Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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XIX.

Amthor hatte alle seine Vorbereitungen getroffen, von Bord zu gehen. Es erübrigte ihm nur noch der Gang zum Zahlmeister, um seine Rechnung zu begleichen. Dorthin schritt er jetzt durch den langen Korridor von seiner Kabine aus. Zum letztenmal ging er den oft betretenen Weg. Wie manchmal war er hier frohen Herzens mit Eva geschritten, und dort – an jener Ecke beim Quergang – da war's gewesen, wo sie vor ihm wie ein weidwundes Reh geflüchtet war. Wo er hier ging und stand, überall umwehte ihn ihr Hauch, überall erschien ihm ihr Bild.

Nun, Geduld! Allzubald nur würde ihn ja nichts mehr an sie erinnern. Dann legte er den flüchtigen Glückstraum in seinen Sarg – zur ewigen Ruhe.

Ruhe?

Dumpf verworren, aus tiefster Tiefe seines Herzens hörte er es heraufschallen – wehevoll und drohend. Daß er sich nur nicht täuschte! Daß da nicht etwas in ihm lebte, das sich nicht totsagen ließ, das aus dem Sarge aufstand in nächtiger Stunde, wenn sein harter Wille tagesmatt schlummerte, und ihn mit stillen, gramvollen Augen ansah, bis er aufgepeitscht, qualverstört vom Lager aufsprang!

Nein, nein – es gab kein Vergessen. Allzuklar nur fühlte er es in dieser Stunde, wo er von der Stätte schied, da sie mit ihm geweilt hatte: Solange sein Herz noch schlug, würde es kranken im Sehnen nach ihr. Sie selbst hatte er von sich stoßen können, wie ihm die Pflicht gebot – aber nicht die Liebe zu ihr!

Und dennoch hatte er alle Brücken abgebrochen, die zu ihr führten, wenn je die Stunde schlagen sollte, wo er wieder ein freier Mann war und sie noch Herrin ihrer selbst – wie sollte er sie finden? Wer wußte, wohin sie die Lebenswelle dann geworfen haben würde?

Aber was würde es ihm auch nützen, selbst wenn er den Weg zu ihr noch einmal finden sollte? Er hatte sie ja freigegeben, ganz frei – ihr jedes Hoffen auf ihn abgeschnitten, ja mit Gewalt ertötet! Und sie war jung, sie würde sich nach Jahr und Tag noch einmal aufrichten auch von diesem Schlage. Dann würde das Leben sie wieder in seine Kreise ziehen, die Notwendigkeit würde gebietend sprechen. Ihr Kind brauchte ja den Vater, sie selbst den stützenden Mannesarm; sie hatte ja nicht die Kraft, allein den Lebenswogen stand zu halten, er selbst hatte es ihr ja so klar gemacht, daß dies ihre einzige Rettung war – dann würde geschehen, was mußte, auch wenn ihr Herz sich dagegen sträubte, die Vernunft erforderte es ja: Sie würde wieder heiraten.

Ein unaussprechliches Weh legte sich auf seine Brust – wie es auch käme, er hatte sie verloren, auf immer!

Es war gut, daß er da vor dem Bureau des Zahlmeisters stand. Nur immer an anderes denken, sich auf die nüchternen Dinge des Alltags stürzen, gar nicht mehr zum Besinnen kommen – das war das Richtige für ihn.

Amthor trat in den Raum und bat um seine Rechnung, während er dann seine Brieftasche zog und ihr einige Bankscheine entnahm, hörte er den Zahlmeister sagen:

»Es ist auch noch ein Brief für Sie angekommen – vorhin erst. Er liegt noch hier.«

Etwas überrascht sah Amthor auf. Ein Brief für ihn? Wer hatte ihm zu schreiben? von Island konnte ja in dieser kurzen Zeit keine Nachricht nach hier kommen, und woher sonst? Sollte sie etwa –?

Schnell nahm er den Brief aus der Hand des Zahlmeisters entgegen, ein Geschäftskuvert, wie man sie in Hotels und Bahnhöfen findet, und richtig, da las er ja auch: Bahnhofshotel Drontheim; dann seine Adresse in einer ihm unbekannten Handschrift.

