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Fünfunddreißigstes Kapitel.

In dem engen kleinen Zimmer, das jetzt ihr einziger Zufluchtsort war, fand Imogen die ersehnte Einsamkeit.

Die beiden Detektivs hatten sich in der Nähe des Hauses getrennt voneinander aufgestellt, um ihr zu folgen, für den Fall, daß sie das Haus verlassen sollte. Zu dem Geschäfte hätte wohl einMann genügt, aber keiner wollte dem andern den Posten abtreten, obwohl sie ihre Wachsamkeit aller Wahrscheinlichkeit nach ganz vergeblich anstrengten. Was sollte wohl Imogen bewegen, noch einmal den Schutz des Hauses zu verlassen und sich an diesem Abend hinauszuwagen?

Es vergingen mehrere Stunden. In der Stadt, wo den Tag über ein so unruhiges Treiben geherrscht hatte, war es still geworden; sie lag friedlich da im Scheine der Mondsichel.

Wahrlich kein Schauplatz für Gewalttat und Verbrechen, dachte Byrd, während er fortfuhr, das Fenster drüben zu beobachten, hinter dessen Vorhängen sich jedoch nichts regte.

Plötzlich aber erlosch die Lampe, die es erhellt hatte, und bald darauf ward die Haustür vorsichtig geöffnet. Eine hohe, dicht verhüllte Gestalt trat heraus und schritt eilig die Straße hinunter.

Rasch gab Byrd das mit Hickory verabredete Zeichen und folgte Imogen auf dem Fuße. Sie glitt im Schatten der Häuser dahin durch das Geschäftsviertel der Stadt, wo nur hier und da das Licht einer Laterne seinen matten Schein in das tiefe Dunkel warf. Erst als die breite Allee im östlichen Stadtteil erreicht war, gelang es Hickory, seinen Gefährten einzuholen.

Wer wohnt in dieser Gegend? Wo will sie hin? keuchte er.

Vielleicht zu Fräulein Tremaine, flüsterte Byrd, das Gymnasium ist hier in der Nähe.

Jetzt bog die Gestalt vor ihnen abermals um die Ecke und schlug den Weg nach der Parkstraße ein.

Halt, nun weiß ich's, triumphierte Hickory, sie will Orkutt aufsuchen.

Von neuem Eifer beseelt folgten die Detektivs der mit Windesschnelle Dahineilenden und langten endlich atemlos bei der hohen Baumgruppe an, welche den Eingang zu des Rechtsanwalts Grundstück bezeichnete. Eben hörten sie das Tor zufallen, und ohne sich lange zu besinnen, kletterte Byrd über die Hecke, es seinem Kollegen überlassend, ob er ihm folgen wolle oder nicht.

Unterdessen war Imogen, vom Gartenweg abbiegend, an die Veranda des Hauses vorgetreten. Als sie die dahinter liegenden Fenster des Erdgeschosses erleuchtet sah – ein Zeichen, daß der Herr des Hauses sich noch im Bibliothekzimmer befand – lehnte sie sich einen Augenblick an das Weinspalier, um nach dem raschen Gang erst wieder zu Atem zu kommen, ehe sie dem Rechtsanwalt ihre Gegenwart kund tat. Dann trat sie dicht an die ein wenig geöffnete Verandatür; es schlug gerade neun Uhr.

Durch einen Spalt im Vorhang vermochte sie in das Innere zu sehen, und der Anblick, der sich ihr bot, erschütterte sie tief. Orkutt saß vor dem ausgebrannten Kamin, nur noch wenige Funken glühten in der toten Asche, neben ihm lagen Papiere, die er vom Pult genommen hatte, aber er schrieb nicht und las nicht, er schien nur vor sich hinzubrüten in einsamer Qual. Die einzige Lampe, die das Gemach erhellte, war tief herabgebrannt und flackerte von Zeit zu Zeit auf, gleich einem erlöschenden Menschenleben, das bald in Nacht und Dunkel verschwinden soll.

