Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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XII.

Das Signal, das zum ersten Mal zum Essen gerufen hatte, war schon lange verschollen, und immer noch stand Amthor auf demselben Fleck droben auf dem einsamen Promenadendeck, heute in Sturm und Wogen ein ungastlicher Ort. Aber dem vor sich hin starrenden Manne war es gerade recht, daß ihm beständig der kalte Gischt und Sturmhauch ins Antlitz schlugen. Es tat gut – es war not! Die kalte Vernunft mußte ja in ihm wieder die Oberhand gewinnen in dem Kampfe, den er da mit sich abzumachen hatte.

Seit dem Augenblick vorhin, wo ihn wie ein Blitz die Erkenntnis durchzuckt hatte, daß er mehr als Freundschaft für Eva Söllnitz empfand, stand sein Wesen in heftigstem Zwiespalt.

Auf der einen Seite lockte ihr liebes Bild, um das sich jetzt ein ganz neuer, süßer Zauber gesponnen hatte. Er wußte selbst nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich bisher nur stets als einen ernsten, fast kühlen Mann gekannt, fern von jeglichem weichlichen Tändeln; und die Bitternis der traurigen Jahre da droben in Island hatte noch das Ihre dazugetan, ihn hart, fast rauh zu machen. Aber nun war von ihr so etwas Weiches, Zartes ausgegangen, das ihn mit unsichtbaren Fäden umstrickte, aber doch so fest, daß er kaum noch entrinnen konnte. Jetzt merkte er erst, was er entbehrt hatte, so lange – immer! Ihre holde Frauenanmut hatte ihn unmerklich in ihren Bann gezogen, auch ihm im Herzen Zartes und Leises geweckt, das nun anschwoll zu einem sehnenden, übermächtigem Klange.

Ja, wie ein großes Erwachen war es plötzlich über ihn gekommen – überhaupt, in seinem ganzen Wesen! Seine Kräfte hatten ja jahrelang in todesstarrem Schlummer gelegen, wohl hatte er es nur zu oft gefühlt, aber mit dumpfer Resignation hatte er sich in dies Dahindämmern hineingefunden, was hätte es auch geholfen, wenn er immer wieder angerungen hätte gegen die Fesseln, die er doch nicht sprengen konnte? Nun aber war es wie ein zündender Blitz in sein ganzes Wesen gefahren. Alles, alles in ihm, das unterdrückt und gebunden gewesen war, schrie nach Freiheit, nach Licht und Leben. Er reckte die Glieder in ihren Banden und – welch Wonnegefühl – er merkte: Noch waren sie jung und stark! Wenn er nur wollte – ein Dehnen, ein Spannen, ein Ruck, und in Splitter zerbarsten die Fesseln, die ihn so lange gezwungen hatten!

Warum hatte er sie überhaupt nur so lange getragen? Warum sich selbst des Lichts, der Freiheit beraubt? Hatte er denn nicht gewußt, wie lockend da draußen die herrliche, sonnige Welt war? War er blind gewesen? Mußte erst eine weiche Frauenhand kommen und ihm die Binde von den Augen nehmen, daß er all die Pracht wieder sah, die er so lang entbehrt hatte?

O, wie dankte er dieser lieben, lieben Hand! An seine Lippen möchte er sie pressen, an sich reißen die ganze angebetete Frau, sie bei sich halten für immer – immer! wie ein Taumel wollte es über ihn kommen, seine Adern glühten wie im Fieber.

Aber da trat plötzlich ein zweites Frauenbild vor seine Seele – neben der strahlenden Lichtgestalt ein trauriger, schwarzer Schatten, blaß und gramgebeugt. Festgeschlossen blieben die Lippen, aber die großen Leidensaugen sahen ihn an mit erschütternder stummer Klage: willst du mich nun auch noch verlassen? Du, das Einzige, das Letzte, was mir ein furchtbares Geschick gelassen hat? Soll mir so gelohnt werden, daß ich selbst dich zu dieser Reise gedrängt habe?

Ein Stöhnen brach sich leise von Amthors Lippen. Das war es ja, warum sich seine Augen entwöhnt hatten, sehnend in das goldene Licht der Freiheit zu sehen! Wie hatte er es vergessen können, auch nur für flüchtige Augenblicke? Er war ein freiwillig Gefangener – er war es und mußte es bleiben.

Mußte er es wirklich?