Aber plötzlich durchzuckte es ihn. Er hatte diese feinen, klaren Züge doch schon einmal gesehen – Eva! Ja, von ihr mußte diese Botschaft kommen!

Hastig erledigte er das Zahlgeschäft; dann ging er hinaus. So brennend war das Verlangen nach Gewißheit, daß er nicht erst noch einmal nach hinten in seine Kajüte ging, sondern gleich hier auf das Zwischendeck hinaustrat, wohin sich nur selten ein Passagier verirrte.

Er riß den Briefumschlag auf, und nun sah er: Wirklich von ihr!

Mit zitternden Augen las er:

Mein einzig Geliebter!

Verzeih, wenn ich Dir ungehorsam bin und Deinem Willen zuwider noch einmal an Dich herantrete. Es wird nur dies eine, einzige Mal geschehen – ich verspreche es Dir – aber diesmal mußte es sein.

Wie von einem furchtbaren Wirbelsturm bin ich ja, so eilends, ohne jede Besinnung, von Dir fortgeweht worden. Nun aber, wo ich, allein mit mir auf der endlosen Dampferfahrt hierher, wieder zu mir gekommen bin, nun quält es mich unerträglich, daß ich so von Dir geschieden bin, so ohne jede Fassung. Züge, die ein wahnsinniger Schmerz verzerrte, sind Dir so als die letzten Eindrücke von meinem Wesen geblieben. Das peinigt mich, wie ich es gar nicht sagen kann, und darum schreib' ich Dir, Hjalmar. Wenn Du schon auch nicht mit eigenen Augen mehr sehen kannst, wie es nun in mir ausschaut, so sollen Dir doch diese Zeilen wenigstens ein Bild davon geben.

Ein besseres und wahreres Bild von mir – das glaube mir, Hjalmar! Ich habe mich zu mir zurückgefunden und Du würdest jetzt Deine stille Freude an mir haben, Du, mein Geliebter.

Doch ich will aufrichtig sein, es hat seine Zeit gebraucht, ehe es dazu kam. Erst habe ich mich weiter in meine Verzweiflung hineingewühlt, daß ich meinte, wirklich den Verstand zu verlieren. Du weißt es ja nicht, wie ich Dich liebe, Hjalmar – was es für mich heißt, Dich verlieren!

Aber gerade wie ich so in sinnlosem Schmerz da lag, nicht fähig, mich mehr zu rühren, da war es plötzlich, als ob Du zu mir trätest, wieder mit Deiner guten Hand über meine zuckende Schläfe strichst und mir leise, leise Trost zusprächest. Ich hörte so deutlich Deine liebe Stimme mir im Ohr klingen: »Ich bin ja bei Dir, meine Eva, mit jedem Schlage meines Herzens! Du bist ja nicht verlassen. Und bau auf mich: wenn je Verzweiflung über dich kommen will, flüchte dich in Gedanken zu mir, ruf' nach mir und ich werde bei dir sein!«

Siehst Du, Hjalmar, da wurde ich ruhig, und seitdem bin ich es geblieben, werde ich es immer sein. Ich weiß ja nun: Ich habe Dich nicht verloren – Du bist bei mir, in all meinem Fühlen und Denken. Du hast von meinem Wesen so Besitz ergriffen, daß ich nur noch in Dir lebe und leben werde.

Und darum fürchte nichts für mich und meine Zukunft. Ich habe ja nun wieder ein Lebensziel, Du weißt es ja: Für mein Kind mich ganz zu opfern, es mir voll zurückzugewinnen. Daß ich aber bei diesem schweren Werke den richtigen Weg einschlagen und immer wieder die nötige Kraft haben werde, das gibst Du mir, Geliebter.

Bitte, bitte, vergiß die häßlichen Worte, die ich Dir damals in Verzweiflung zurief! Es ist ja nicht wahr: Du rissest nichts nieder von dem, was Du in mir aufgebaut hast – nein, Einzigster, mit Deinem großen Entsagen kröntest Du Dein Werk an mir. Und alle Deine Worte, alle Deine Lehren, sie leben in meinem Herzen, sie werden mich in Stunden des Zweifels, des Wankelmuts, wieder aufrichten. Dir gleich – Dir nach! Das soll die Richtschnur in meinem Leben sein.