Von ihrem Platz aus konnte Imogen zwar des Rechtsanwalts Gesicht nicht sehen, aber aus seiner ganzen Haltung sprach solche Hoffnungslosigkeit, ein so tiefer Lebensüberdruß, daß sie unwillkürlich zusammenschrak. War dies der Mann, auf den sie all ihr Vertrauen gesetzt hatte, den sie noch in so später Stunde aufsuchte, um sich Rat zu erbitten wegen des Betrugs, der an ihr verübt worden war?

Jetzt wandte er das Haupt nach ihrer Richtung. Wohl hatte sie seine Züge während der letzten Wochen von so mancher Leidenschaft erregt gesehen, aber der Ausdruck, den sie jetzt trugen, war entsetzlich und ihr völlig neu; sie fühlte ihr Herz in der Brust stillstehen vor Furcht und Grauen. Von dem unheimlichen Blick wie gebannt, stand sie noch lange starr da, als er schon wieder in die Asche des Kamins stierte. Ihr war, als sei plötzlich vor ihren Augen der Schleier zerrissen, als habe sie eine Seele sich in der Qual der Verzweiflung winden sehen. Und sie selbst war es gewesen, die durch ihre heutige Tat diese furchtbare Veränderung verursacht hatte; sie war schuld an der völligen Umwandlung des Mannes, für den sie bisher stets Hochachtung und Verehrung empfunden. Wie vernichtet sank sie bei dem Gedanken in die Knie und stammelte ein Gebet um Kraft, auch dieses schwere Leid, diese neue Enttäuschung zu ertragen.

Sich zusammenraffend stand sie auf, bot dem kalten Nachtwind die Stirn und sog die reine Luft mit tiefen Atemzügen in ihre gepreßte Brust. Dann hob sie die Hand und klopfte an die Fensterscheibe. Der Ton klang scharf durch die Stille der Nacht; sie hüllte sich fester in den Mantel und wartete.

Schon kam Orkutts schneller Tritt über den Fußboden, der Vorhang ward zurückgezogen. – Wer ist da? rief eine erregte Stimme. Imogens düstere Gestalt gewahrend, die hoch aufgerichtet auf der Veranda stand, fuhr der Rechtsanwalt betroffen zurück und machte eine heftig abwehrende Bewegung.

Sie ließ sich jedoch nicht beirren, trat in das Zimmer, schloß die Glastür wieder hinter sich, und jetzt standen die beiden einander gegenüber. In Orkutts wilden Blicken glühten Liebe und Zorn.

Sie hier? rief er mit heiserer Stimme. Was wollen Sie noch von mir, Unglückselige, nach dem, was Sie heute getan? War es nicht genug, daß Sie seit Wochen und Monaten mit meiner Liebe, meinem Elend ein erbärmliches Spiel getrieben haben? Mußten Sie auch noch in der letzten Stunde gegen mich aufstehen und meinen Ruf in den Augen der Welt vernichten? Was brachte Sie zu der wahnsinnigen Aussage, daß Sie selbst das Verbrechen begangen hätten, um dessentwillen Ihr Geliebter vor Gericht stand? Ist das der Lohn für die Hingabe und Opferwilligkeit, mit der ich alles versucht habe, um den Menschen zu retten und Ihre Hand zu gewinnen?

Sein heftiger Vorwurf erschütterte sie nicht. Jede Frau hätte an meiner Stelle ebenso gehandelt und in der äußersten Not die Wahrheit eingestanden, sagte sie ruhig.

Orkutt brach in verächtliches Lachen aus.

Die Wahrheit? – rief er. Sind Sie von Sinnen? Wollen Sie auch mir gegenüber das rasende Possenspiel fortsetzen? – Sie sind so unschuldig an dem Verbrechen, wie ein neugeborenes Kind; in unbegreiflicher Verblendung haben Sie den törichten Schritt getan, alle meine Mühe zunichte gemacht und mein Glück zerstört.

Lassen Sie uns nicht streiten über das, was ich getan habe und was nicht mehr zu ändern ist, erwiderte sie. Ich habe mich selbst zugrunde gerichtet, aber das ist jetzt völlig nebensächlich; was mich einzig und allein bekümmert, ist, daß ich durch mein Opfer Craik Mansell nicht habe retten können.

Und an mich, an meine Leiden denken Sie nicht, Imogen?

Wer vor der Welt entehrt dasteht, wie ich, darf den Blick nicht mehr zu Ihnen erheben; es wäre eine Beleidigung für Ihren Ruf, Ihre Stellung.