Im angstvollen Aufbäumen des fast schon erstickten Lebensdranges schrie es auf in seiner Seele, warum mußte er? Hatte er sich nicht genug geopfert? Die besten Mannesjahre vertrauert, seine Kräfte verkümmern lassen? Sollte er wirklich bis zum völligen Stumpfwerden weiter die Kette tragen? Wenn dann nach Jahren der Allerbarmer Tod die Unselige erlöste, um die er all das trug, und ihm die Freiheit wiedergab, dann war es vielleicht zu spät für ihn – die Schwingen waren erlahmt, sie trugen ihn nicht mehr zum Fluge ins Licht. Hatte er nicht aber ein Recht auf sich selbst? Warum also sprengte er die Ketten nicht, solange es noch Zeit war?

Er reckte sich auf, hoch, jede Muskel gespannt und die Zähne aufeinander gebissen – einen Moment fieberte in seinem Hirn ein brausendes Drängen, als wolle ein erlösender Entschluß sich losringen; aber dann fiel seine Gestalt wieder in sich zusammen, matt senkte sich sein Haupt auf die Brust. Mit seinen jagenden Gedanken war er vorausgeeilt in die Zukunft – er sah sich in der Freiheit, im Licht, aber neben ihm stand stets ein düsterer Schatten, die quälende Reue, daß er im selbstsüchtigen Lebensdrange einer Verzweifelten die letzte Stütze ihres jammervollen Daseins entrissen hatte. Er fühlte es, er war nicht der Mann dazu, über gebrochene Herzen zu schreiten.

Also verzichten, auf alles, alles, was da lockend vor ihm stand, weiter dämmern – das war die Losung für ihn.

Im trostlosen Brüten, die Stirn finster zusammengezogen, starrte Amthor vor sich hin.

Ein abermaliger Hornruf rüttelte ihn auf. Langsam sich emporrichtend, besann er sich: Das war ja das Zeichen, daß man da drunten sich schon an den Tisch setzte, und er stand hier noch im Ölmantel, wassertriefend. Am liebsten wäre er der Tafel ganz fern geblieben; aber dann besann er sich anders. Es war doch besser für ihn, er kam unter die Leute. Da entging er wenigstens den qualvollen Gedanken, die ihn hier in der Einsamkeit hin- und herzerrten.

So stieg er denn hinab; er ging gleich zum Speisesaal hin, nur Mantel und Hut draußen ablegend; es war ja keine Zeit mehr, Dinertoilette zu machen. Es mußte heute eben auch mal im Bordanzug gehen.

Aber wie er nun in den Saal trat, durchzuckte ihn der Gedanke: Sie! Wie sollte er ihr nun gegenübertreten? Nach jener Sekunde stummen Verständnisses vorhin! Noch einmal klaffte der ganze Zwiespalt seines Empfindens vor ihm auf, und einen Moment stockte sein Fuß. Aber dann schritt er entschlossen weiter. Ganz gleich! Es mußte sein; ein Begegnen war doch nicht zu vermeiden. Nur eines mußte geschehen: Mit keinem Blick, mit keinem Wort durfte er ihr mehr verraten, wie es in ihm aussah; aufs strengste mußte er die Grenzlinie des ruhig freundschaftlichen Verkehrs innehalten, wenn es ihn auch noch so zu ihr hindrängte. Es wäre ja ein namenloser Frevel an der Leidgeprüften gewesen, wenn er Hoffnungen in ihr genährt hätte, die sich doch niemals verwirklichen konnten.

Mit diesem festen Entschlusse trat Amthor an die Tafel, wo er seinen Platz hatte. Dank der freundlichen Verwendung des Kapitäns Neidhardt beim Obersteward hatte man ihn schon vor ein paar Tagen umgesetzt; er hatte seinen Platz bei den neuen Bekannten bekommen, wo er nun neben Mrs. Sanderham, schräg gegenüber von Eva Söllnitz saß, so daß er sie wenigstens aus der Nähe sehen konnte.

Die Tischgesellschaft war schon vollständig versammelt, nur Eva Söllnitz war noch nicht erschienen. Es wurde schon der zweite Gang gereicht, da sah er, aufblickend, sie gerade herannahen. Er stutzte sofort beim ersten Anblick. Ihm, der in ihren Zügen so zu lesen gelernt hatte, fiel sofort ein ganz eigener Ausdruck darin auf, so etwas Unnahbares, Kaltabweisendes; er merkte, wie sie den feinen Kopf zurückgeworfen hatte. Und wie bleich war sie! Nur ihre dunkeln Augen brannten, in dem blassen Antlitz um so wahrnehmbarer, in einem stolzen, leidenschaftlichen Leuchten. So schritt sie, hochaufgerichtet, nicht übermäßig schnell den Gang zwischen den Tafeln entlang herauf, den Blick geradeaus gerichtet, als existierten die andern da rechts und links nicht für sie.

