Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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IV.

Im kleinen Saal mit der Bühne, dem einzigen seiner Art in Reykjavik und ganz Island, saß dichtgedrängt die Schiffsgesellschaft in freundnachbarlichem Durcheinander mit Einwohnern der Hauptstadt und lauschte dem Gesangskonzert, das die Bürgerschaft Reykjaviks den Gästen aus dem fernen Deutschland veranstaltete. In der ersten Reihe des Sängerchors droben auf dem Podium standen die jungen Isländerinnen, blond und blauäugig, in ihrer kleidsamen Nationaltracht, dem prunkvollen, lang herabfallenden Mantel aus rotem oder blauem Samt, mit Hermelin verbrämt, schönen alten Silberschmuck im Haar und am Gürtel. Im Chor sangen sie, mit den Herren hinter ihnen, die alten, schwermütigen Lieder ihrer Heimat, von versunkenem Glanze und einstiger Heldenherrlichkeit.

Still lauschten die deutschen Gäste, in deren letzter Reihe auch Frau Söllnitz mit ihren näheren Bekannten, während der melancholischen Weisen gingen ihr ernste Gedanken durch den Kopf. Das war nun ein Festsaal hier, dieser schmucklose, nüchterne Raum – ein rechtes Abbild auch dieser weltentlegenen Insel. Auch die Gesichtszüge der Mädchen und Männer da oben auf der dürftigen Bühne, die an einen deutschen Dorfwirtshaussaal erinnerte, spiegelten in ihrem Ernst die Natur ihrer Heimat wieder. Etwas Schweres, Trauriges lastete hier auf Land und Menschen – wahrlich, so empfand Frau Söllnitz, nicht umsonst hat sich die düstre Sage um die nebelgraue Insel Thule gewoben – und plötzlich tauchte aus dem Gedämmer ihrer Vorstellungen das Bild des fremden Doktors von gestern auf.

Trotz des Ärgers über ihn, hatte er ihre Gedanken doch häufig beschäftigt; vielleicht gerade, weil er sie wie eine launische, exzentrische Frau ernst zurückgewiesen hatte. Durch die Nachgiebigkeit und schmeichelnde Bewunderung der Herren allenthalben verwöhnt, war es ihr selbstverständlich geworden, daß man ihre Wünsche als Befehl auffaßte. Seine rauhe Offenheit nun hatte sie zwar lebhaft verletzt, aber doch zugleich einen starken Eindruck auf sie gemacht.

Es war überhaupt etwas in der ruhigen, ernsten Art des Fremden gewesen, was ihr gefallen und gut getan hatte. Sie war der ewig witzelnden und spöttelnden Art der Unterhaltung ihrer Gesellschaftskreise herzlich müde, obwohl es ja noch die beste Art war, hinter dieser skeptisch lächelnden Maske das wunde, zerstörte Innere zu verbergen. Sie sehnte sich insgeheim ja so unsagbar wieder nach einem festen Halt in ihrem Leben, an den sie sich klammern könnte, damit sie der beängstigende Strom des Lebens nicht hinwegriß, sie, die wurzellos Gewordene. Sie sehnte sich nach einer in sich selbst gefesteten, klaren Menschenseele, bei der sie sich Trost und Rat, neuen Mut und frisches Hoffen holen konnte. Aber wo solche Seele finden in dieser innerlich zerfressenen Gesellschaft, in der sie lebte? Wo alles hinjagte nach oberflächlichen Genüssen, wo keiner sein wahres Gesicht zeigte oder, wenn er's tat, nur abstoßende Züge enthüllte. Besser schon, da lieber einsam zu bleiben inmitten all des glänzenden Gewühls. Aber wie schwer doch – wie hoffnungslos traurig!

In das schwermütige Sinnen der jungen Frau klangen die weichen dunkeln Akkorde eines neuen Liedes der Sänger da vorn, des letzten der ersten Programmhälfte: »Vith hafith jeg sat fram a saevarbergs stall,« eines Sanges voll der ganzen trübschweren Stimmung der isländischen Landschaft. Das Programm gab den Text auch in deutscher Übersetzung wieder:

»Ich saß an der Küste an felsigem Rand
von düsteren Nebeln umgeben –
Die reißende Brandung umtoste den Strand –
Ich sah sie erbeben.