Ja, sie hatte recht; Orkutt mußte es sich eingestehen. Vor der Welt waren sie auf ewig getrennt, eine unübersteigliche Kluft gähnte zwischen ihnen. Von Unruhe und Schmerz gepeinigt, durchmaß er das Zimmer mit raschen Schritten.

Als er zu ihr zurückkam, war es nicht mehr der unglückliche Liebhaber, sondern der Anwalt, welcher sprach.

Was hat Sie vermocht, Imogen, fragte er, ein so entsetzliches Mittel zu wählen? Hatten Sie denn alles Vertrauen zu mir verloren? Ich versprach Ihnen doch, den Mann vor dem Schicksal zu retten, das ihn bedrohte!

Das Unmögliche können auch Sie nicht vollbringen, war die Antwort; ich wußte, daß Craik verloren sei, wenn ich vor Gericht das Zeugnis ablegte, das Herr Ferris von mir forderte.

So bekennen Sie also, daß Ihre Aussage falsch war, rief er schnell, die Blöße benützend, die sie sich unbedachtsam gegeben hatte. Sie haben Ihre Selbstanklage erfunden, um nicht zu Aussagen gezwungen zu werden, die dem Gefangenen verderblich sein mußten? –

Ihre Lippen bebten, und sie wechselte die Farbe. –

Warum soll ich es Ihnen länger verbergen, sagte sie, ja, ich habe mich für schuldig bekannt, um Craik Mansell nicht durch mein Zeugnis zu verdammen. Ich hatte so viel gelitten, daß ich zum äußersten entschlossen war, um ihn dem Verhängnis zu entreißen, das ich selbst über ihn heraufbeschworen. Ich vergaß, daß die Lüge nicht vor Gott bestehen kann.

So bereuen Sie also, daß Sie durch Ihr falsches Zeugnis mein Glück zerstört haben?

Ich bereue, daß ich nicht auf Gott vertraute und die Wahrheit sprach.

Bei diesen einfachen Worten, die aus aufrichtigem Herzen kamen, schrak Orkutt zurück.

Leider kommt diese Erkenntnis zu spät, sagte er spöttisch.

Sie ist die Folge von Aufschlüssen, die mir erst jetzt geworden sind. Ich habe mich überzeugt, daß es unmöglich gewesen wäre, meine Behauptung aufrecht zu erhalten und daß mein Versuch, Mansell zu retten, selbstmörderische Torheit war.

Nur des Zweckes eingedenk, der sie noch zu später Nachtstunde hergeführt, trat Imogen näher an den Rechtsanwalt heran. Ich hatte guten Grund, an Mansells Schuld zu glauben, sagte sie eifrig; nicht nur, daß alle Tatsachen, die vor Gericht enthüllt wurden, gegen ihn zeugten: ich selbst hatte ihn mit eigenen Augen in wilder Hast von Frau Klemmens' Eßzimmer entfliehen sehen, um die Zeit, als eben der Mord geschehen war.

Orkutt starrte sie ungläubig an. Unmöglich, murmelte er.

Ich sah ihn, fuhr sie fort, durch das Fernrohr in Professor Darlings Sternwarte, das auf die Stadt zu gerichtet war; ich hatte zuvor nach der Turmuhr geschaut: es war genau fünf Minuten vor zwölf.

Und gerade in dem Moment sahen Sie ihn durch das Fernrohr, das Sie selbst auf jenen Punkt gerichtet hatten? Das ist unglaublich, wunderbar! Orkutt wandte sich ab, trat an den Kamin und stieß mit dem Fuß nach den verkohlten Holzstücken, die in der Asche lagen. Man wäre fast versucht, an Gott und sein Walten zu glauben, hörte ihn Imogen zwischen den Zähnen murmeln.

Sie fuhr zusammen, wie von einem Schlage getroffen. Leugnen Sie Gottes Dasein? fragte sie mit bleichen Lippen und angstvoller Gebärde. O, seine Gerichte sind schwer und furchtbar. Er fordert Blut für Blut, er stürzt den Schuldigen in den verdienten Tod. – Wollte er mir nur gnädig sein und mein Opfer annehmen, wie gerne gäbe ich mein Leben hin, das für mich keinen Wert mehr hat, könnte ich dadurch den Geliebten retten.

