dazu bewegen, gegen Mansell gerichtlich einzuschreiten. Einstweilen werden wir ihn insgeheim genau überwachen lassen und abwarten, ob Hildreth infolge der Anklageakte vor das Schwurgericht gestellt werden wird oder nicht.

Byrd, der seine eigenen guten Gründe hatte, nicht an Mansells Schuld zu zweifeln, war über diesen unerwarteten Beschluß des Bezirksanwalts einigermaßen betreten. Er fürchtete, Hickory werde es kaum über sich gewinnen, unter solchen Umständen die Zusammenkunft in der Waldhütte geheimzuhalten, obgleich er sein Wort gegeben.

In diesem Augenblick ward Herrn Ferris ein Brief überbracht, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, so daß die beiden Detektivs Zeit fanden, ihre beiderseitige Meinung auszutauschen.

Nun, Hickory, fragte Byrd, was halten Sie denn von dem Einwurf?

Er scheint mir nicht unberechtigt, lautete die Antwort. Ich habe mich in Buffalo besonders danach erkundigt, ob Mansell für gewöhnlich Ringe trägt. Er ist schon seinem ganzen Wesen nach kein Mann dazu, jener Diamantring aber wäre ohne Frage ein viel zu kostbares Juwel für ihn. Dies fehlende Glied zerstört unsere ganze Beweiskette. Ich glaube, ich komme wieder auf die frühere Fährte zurück.

Unmöglich; denken Sie doch nur an Fräulein Dares Gefühle und Aeußerungen in der Hütte!

Ja, daß sieihn für schuldig hält, steht außer allem Zweifel.

Byrd starrte ihn mit großen Augen an. Es gab also eine Möglichkeit, daß Imogen Dare sich täuschen und Mansell für den Verbrecher halten könne, während er unschuldig war? Das hatte er noch nicht in Betracht gezogen.

Wahrhaftig, höchst seltsam! rief hier der Bezirksanwalt aus, von dem Brief aufblickend, den er gelesen hatte. Zweifel und Bestürzung spiegelten sich in seinen Zügen.

Was gibt es denn, dürfen wir es nicht wissen? riefen beide Detektivs wie aus einem Munde.

Gewiß, es gehört sogar in Ihr eigenstes Bereich. Wunderbar, wie das wieder zusammentrifft! Eben sprechen wir noch von dem fehlenden Beweisglied, und schon wird es uns ganz von selber angeboten. Lesen Sie nur!

Er hielt ihnen den Zettel hin. Auf gewöhnlichem Schreibpapier waren folgende Worte gekritzelt:

»Wenn Herr Ferris Gerechtigkeit üben will, und glaubt, daß der Verdacht nicht immer den Schuldigen trifft, so möge er bei dem hier wohnhaften Fräulein Imogen Dare anfragen lassen, mit welchem Recht sie den Ring als ihr Eigentum beansprucht hat, der auf dem Fußboden in Frau Klemmens' Zimmer gefunden wurde.«

Da wird wohl Sally Perkins dahinterstecken, meinte Hickory, auf den Brief weisend, bei dem Unterschrift und Datum fehlten.

Ferris runzelte die Brauen. Die Schrift läßt darauf schließen, sagte er, aber der Stil klingt nicht danach. Woher sollte auch die Alte etwas von dem Ring erfahren haben? Sicherlich nicht durch die Personen, welche bei dem Auftritt zugegen waren.

Von wem glauben Sie denn, daß der Brief herrührt? fragte Byrd.

Das herauszufinden ist Ihre Sache, war des Bezirksanwalts Erwiderung.

Hickory griff nach dem Zettel.

Warten Sie, rief er, mir kommt ein Gedanke.

Er trat ans Fenster und prüfte das Blatt genau. Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, wer den Brief geschrieben hat, meinte er, auf den darin vorkommenden Namen deutend.

Was? fragte Ferris erstaunt, Imogen Dare?

Sie und keine andere, versetzte der Detektiv zuversichtlich.

Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?

Ich kenne ihre Handschrift, ihren Namenszug. Zwar hat sie ihre Schrift sehr geschickt verstellt, aber der Name verrät sie doch. Ueberzeugen Sie sich selbst.

Hickory zog einen kleinen beschriebenen Papierstreifen aus seinem Taschenbuch und wies ihn zur Schriftvergleichung vor. Die Ähnlichkeit der Unterschrift war unbestreitbar, sowohl Byrd als Ferris mußten dem Detektiv recht geben.

Auf diese Wendung war ich nicht vorbereitet, murmelte der Bezirksanwalt.

Auch uns kam sie unerwartet, bestätigte Byrd und warf Hickory einen warnenden Blick zu.

Das beste wird sein, meinte Ferris nachdenklich, wir lassen die Sache einstweilen auf sich beruhen, bis ich Gelegenheit finde, selbst mit Fräulein Dare Rücksprache zu nehmen.

Die Detektivs, welche diese Ansicht teilten, stimmten ihm bereitwillig bei. Der Schritt, den das Fräulein getan, kam ihnen selbst höchlich überraschend, obgleich sie sich bei ihrer Kenntnis der Sachlage einigermaßen erklären konnten, daß sie durch ihre Reue und die namenlose Angst, in welche sie infolge von Hildreths Selbstmordversuch geraten sein mochte, zu dem verzweifelten Entschluß getrieben worden war.


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