Das Meer ward so finster, der Hagelsturm droht
Mit Dröhnen und Sausen;
Die Nacht brach dann ein, wie der schweigende Tod –
Erfüllt mich mit Grausen.«

Leis verhallten die letzten, schwermütigen Akkorde im Saal. Dann brach stürmischer Beifall unter den deutschen Gästen los; das Lied ward noch einmal verlangt.

»Um Gottes willen!« Mit halb komischem, halb ernstem Entsetzen wehrte Kapitän Neidhardt ab.

»Sie sind weniger entzückt?« wandte sich seine Nachbarin, Frau Söllnitz, an ihn. Sie war ganz froh, daß ihr Begleiter sie ihrem Trübsinn entriß.

»Ich bitt' Sie, gnädige Frau! Einmal so was läßt man sich ja schließlich noch gefallen. Aber bloß nicht zum zweitenmal! Ich finde diese isländische Musik so saft- und kraftlos – alles, was die Leute da singen. Sehen Sie, gerade eben dies Lied, von Brandung und Sturmbrausen – Herrgott nicht noch mal, da müßte doch 'ne grandiose Leidenschaft draus klingen, eine Wildheit, die einen packt und schüttelt! Statt dessen wimmern die guten Leutchen da wehleidig immer im Moll 'rum. Doch einfach nicht zum Aushalten, gnädige Frau! – Nee, nee, Island kann mir gestohlen bleiben. Kein Muck in der ganzen Geschichte! Auch die Mädels da oben, doch lauter junge Dinger, auch ganz hübsch manche – geb' ich gern zu – aber stehn da wie die Ölgötzen, kein Funken Temperament in der ganzen Gesellschaft! – Nee, danke ergebenst!«

Frau Söllnitz lachte belustigt über den Entrüstungsausbruch des so jugendlich empfindenden alten Seemanns.

»Sie kokettieren wohl bloß nicht genug mit Ihnen, Herr Kapitän!« neckte sie ihn.

»Soll mich Gott bewahren! Solche Mondkälber, und auch noch kokettieren? Das wäre ja tödlich! – Aber sie singen wahrhaftig noch mal. Da mach' ich mich dünn!«

Und eiligst machte sich der Kapitän davon, draußen seine Zigarette zu rauchen. Das Lied wurde in der Tat wiederholt und abermals lebhaft beklatscht. Dann trat die Pause ein, während der die Mitglieder der Reisegesellschaft sich nach der Bühne zu drängten, um sich mit den isländischen Sängern, so gut es ging, persönlich bekannt zu machen.

Frau Söllnitz benutzte die Gelegenheit, den Saal zu verlassen. Die lastende Schwüle in dem Raum und die ihr Inneres bedrückende Schwermut des Gesanges trieben sie hinaus an die frische Luft, sich Kopf und Herz wieder freier zu machen. Als sie hinaustrat, empfing sie, wiewohl in der zehnten Abendstunde, das noch helle Licht. Die Sonne war hinter der weiß-grau durchleuchteten Wolkenwand nicht sichtbar; aber die Kraft ihrer Strahlen bekundete sich in den metallisch gleißenden Reflexen der das Auge blendenden Luft und des schwerflüssigen Wasserspiegels auf der Meeresbucht draußen. Die Luft war sommerlich warm, ohne jede nächtliche Abkühlung und völlig still. Eine fremdartige Stimmung tönte leise aus dieser nordischen Abendlandschaft; es war fast Nacht und doch heller Tag. Wie verzaubert erschien das Land, Himmel und See; der Tag war durch eine dämonische Gewalt festgehalten – unnatürlich, geheimnisvoll mutete sein Anblick zu nächtlicher Stunde an.

Gedankenverloren schritt die junge Frau durch die stille Gasse dahin, die zum Hafen führte. Auch hier die Grenzen der Natur verrückt! Rein traulich blinkendes Licht aus dunkelm Stübchen, keine geschlossenen Läden, die friedlichen Schlummer der Bewohner kündeten. Die Fenster und Türen waren vielfach noch offen; die Helle der Polarnacht ließ noch keine Müdigkeit über die Menschen kommen. Man hörte sie noch sprechen und hantieren. Etwas Ruheloses, trotz der lautlosen Stille in der Natur die Nerven Aufreizendes, lag in diesem ewig scheinenden Tageslicht; es war, als wenn die Überanspannung des schlummerlosen Gestirns sich auch den Menschen mitteilte.