Mansell und immer wieder Mansell, rief Orkutt mit ausbrechendem Zorn. Das geht zu weit, Imogen. Geben Sie endlich diese endlose Leidenschaft für einen Mann auf, der Sie nicht mehr liebt, der – –

Nicht weiter, bat sie bebend, schonen Sie mein, lassen Sie mich vergessen –

Er lachte höhnisch auf. Sie haben solche Rücksicht um mich verdient, das muß ich sagen, rief er; dann fuhr er ruhiger fort: Hat Sie kein anderer Grund heute nacht hierher geführt, als der, mir diese seltsame Geschichte zu erzählen?

Sie blickte zu Boden. Herr Ferris, sagte sie, bestand darauf, ich solle vor Gericht bezeugen, daß ich den Angeklagten vom Hause seiner Tante hatte entfliehen sehen; ich vermochte das nicht, es hätte ihm das Leben gekostet. – Zu Ihnen trieb mich ein anderer Zweck; ich wollte Ihnen mitteilen, wie schändlich ich betrogen worden bin. Man hat mich glauben machen, daß Craik Mansell selbst mir gegenüber seine Schuld eingestanden habe und sich nur auf die Verteidigung verlasse, um der Strafe zu entgehen.

Voll Entrüstung erzählte ihm hierauf Imogen, welche Täuschung der Detektiv ersonnen hatte, um ihr das Geheimnis zu entlocken. Aber Orkutt hörte ihr teilnahmlos zu; was sie berichtete, empörte ihn nicht, schien ihm überhaupt kaum einen Eindruck zu machen. Mit Schrecken ward Imogen inne, daß sich eine unübersteigliche Scheidewand zwischen ihnen erhoben hatte, seit er die Hoffnung aufgegeben, sie zu seinem Weibe zu machen. Was sollte daraus werden?

Haben Sie denn alles Interesse an Ihrem Klienten verloren? Hoffen und wünschen Sie nicht mehr, ihn freigesprochen zu sehen? fragte sie vorwurfsvoll.

Mein Klient hat seine Sache selbst in die Hand genommen, war die erbitterte Antwort. Es wäre anmaßend, wollte ich mich noch ferner zu seinen Gunsten bemühen.

So verlassen Sie ihn in seiner äußersten Not?

Im Gegenteil, Mansell hat mich im Stich gelassen.

Das war nicht zu leugnen; um ihretwillen hatte er die Verteidigung Lügen gestraft, die Hilfe seines Anwalts verschmäht. – Sie senkte schweigend das Haupt.

Es ist schwer vorauszusehen, fuhr Orkutt im Geschäftston fort, welche Entscheidung der Gerichtshof morgen treffen wird. Vielleicht läßt Ferris in Anbetracht der Täuschung, die an Ihnen verübt worden ist, die Klage fallen, vielleicht zeigen sich die Geschworenen zur Milde gestimmt, um der Großmut willen, die der Angeklagte geübt hat. Sollte letzteres der Fall sein, so werde ich seine Freisprechung nicht hindern, aber mehr verlangen Sie nicht von mir! Was könnte mich wohl bewegen, noch ferner für den Geliebten eines Weibes zu kämpfen, das meine Ehre geschädigt hat. –

Sie hatte so fest auf ihn gebaut; diese Entscheidung mußte sie zu Boden schmettern.

Wehe mir, murmelte sie, so glauben Sie also an seine Schuld, sonst würden Sie ihn nicht hilflos seinem Schicksal überlassen. Wäre Ihnen je der leiseste Zweifel gekommen, wie mir, als ich erfuhr, daß er sich niemals zu dem Verbrechen bekannt hat, Sie würden nicht um meines Irrtums willen Ihre Pflicht als Verteidiger vergessen und die Hand von ihm abziehen.

Orkutt warf ihr einen spöttischen Blick zu. O, diese Weiber! höhnte er. Sie haben alles geopfert, selbst Ihr Leben aufs Spiel gesetzt für den Mann, den Sie für einen Mörder halten. – Und wenn ein anderer in seiner Lage Sie nur um Mitleid anflehen wollte, Sie würden ihn fliehen wie die Pest.