Noch nie war es ihm so aufgefallen, wie schön sie war, als gerade in diesem Moment. Dies in seiner Blässe doppelt feine, stolze Antlitz, die schlanke, vornehme Gestalt mit dem sie duftig umfließenden, helleuchtenden Gewande! Wie schön – wie wunderbar schön war sie! Und um so heißer brannte in seinem Herzen das trostlose Bewußtsein: Nicht für dich!

Nun war Eva Söllnitz an ihrem Platz angelangt und begrüßte die Bekannten mit einem leichten Kopfneigen. Ihr Bestreben, dabei das übliche freundliche Lächeln zu zeigen, ließ Amthor aber eine innere Anstrengung erkennen. Mit einer geheimen Spannung sah er dem ihm bestimmten Gruß entgegen; aber er wartete vergebens. Ihr Blick vermied es, ihn zu streifen. Sich schnell über ihren Teller neigend und ein wenig hastig nach der Serviette greifend, setzte sie sich.

Ein Staunen beschlich Amthor: was hatte das zu bedeuten? Warum dieses offenbar doch absichtliche Übersehen?

Inzwischen hatten die Tischnachbarn sich an Frau Söllnitz gewandt, wegen ihres verspäteten Kommens.

»Nun, gnädigste Frau, doch nicht etwa auch noch Gott Ägir tributpflichtig geworden?« neckte Kapitän Neidhardt.

Die junge Frau zwang sich ein Lächeln ab.

»Dagegen bin ich gefeit! – Nein, die Stewardeß war nur unglaublich ungeschickt heute beim Ankleiden.«

Sie sprach es absichtlich laut. Der Regierungsrat und die anderen mit ihm sollten es hören, daß sie nicht etwa sich freuen könnten: Es war geglückt! Es hatte sie zu Boden geschmettert. Nur mühsam hat sie sich wieder aufgerafft! – Und unwillkürlich warf sie noch stolzer den Kopf in den Nacken, und ein fast hochmütiger Zug trat um ihren Mund.

Aber wer in ihr Inneres hätte sehen können!

Sie war hierher gekommen, sie hatte ihren Entschluß ausgeführt – doch sie hatte ihre Kraft überschätzt. Hinter der Maske dieses stolz-verächtlichen Lächelns barg sich ein zum Schreien aufgepeitschtes Wundsein. Wie ein Spießrutenlaufen war ihr ja eben hier der Weg durch den Saal bis zu ihrem Platze gewesen! Trotzdem sie ihre Augen starr geradeaus gerichtet hatte, hatte sie alle die hundert lauernden, schadenfrohen Blicke körperlich, wie glühende Nadelstiche, an sich wahrgenommen, hatte geglaubt, auch das heimliche Zischeln und Raunen um sich herum zu hören. Mit einer Anwandlung von Ohnmacht hatte sie auf halbem Wege gekämpft, sich aber mit eiserner Energie aufrecht gehalten, und innerlich zu Tode erschöpft war sie auf ihrem Sessel niedergesunken.

Hier war es aber nun wirklich dicht vorm Ende mit ihrer Widerstandskraft, wie auf einem Marterstuhl saß sie, mit dem Bewußtsein, daß jeder ihrer Blicke, jede ihrer Mienen überwacht und mit hämischer Verdrehung schlecht gedeutet werden würde. Instinktiv tat sie nur noch eines: Sie zwang ihre Augen mit letzter Kraft gerade Amthor zu meiden. Sie wußte, ja sie fühlte förmlich, wie alles ringsum nur auf diesen Blick wartete.

Die Augen stets vor sich auf den Tisch geheftet oder krampfhaft auf den Nachbar gerichtet, saß sie, eine Unterhaltung führend, von der sie nichts wußte. Sie sprach mechanisch, zerstreut und hastig; ihre Gedanken waren ja ganz wo anders. Sie lauschte, einem qualvollen Zwang gehorchend, mit zum Springen angespannten Nerven beständig hinein in die laut schwirrende Unterhaltung ringsum im Saal, als müsse sie jedes heimlich geflüsterte Wort heraushören, das ihr galt.

Mit steigendem Befremden sah Amthor ihr ganzes Sichgeben. Was war nur mit ihr? Sie war ja ganz verwandelt! Vorhin, vor einer Stunde, und jetzt – welch unverständliche Veränderung? Fühlte sie sich vielleicht doch nicht wohl und scheute sich nur, es einzugestehen? Ihre Augen brannten ja in einem so fiebrigen Glanz!