Plötzlich wandte sich Frau Söllnitz auf ihrem stillen Gange unwillkürlich um. Ihr war, als ob Schritte hinter ihr herkämen, und sie hatte sich nicht getäuscht. Ein Mann kam ihr nachgegangen – der Doktor von gestern! Sie erkannte ihn gleich wieder, trotzdem er heute einen Gehrockanzug trug.

Sie wandte das Gesicht wieder nach vorn und ging in unverändertem Tempo weiter. War es Zufall oder Absicht, daß er hier denselben Weg ging? Er war offenbar auch im Konzert gewesen.

Nun hatte er sie eingeholt. Neben sie tretend, zog er den Hut zum Gruß:

»Guten Abend, gnädige Frau.« Mit dem Kulturgewand hatte er offenbar heute auch die in der deutschen Heimat übliche formelle Anrede hervorgeholt. »Sie waren auch im Konzert. Ich habe Sie gesehen. Nun, wie gefällt Ihnen der isländische Gesang?«

Seine ruhige Art, als ob gestern gar nichts zwischen ihnen gewesen wäre, weckte von neuem ihre verletzte Empfindlichkeit, die sich inzwischen bereits beschwichtigt hatte. In kühlem, ziemlich ablehnendem Ton erwiderte sie daher:

»Er ist melancholisch und freudlos, wie das ganze Leben hier.«

»Also nicht Ihr Fall?«

Das leise, wie ihr schien, ironische Lächeln bei diesen seinen Worten reizte sie noch stärker; aber sie zwang die scharfe Erwiderung nieder, die ihr auf den Lippen schwebte. Statt dessen sagte sie, mit einem festen Blick in seine Augen, offen zu ihm:

»Sie gaben mir schon gestern – sogar in recht unzweideutiger Weise – zu verstehen, daß Sie mich für oberflächlich halten. Glauben Sie wirklich, nach so flüchtiger Bekanntschaft, ein Recht dazu zu haben?«

Überrascht sah er auf sie, als ob er da plötzlich etwas ganz Neues, Unerwartetes bei ihr entdeckte. Sie hielt seinen in sie dringenden Blick ruhig aus. Langsam erwiderte er dann:

»Ich gestehe unumwunden: Ich glaubte dies Recht allerdings zu haben – nach der Gesellschaft zu urteilen, in der ich Sie antraf.«

»Ah so! Sag' mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist!« entfuhr es ihr bitter. »Aber auch Sprichwörterweisheit wird mitunter zu schanden! – Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, daß einem auch eine Gesellschaft aufgezwungen werden kann? Namentlich im engen Raum eines Schiffes?«

»Ohne Zweifel. Aber es schien mir so, als ob Sie sich in dieser Gesellschaft in Ihrer Lebenslust fühlten.«

Die junge Frau lachte bitter auf. »So? Machte ich den Eindruck?«

Er blickte eine Weile schweigend auf sie, wie es in ihrem feinen Gesicht, trotz aller Beherrschung, insgeheim zuckte, wie anders sahen die blassen, nervösen Züge heute aus, als gestern, wo sie, vom Reiten rosig angehaucht, jugendfrisch gestrahlt hatten. Diese Minute zeigte ihm das Antlitz einer Frau, die das Leid kennen gelernt hatte. Da wandte er sich mit warmem Ton an sie:

»Ich sehe, ich habe Ihnen mein vorschnelles Urteil abzubitten. So war es auch gestern nicht bloße Neugier –«

Sie schüttelte stumm den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Also Mitleid mit den Unglücklichen dort! – Dann verzeihen Sie mir, bitte, meine Schroffheit, die Sie sehr verletzt haben muß. Ich weiß wohl, ich bin oft scharf ohne Not. Man verbittert eben in der Einsamkeit.«

»Das kann ich Ihnen nachempfinden. Aber glauben Sie mir: Man kann mitten in der rauschenden Gesellschaft einsamer sein als Sie hier in Ihrer Weltabgeschiedenheit!«

Wieder sah er sie an, die zu ihm sprach, ohne ihn anzusehen, den Blick starr geradeaus gerichtet auf den gleißenden Wasserspiegel der Bucht.

»Es ist schlimm, wenn man in so jungen Jahren zu solcher Erkenntnis kommt. Namentlich für eine Frau.«

Sie erwiderte nichts, und so schritten sie schweigend nebeneinander, jetzt längs des kleinen Bootshafens, in dem eine Anzahl von Fahrzeugen lagen.