Sie achtete nicht auf seine Worte. Herr Orkutt, fragte sie mit dem Mut der Verzweiflung, glauben Sie, daß Craik Mansell unschuldig ist?

Er sah sie verächtlich an. Habe ich seine Sache geführt, als ob ich ihn für schuldig hielte?

Nein, doch Sie sind ein Anwalt; Sie müssen Ihre wahre Meinung verbergen. Wie könnten Sie ihn aber in Ihrem innersten Herzen für schuldlos halten, wenn so viele und schwere Beweise gegen ihn sprechen?

Sie suchte die Antwort in seinen Blicken zu lesen; der seltsame Ausdruck seiner Miene erfüllte sie mit tausend Zweifeln.

O, wenn Sie auch nur je vorübergehend an seine Unschuld geglaubt haben, sagen Sie es mir! flehte sie und legte beschwörend die Hand auf seinen Arm.

Er trat einen Schritt zurück und sagte mit eisiger Kälte: Ich habe Herrn Mansell niemals für den Verbrecher gehalten.

Niemals – auch jetzt nicht?

Nein, auch jetzt nicht.

Trotz allem, was gegen ihn spricht und ihn zu verdammen scheint?

Ich weiß, daß er im Hause seiner Tante war um die Zeit, als der Mord verübt ward, aber damit ist nicht erwiesen, daß er sie erschlagen hat.

Aber warum entfloh er in solcher Hast? Warum reiste er sofort nach Buffalo, ohne mir noch Gelegenheit zu einer Zusammenkunft zu geben, wie wir verabredet hatten?

Soll ich es Ihnen sagen? fragte Orkutt voll Hohn. Wollen Sie wissen, warum er es tat – dieser Mann, den Sie so innig lieben, für den Sie Ihr Leben lassen möchten? – Nun, er traut eben dem Wort einer Frau. Er verläßt sich so fest auf Ihre Aufrichtigkeit, Imogen, daß er glaubt, Sie haben die Wahrheit gesagt, als Sie sich heute vor Gericht für eine Mörderin erklärten und behaupteten –

Was? stieß sie bebend hervor, was glaubt er? – Lassen Sie es mich noch einmal hören, ich fasse es nicht!

Daß Sie wirklich die Verbrecherin sind, für die Sie sich ausgeben, die Mörderin der Frau Klemmens. Er hat es von Anfang an geglaubt, aus welchem Grunde weiß ich nicht. Ob er damals, ehe Sie ihn von dem Hause fliehen sahen, dort etwas gehört hat, was ihn in dieser Meinung bestärken mußte; ob es ihm als Beweis Ihrer Schuld genügte, daß sich der Ring, den Sie ihm seines Wissens nicht zurückgegeben hatten, auf dem Fußboden fand – genug, sobald er die erste Nachricht von dem gewaltsamen Tode seiner Tante erhielt, fiel sein Verdacht auf Sie, und er ist trotz meiner Gegenvorstellungen bis zum heutigen Tag nicht davon abzubringen gewesen. – Was ist die Ehre, die Ihr Geliebter dem Weibe erweist, welches für ihn alles geopfert hat, was auf der Welt für hoch und heilig gilt.

Ich – ich kann es nicht glauben. Sie spotten meiner, stammelte sie verwirrt.

Haben Sie es denn nicht selber bemerkt? Er hat ja seine Gefühle so deutlich zur Schau getragen, daß ich mehr als einmal gefürchtet habe, der Gerichtshof möchte seinen Argwohn verstehen –

Den Argwohn, daß ich die Mörderin sei, meinen Sie? – Reden Sie wirklich im Ernst, Herr Orkutt? – Man hat mich so oft betrogen, kaum wage ich es noch, meinen besten Freunden zu trauen. Ist es denn wahr, daß er mich für die Verbrecherin hält? Können Sie mir schwören, daß Craik Mansell den Verdacht gegen mich gehegt hat? Sprechen Sie, ich will, ich muß es wissen!

Ja, ja, verlassen Sie sich darauf, es unterliegt keinem Zweifel.