Er heftete einen langen, innig besorgten Blick auf sie. Eva Söllnitz sprach gerade mit Mrs. Sanderham, aber sie fühlte, ohne hinzusehen, wie Amthor sie beobachtete, und eine leise Röte stieg in ihre blassen Wangen. Er bemerkte es, und wie es unruhig in ihren Zügen zuckte: offenbar, sie fühlte seinen Blick, nun würde sie ihn doch endlich einmal erwidern!

Und wirklich, plötzlich streifte ihn einen flüchtigen Moment ihr Auge, aber mit einem so verzweifelten, stummen Flehen: um Gotteswillen – nicht doch! Dann flog der Blick eilig wieder zurück zu ihrem Nachbar.

Amthor verstand die geheime Sprache und gehorchte ihrem Wunsch; aber immer tiefer ward seine Sorge um sie. wenn er sie doch nur einen Augenblick hätte sprechen können!

Das nervöse, blasse Aussehen der jungen Frau fiel schließlich aber auch dem Kapitän auf.

»Gnädige Frau scheinen aber doch wirklich nicht ganz wohl zu sein,« wandte er sich teilnehmend an Eva Söllnitz. »Sie sollten am Ende doch mal den Doktor kommen lassen. Soll ich ihn nachher suchen?«

»O – es wird schon so wieder werden!« Sie zwang sich ein Lächeln ab. »Bitte, geben Sie mir nur einen Schluck Wein. Das wird mir gut tun.«

Begierig griff sie nach dem Glas Sekt, das er ihr reichte, und stürzte es mit einem Male, in langem Zuge hinab.

Ja, das tat ihr wirklich gut! Nun hoffte sie die Kraft wiedergewonnen zu haben, diese schwerste Stunde ihres Lebens bis zum Schlusse auszuhalten. –

Endlich, endlich war das Diner vorüber, mit dem Kapitän zusammen verließ sie als eine der ersten den Saal; draußen verabschiedete sie sich aber schnell von ihm, um sich wieder in ihre Kabine zu flüchten. Sie bedurfte des Alleinseins nach diesem Martyrium, das ihre Nerven bis zum Versagen angespannt hatte.

Eiligen Fußes wollte sie sich den langen Korridor hinabbegeben, aber da trat ihr plötzlich, aus einem Seitengange herumbiegend, ein Herr entgegen – Amthor! Er hatte gleich ihr schnell den Saal verlassen, in der Hoffnung, sie noch auf dem Wege zu ihrer Kabine einzuholen, damit er wenigstens ein Wort mit ihr ohne Zeugen wechseln konnte.

Sie schrak bei seinem unerwarteten Anblick heftig zusammen. Nun stand er schon vor ihr.

»Liebe Frau Eva, was haben Sie denn? Was ist Ihnen denn geschehen?«

Seine zärtlich besorgte Stimme machte sie erzittern. Wie gern hätte sie sich an sein Herz geflüchtet mit ihrem Leid! Aber sie konnte ja nicht! Zugleich hörte sie vom unteren Ende des dämmrigen Ganges Stimmen heraufschallen. Das peitschte ihre abgehetzten Nerven von neuem auf: wenn man sie hier mit ihm stehen sah – allein, so dicht beieinander? Und fast heftig drängte sie sich nun in dem schmalen Gange an ihm vorbei:

»Lassen Sie mich – ich beschwöre Sie!«

Erregt stieß sie es aus, und im nächsten Moment war sie davongestürzt.

Bestürzt sah ihr Amthor nach. Sie wurde ihm immer unverständlicher! Dieses Ausweichen – sie floh ihn ja förmlich – diese verzweiflungsvolle Angst! Was war das alles denn nur? In seine Gedanken verloren, schritt er nur langsam vorwärts.

Tritte und Stimmen dicht hinter ihm machten ihn dann plötzlich auffahren.

»Pardon – Sie gestatten wohl?« klang es an sein Ohr.

Schweigend machte er den Vorübergehenden Platz, verwundert sahen sie in sein ernstes, fast finsteres Gesicht.

Ein Stück weiter drehte sich die Dame neugierig noch einmal in dem dämmrigen Gang nach Amthor um.

»Der König von Thule geruht heute ungnädig zu sein!« flüsterte sie dann spottend ihrem Begleiter zu.

Amthor verstand die Worte nicht, aber ein leises Kichern schlug an sein Ohr. Da raffte er sich zusammen: hier war nicht der Ort, seinem Empfinden nachzugeben! Und auch er suchte seine Kabine auf.

 


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