Aus einem der Boote sah man die Leute geschäftig hantieren; sie gingen gerade darauf zu. Die junge Frau heftete mechanisch ihre Blicke auf das fremde Treiben.

»Ein französischer Islandfahrer,« erklärte ihr Begleiter, auf das Fahrzeug deutend. »Er hatte einer Reparatur wegen für ein paar Tage hier den Hafen aufsuchen müssen, will aber jetzt wieder auslaufen.«

»Ah!« Die junge Frau blickte mit erwachtem Interesse auf das Fahrzeug. »Eines jener Schiffe, wie sie Pierre Loti schildert?«

Er nickte. »Wollen Sie es einmal besichtigen?«

»Aber gern!«

Sie traten an das Boot heran, und nach einigen Worten des Doktors an den Schiffsführer betraten sie auf schwankender Planke das kleine Fahrzeug.

Die vier Männer der Besatzung, breitschultrige, große Leute, hielten einen Augenblick in ihrer Beschäftigung inne und blickten verwundert, zum Teil gutmütig lächelnd, auf die elegante Dame, die da so viel Interesse für ihr enges, schmutziges Fahrzeug zeigte, das einen widerwärtigen Fisch- und Trangeruch ausströmte. Er kam aus dem Laderaum, dessen Deckel aufgeklappt war.

Frau Söllnitz wandte unwillkürlich schnell das Gesicht ab im Vorübergehen.

»Abscheulich! Wie können es diese Leute hier nur aushalten?«

»Das ist noch gar nichts! Aber sehen Sie, bitte, einmal hier hinein.«

Ihr Führer kletterte durch eine kleine Luke eine wahre Hühnersteige hinab. Sie folgte und sah sich nun in einem engen, kastenförmigen Raum, so schmal, daß man beim Ausstrecken der Arme allenthalben die Wände berührte. Ein winziges Tischchen in der Mitte, zwei Sitzbretter seitlich, kennzeichnet diesen Käfig als die Kajüte des Schiffs. An den beiden Längswänden waren zwei Schiebetüren über den Sitzbrettern halb zurückgeschoben, man sah in die Bettkisten dahinter, so niedrig und schmal, daß man darin wie in einem Sarg eingepfercht lag.

»Um Himmels willen!« Frau Söllnitz prallte zurück, als sie nun hier unten stand. Eine wahre Stickluft schlug ihr entgegen, ein fürchterliches Gemisch von Ausdünstungen, kaltem Tabaksqualm und unerträglichem tranigen Fischgeruch, der aus dem Laderaum nebenan hereindrang. Eiligst stieg sie wieder auf der Leiter durch die Luke hinaus, die Tür und Fenster dieses Raumes zugleich bildete, und unter dem stummen Lächeln der Fischer ging sie schnell wieder ans Land.

»Nein, wie ist es bloß möglich, daß Menschen so hausen können! – Und monatelang, nicht wahr – den ganzen Sommer hindurch?« wandte sie sich an den Doktor, der nun wieder zu ihr trat.

Er lächelte still.

»Gewiß, es ist hart. Und doch sind diese Menschen längst nicht die unglücklichsten, wenn sie im Herbst heimkehren, erwartet sie daheim Weib und Kind – ein bescheidenes, kärgliches Glück oft nur, aber doch etwas, das ihre Herzen wärmt, während sie hier oben in Wind und Wetter sich mühen, viel ärmer ist der, dem kein Heim winkt mit sorgendem Frauenherzen und sehnenden Kinderärmchen. Den friert's, und wenn er unter der heißesten Sonne lebte.«

Leiser, fast düster war der Klang seiner Worte geworden, die ein wehes Echo in der Brust der jungen Frau weckten.

»Da haben Sie recht – nur allzu recht!«

Hatte der Fremde doch da ahnungslos an das große Leid ihres Lebens gerührt, an dem sie sich innerlich verzehrte. – Ohne wahres Heim, ohne den Sonnenschein treuer Liebe durchs Leben gehen zu müssen, also auch er krankte daran! Denn das hatte sie seinen Worten deutlich angehört, daß sie ihm aus dem Innersten kamen. So hatte sie hier oben, in der Einsamkeit der weltentlegenen Insel, eine Menschenseele entdeckt, die sie jahrelang da drunten im Strom des geräuschvollen Lebens vergeblich gesucht hatte; eine Seele, auf denselben Grundton wie die ihre gestimmt, mit dem gleichen Leid und dem gleichen Sehnen, fähig, sie zu verstehen in den innersten, scheu verborgenen Regungen.