Die Hände zum Himmel erhoben, sank sie tief bewegt in die Kniee. Herr Gott, ich danke dir, stammelte sie, hilf mir die große Freude tragen!

Freude? – Aus Orkutts Stimme sprach grenzenlose Ueberraschung.

Sie war aufgestanden. Ja, Freude, murmelte sie. Wenn er michfür schuldig hält, mußer ja unschuldig sein. Bin ich auch selbst geächtet und verbannt aus der Gesellschaft ehrenwerter Menschen, der Preis ist nicht zu hoch für dieseGewißheit. – Sie schien alles um sich her zu vergessen. – Nein, Craik, rief sie beglückt, du bist kein Verbrecher; es war nur ein furchtbarer Traum. Noch bist du zu retten. Dem Schuldlosen kann kein Leid geschehen. Gottes Auge kennt den Missetäter, er wird seine Sünde ans Licht bringen und wäre sie im tiefsten Dunkel verborgen. Der Mord schreit nach Rache.

Sie schienen heute doch anderer Meinung, als Sie das falsche Zeugnis vor Gericht ablegten, sprach Orkutt mit bitterem Hohn.

Craik Mansell ist unschuldig, wiederholte Imogen; nichts als eine Verkettung der seltsamsten Umstände hat ihn und mich in die schreckliche Lage gebracht. Ich hoffte, der Himmel würde mein Opfer annehmen, aber er hat es anders beschlossen. Möge Gott nun an den Fluch der Witwe denken; möge die Strafe den Schuldigen ereilen, wo er geht und steht; möge –

Sie kam nicht weiter. Orkutts Hand legte sich schwer auf ihre Lippen. Still, sagte er, IhrMund soll dem Missetäter nicht fluchen. Auch ohne Ihre Verwünschung kann ihn das Verhängnis treffen.

Bestürzt schreckte sie vor ihm zurück und starrte mit weit geöffneten Augen in sein aschbleiches Gesicht. Das matte Licht der Lampe warf nur einen düstern Schein, dann flammte es plötzlich grell auf.

Herr Orkutt, sprach Imogen dumpf und feierlich, wenn Craik Mansell die Witwe Klemmens nicht getötet hat – sagen Sie mir – wer ist der Mörder?

Einen Moment stand er wie gebannt vor ihrem Blick, dann nahm er sich zusammen, trat an den Tisch und blätterte in den dort liegenden Papieren. Ich habe immer geglaubt, daß Valerian Hildreth der eigentliche Verbrecher ist, entgegnete er langsam und gepreßt.

Unwillkürlich wich sie noch weiter nach der Tür hin.

Gott nur vermag in den Herzen der Menschen zu lesen, rief sie, aber eine innere Stimme sagt mir, daß Hildreth so unschuldig ist wie Mansell, und daß der wahre Mörder –; sie endete mit einem durchdringenden Schrei; das Licht der verlöschenden Lampe hatte das Antlitz des Mannes, der vor ihr stand, mit gespenstischem Schein erhellt.

Jetzt war das ganze Gemach in tiefes Dunkel gehüllt; eilige Fußtritte tönten durch die Stille, die Tür ward geöffnet und die kalte Nachtluft strömte herein. Imogen war geflohen.

*

Während dieser Unterredung hielt sich Hickory in der Nähe des Hauses im Gebüsch verborgen, Byrd aber war, nachdem er die Hecke überstiegen, bei der Baumgruppe am Eingangstor stehen geblieben. Hier führte der Pfad vorbei, auf welchem Imogen den Garten wieder verlassen mußte; er war daher sicher, sie nicht aus den Augen zu verlieren, wenn er auf dieser Stelle Posten faßte.

Der Baum, an dessen Stamm er lehnte, warf den Schatten seiner ausgebreiteten Aeste weit über das winterliche Gefilde. Nach seiner riesenhaften Größe zu urteilen, mußte er schon seit undenklicher Zeit hier am Platze stehen, und er galt für eine der schönsten Zierden des Gartens, wenn er im Schmuck des Sommerlaubes prangte. Aber auch kahl und entblättert machte das dichtverschlungene Gezweig der ungeheuren Aeste einen mächtigen Eindruck auf den Beschauer. Dies empfand Byrd, der immer wieder zu der Krone des Baumes hinaufschauen mußte, so oft ein Windstoß die Aeste erschütterte. Hickory war leise zu ihm herangeschlichen.