Und nun erlaube, Geliebter, daß ich noch einmal von uns beiden rede. Auch da ist es still und klar in mir geworden. Ich darf es Dir heute bekennen, mit freudigem Stolz: Auch ich habe mich überwunden. Du hattest recht, wieder recht, mein Hjalmar, Du kanntest mich abermals besser.

Der Weg, den Du uns vorgezeichnet, er ist der einzige, den wir als ehrliche Menschen gehen konnten, wollten wir nicht uns selbst im Innern zerstören. Nun vergib mir auch die harten, lieblosen Worte, die ich neulich im ersten Schmerz gegen die unglückselige Frau an Deiner Seite gebraucht habe. Jetzt sehe ich ja erst, wie namenlos sie zu leiden hat. An Deiner Seite hinzuleben, ohne Dich doch wirklich besitzen zu können – das ist noch furchtbarer, als was ich jetzt zu tragen habe!

Darum ist mein ganzes, unendliches Mitleid bei ihr; ich denke an sie wie an eine arme, todkranke Schwester. Ja, ja, mein Hjalmar, geh zu ihr, eile, und gib der Unglücklichen, was Du ihr noch geben kannst, um ihr Los zu erleichtern. Fürchte nicht mehr, daß mein frevelndes Sehnen ungeduldig hinter Euch steht, ihr Ende herbeirufend. Nein, nein! Gott füge es, wie es bei ihm beschlossen ist.

Aber – und nun zürne mir nicht, Hjalmar, schilt nicht, wenn ich ein letztes noch im tiefsten Herzenswinkel Dir zeige. Ich habe lange gekämpft, ob ich es tun sollte. Aber nun geschieht es doch, weil ich fühle, es wäre nur schwächliche Heuchelei, wollte ich es Dir verheimlichen.

Frei sollst Du sein, frei bist Du ja nun, Hjalmar, wie Du es mußt, um erhobenen Hauptes weiterhin neben Deiner Frau hinzugehen. Aber eines kannst Du nicht hindern: Daß ich mich Dir verbunden fühle, daß nur du in meinem Herzen einen Platz haben wirst, so lange es schlägt, und daß ich nie, nie einem andern auch nur das leiseste äußerliche Recht auf mich einräumen werde! Jetzt, wo ich in Dir lebe und webe, fühle ich auch Kraft genug, meinem Sohn den Vater zu ersetzen. Er soll das Bild lieben lernen, das ich von Dir im Herzen trage – er soll werden wie Du! Das aus ihm zu machen, wird mein Glück, mein ganzes Glück sein.

Du siehst, ich bin nicht arm, Hjalmar; aber dennoch, dennoch hege ich ein verborgenes Hoffen, ich könnte doch noch reicher werden, – unermeßlich reich!

Vielleicht einst nach Jahren, wenn der Tod der Armen dort und Dir Erlösung gebracht hat, wenn dann Deine Trauer stiller geworden ist und Du siehst Dich in Deiner Einsamkeit um nach einer Menschenseele – dann, dann, Hjalmar, wisse: Ich harre Dein!

Zürnst Du mir, Hjalmar? Ich kann es nicht glauben.

Wieder bist Du bei mir, in dieser Stunde, und ich höre Deine Worte, die Du sprachst, als wir uns losrangen voneinander:

»Ich halte in Treue fest, was ich einmal erfaßt habe.«

Hast Du nicht auch mich erfaßt, Hjalmar?

Und nun allen Segen über Dich!

Eva.

Langsam sank Amthors Hand mit dem Brief nieder. Sein Blick flog hinaus, über das Meer, weithin zur Ferne, mit einem verklärten Aufleuchten. Es war wie ein Grüßen, wie ein stilles Bejahen.

Dann ging er vom Schiff, seiner grauen Zukunft entgegen; aber es stand darüber, wie am Wetterhimmel der mildleuchtende Friedensbogen, das Sonnenmal der Verheißung.

 


 


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