Ein wildfremder Mann war es, der da schweigend neben ihr herschritt, und doch ihrem Empfinden plötzlich so nahe gerückt. Was für ein sonderbares Spiel des Zufalls! Morgen trieb sie die Welle des Lebens, die sie hier in seltsamer Laune zusammengeführt, wieder auseinander, weithin, zwei Elemente, unter Millionen die einzigen, aufeinander abgestimmt; dann wirbelte jedes wieder in seinen Lebenskreis zurück, als hätte es das andere nie berührt. Aber gerade darum, weil es eben nur ein so dunkles Zufallsspiel war, weil es kein Wiedersehen gab, drängte es sie, zu diesem Mann zu sprechen von ihrem geheim verschlossenen Leid, in das sie einen von jenen aus ihrem Kreise ja niemals hätte blicken lassen. Losgelöst von aller peinlichen Scheu des Gesellschaftslebens, ganz nur Mensch zum Menschen, die sich hier an der Grenze der Kultur getroffen hatten, wollte sie zu ihm reden, vielleicht, daß solch lösendes Wort ihr die schwerbeladene Seele etwas befreite; vielleicht, daß er einen Strahl tröstlichen Lichts in das Dunkel ihres Innern trug!

So nahm sie seine letzten Worte wieder auf, die er gesprochen hatte.

»Sie beklagten den Armen, der frierend allein steht – abseits vom wärmenden Glück des häuslichen Herdes, das er nie kennen gelernt. Meinen Sie aber nicht, daß noch viel, viel ärmer der ist, dem einst dies Glück gestrahlt, der es aber wieder verloren hat?«

Er sah sie an, mit einem staunenden, fragenden Blick. Ahnte sie, was in ihm vorging, oder sprach sie nur von sich? Dann neigte er zustimmend das Haupt.

»Sie haben nur zu recht. Lieber das Glück niemals kennen lernen, als es nach karger Frist verlieren! – Auch Sie können also schon ein Lied davon singen? Sie Arme!« Ein mitleidiger Blick traf das blasse Gesicht der noch so jungen Frau. »Sind Sie schon lange Witwe?«

Ein leises Rot überhauchte plötzlich ihre Wangen. Er dachte offenbar gar nicht daran, daß es noch eine andere Möglichkeit gab – gewiß, weil er selbst das Unglück gehabt hatte, früh verwitwet zu sein – doch sie wollte ihn nicht in seiner Täuschung belassen. Stumm schüttelte sie den Kopf; dann erwiderte sie leise, doch ohne ihn anzusehen:

»Sie irren. Mein Mann lebt noch. Aber ich bin geschieden von ihm – auf meinen Antrag.«

»Geschieden!«

Sie hörte den befremdeten Klang seiner Stimme und fühlte seinen plötzlich veränderten, sie prüfenden Blick. Noch tiefer ward das Rot auf ihren Wangen, aber jetzt war es aufflammende Empörung, die sie färbte. Mußte sie denn immer und immer auf dies kränkende Vorurteil stoßen? Als ob eine gewisse Schuld doch stets an der geschiedenen Frau haftete! Diese Erregung ließ sie mit heftiger Bewegung sich ihm zukehren, und mit blitzenden Augen fragte sie ihn, frei ins Gesicht:

»Auch Sie also teilen, wie ich merke, das Vorurteil gegen die geschiedene Frau?«

Ruhig erwiderte er ihren Blick, mit seinen klaren, ernsten Augen, ihr bis auf den Grund der Seele dringend:

»Ich gestehe offen: im allgemeinen ja!«

Sie wollte auffahren, aber eine Bewegung seiner Hand beschwichtigte sie.