Sie sind noch im Bibliothekzimmer, flüsterte er, was zwischen ihnen vorgeht, kann ich nicht beobachten, aber ich will dort bleiben, um ihr Gesicht zu sehen, wenn sie wieder zum Vorschein kommt. Schnell war er wieder verschwunden, kam aber ebenso rasch zurückgehuscht.

Das Licht in der Bibliothek ist erloschen, rief er bestürzt. Kaum hatte er die Worte gesprochen, als auch schon Imogens dunkle Gestalt den mondbeglänzten Pfad herabeilte. Die Detektivs verbargen sich schnell im dichtesten Schatten des Baumes.

In ihrer Aufregung hatte das Fräulein ihren Schleier nicht herabgezogen; Furcht und Entsetzen sprachen aus ihren bleichen Mienen; ihre Füße strebten dem Ausgang zu, als sei schleunige Flucht ihr einziger Gedanke.

Byrd und Hickory hielten sich bereit, ihr zu folgen, sobald sie an dem Baum vorüber sein würde. Aber sie kam nicht so weit. Kaum hatte sie den Schatten des Baumes betreten, als eine befehlende Stimme sie stillstehen hieß, und Orkutt ihr nachgestürzt kam.

Ich kann Sie nicht so gehen lassen, rief er und blieb neben ihr auf dem Wege unter dem Baume stehen. Craik Mansell soll frei werden, ich will tun, was Sie wünschen, Imogen.

Nicht mein Wunsch, sondern Ihre Pflicht als Verteidiger des Mannes, den Sie für unschuldig halten, gebietet das, erwiderte sie ernst und kalt.

Bei ihren Worten brach Orkutts verhaltene Leidenschaft mit einer Macht hervor, von der sich die Detektivs, welche Zeugen des Auftritts waren, nichts hätten träumen lassen.

O, Imogen, rief er, was haben Sie aus mir gemacht! Ehe ich Ihre Reize, Ihren unbezwinglichen Sinn kannte, war mein Streben der Ehre und Pflicht geweiht. Ich lebte in meinem Beruf, ihn auszuüben war meine Freude. Jetzt ist mir alles gleichgültig geworden, und nur die eineFurcht beherrscht mich, daß Sie einem anderen angehören werden, nachdem Sie für mich verloren sind.

Das kann nicht geschehen, erwiderte sie. Craik Mansell und ich sind auf immer getrennt. Vergessen Sie nicht, daß ein Flecken auf meiner Ehre ruht, den nichts wieder zu tilgen vermag. Als ich mich heute vor Gericht als Verbrecherin bekannte, nahm ich Abschied von jedem Erdenglück.

Orkutt schien zu überlegen. Die Detektivs hinter dem Baum sahen seinen Schatten im Mondenlicht ungewiß hin und her schwanken; dann sprach er dumpf: Sie haben gesiegt. Wenn ein Mensch die Strafe für das Verbrechen erleidet, so soll es nicht Craik Mansell sein, sondern – Der Satz blieb unvollendet. Ein plötzliches seltsames Krachen ertönte über ihren Häuptern, es rauschte gewaltig durch die Luft, und ein ungeheurer Baumast lag auf dem Wege, gerade an der Stelle, wo noch eben Imogen Dares' schöne Gestalt neben Orkutt gestanden hatte.

Als die erschreckten Detektivs die Größe und Furchtbarkeit des Unfalls erkannten, der die beiden so unvorbereitet ereilt hatte, schauerte Byrd unwillkürlich zusammen.

Die Rache des Himmels – murmelte er tief erschüttert, Imogen Dare ist doch wohl schuldiger gewesen als wir dachten.

Erst nach übermenschlichen Anstrengungen und unter Aufwendung aller Kräfte gelang es ihnen endlich, den mächtigen Baumast von der Stelle zu heben. Auf dem Boden niedergestreckt fand man die beiden, die der stürzende Ast getroffen hatte; aber nur eineGestalt blieb starr und bewußtlos liegen, und das war nicht Imogen Dare, sondern Orkutt, der Rechtsanwalt.


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