»Unsere moderne Überkultur und die Emanzipation der Frau haben schweres Unheil angerichtet. Das Geschwätz von Recht und Freiheit, von Recht auf Glück, vom Sichausleben, und wie der Unfug sich sonst nennt, haben der Frau den Kopf ganz verdreht. Sie hat über all dem die Hauptsache verlernt: Den Begriff der Pflicht, der allein die Welt regiert!«

»Ah! Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so einseitig ausschließlich vom Mannesstandpunkt aus –«

»Pardon! Sie ließen mich nicht zu Ende reden,« unterbrach er sie ruhig. »Ich hätte sonst hinzugefügt, daß ich selbstverständlich aber auch gegenteilige Fälle kenne, wo die Frau durchaus der sympathische Teil ist und alle Schuld beim Manne liegt. Nur pflegt es weit seltener zu sein; während dagegen die ›unverstandene Frau‹, mit ihrer ewigen Unbefriedigung und dem kindisch-phantastischen Hinterherjagen nach einem Märchenglück in den weitaus meisten Fällen die Ehe zerstört.«

»Dem will ich nicht widersprechen,« zwang sie sich das Bekenntnis ab. »Ich liebe die modernen Frauen selbst nicht. Um so mehr werden Sie es aber begreifen, wie bitter es ist, mit solchen unreifen oder pflichtvergessenen Geschöpfen, wie Sie sie ganz richtig schildern, in einen Topf geworfen zu werden. Sie ahnen es nicht, wie furchtbar dieses Vorurteil der Welt eine Frau kränken muß, die ohne ihre Schuld das Schrecklichste hat durchkämpfen müssen und die an den Wunden dieses Kampfes unheilbar dahinsiecht.«

Wie ein Aufschrei aus tiefster Seele klangen ihre letzten Worte in sein Ohr. Ein herzliches Mitleid mit diesem noch so jungen und schon so schwer geprüften Weibe kam über ihn. Wer furchtbarstes Leid, wie er selbst, an sich erfahren, der kommt leichter zur Härte gegen fremden Schmerz; die Seele wird ja stumpf unter der steten, überschweren Last des eigenen Wehs. So war auch sein Empfinden anderen gegenüber erstarrt und ging zumeist nicht über eine oberflächliche, pflichtschuldige Teilnahme hinaus. In dieser Stunde aber, wo er das Aufzucken heimlich getragenen Leids in dem sympathischen Antlitz dieser jugendlichen Frau sah, wo ein unermeßliches, fremdes Unglück vor seinen Augen sich entschleiern wollte, heute fühlte er zum ersten Male wieder ein warm aus der Tiefe quellendes Mitgefühl.

»Ich ahne doch, wie furchtbar schwer Ihr Los ist,« wandte er sich mit herzlichem Ton an sie. »Und, bitte, glauben Sie mir: ich bin fest überzeugt, daß Sie Ihrerseits frei von Schuld sind. Sie sind eine Frau, die sicherlich ihr letztes getan hat im Kampfe um ihr Glück. Unselig der Mann, der es nicht vermochte, sich Ihre Liebe und Achtung zu erhalten!«

»Ich danke Ihnen – von tiefstem Herzen!«

In innerster Bewegung streckte sie ihm ihre Hand hin, die er mit kräftigem Druck umschloß. Aus ihren dunkeln, schönen Augen leuchtete ihn ein warmer Strahl an. Er gab ihre Rechte nicht gleich wieder frei, und sie überließ sie ihm ruhig. Es lag in seinem ernsten Wesen so etwas Vertraueneinflößendes, daß sie bei ihm die allzeit wache Vorsicht vergaß, die sie sonst im Verkehr mit Männern jede Annäherung sofort abweisen ließ. Ohne jede Befangenheit hielt sie auch seinem langen Blick stand. Er hatte eine so eigene Art einen anzusehen, still-forschend, aber nicht zudringlich und neugierig; es war der Blick des Arztes, der in die Seele drang, um helfen zu können.

Nun gab er ihre Hand wieder frei.

»Es freut mich, daß Sie nicht so sind, wie ich erst glaubte. Nun wird mir Ihre Bekanntschaft eine wertvolle Erinnerung sein.«

Ein Gefühl leiser Traurigkeit überflog sie. Es tat ihr so wohl, jemanden gefunden zu haben, zu dem sie sich ohne Scheu aussprechen konnte; aber nun sollte sie ihn, kaum gefunden, gleich wieder verlieren. Sie gab diesem Empfinden offenen Ausdruck:

»Schade, daß unsere Bekanntschaft nur so flüchtig bleiben muß. Ich glaube, Sie wären der Arzt, der mir helfen könnte.«

»Sie würden Vertrauen zu mir haben – volles Vertrauen?«

»Vollstes?«

Sie sah ihn fest an.

Er erwiderte ihren Blick, aber antwortete dann nicht gleich. Schweigend schritten sie so nebeneinander her, neben diesem lautlos ruhenden Meer mit seinem gleißenden, die Augen blendenden Spiegel, der eine hypnotische, die Sinne traumhaft einlullende Macht ausübte.

»Wie lange sind Sie schon wieder allein – von Ihrem Mann getrennt?«

Unwillkürlich fragte er es, aus tiefem Schweigen heraus.

»Drei Jahre.«

»Und Sie sind ganz allein – haben keine Kinder?«

»Doch, einen Jungen von bald neun Jahren.«

Es lag ein eigener, leiser Klang über ihren Worten, als wolle er deren Wert abschwächen; aber es entging ihm.

»Wie?« rief er erstaunt. »So müssen Sie ja als ein halbes Kind noch geheiratet haben?«

Sie lächelte trübe.

»Leider ja! Ich war noch nicht achtzehn Jahre.«

»Dann freilich! – Aber wie konnten Ihre Eltern das nur zugeben?«

»Ich war Waise, und mein Vormund war froh, mich los zu werden.«

»Ach so – Sie armes Kind!« Er stellte sie sich in ihrer unberatenen, hilflosen Jugend von damals vor. Sein warmer mitleidsvoller Blick haftete auf ihrem Antlitz, wie anders mochte dieses Gesicht einst mit seinen achtzehn Jahren ausgeschaut haben, ehe bitteres Leid es vorzeitig blaß und müde gemacht hatte.

»Sie liebten Ihren Mann damals wohl sehr? – Verzeihung, es ist nicht Neugier! –« Rasch fügte er es hinzu, als er es schmerzlich in ihren Zügen aufzucken sah.

»Ich weiß es.« Ein dankbarer, weicher Blick streifte ihn; dann wandte sie die Augen von ihm ab und vor sich hin, ins Weite. Mit leiser, trauriger Stimme erzählte sie:

»Ich hatte eine schwärmerische Liebe zu meinem Mann. Er ist ein großer Künstler – seine Geige schmeichelt sich einem ins Herz. Ich liebe Musik sehr, besonders sein Instrument, das ich selbst spiele – so kam es. Auf einer Gesellschaft lernte ich ihn, den schon lange Bewunderten, persönlich kennen, und vom ersten Moment an loderte es auch bei ihm auf. – Ich ahnte ja damals noch nicht, daß es nur seine entflammten Sinne waren, die aus seinem heißen Werben sprachen. Ich war selig, wie trunken vor Glück, daß der berühmte, von aller Welt verwöhnte Künstler mich anbetete, vor mir jungem Dinge auf den Knien lag! War es nur, weil ich sonst nicht sein werden konnte, war es vielleicht auch wirklich, wie er später behauptete, eine Selbsttäuschung, die ihm eine echte Liebe zu mir vorgaukelte – kurzum, er heiratete mich. Er, der Günstling der Frauen, dem sie alle sonst zugefallen waren ohne diese überflüssige Formalität.«

Eine unsagbare Verachtung klang aus ihrer Stimme.

»Ich hatte ja damals natürlich von all dem keine Ahnung. Ich glaubte, einer ewig währenden Seligkeit entgegenzugehen. Und in den ersten Monaten unserer Ehe – ich muß es anerkennen – war mein Mann auch von einer mich wahrhaft berauschenden Liebenswürdigkeit und Zartheit. Er trug mich auf Händen, er vergötterte mich – ich war das glückseligste Geschöpf auf Gottes Erdboden.«

Eine kleine Pause trat ein; dann fuhr sie mit ernster Stimme fort:

»Bald aber kam das Unglück; mit der Zeit, wo das Kind sich ankündigte. Ich war sehr zart, und der Arzt verlangte größte Schonung für mich. Das aber war ein tiefer Verdruß für meinen Mann. An so etwas hatte er beim Heiraten nie gedacht. Er war ein krasser Egoist, eine Natur, die außer seiner Kunst nur ein leidenschaftliches Aufgehen in Genüssen kannte. Hätte es immer so weiter gehen können wie im Anfang, wo er mit mir seinen unvernünftigen Kultus treiben konnte, möglich, daß unser Glück von Dauer geblieben wäre. So aber kam eine große Enttäuschung und Unbefriedigung über ihn; er wurde nervös, reizbar, später unbeschreiblich rücksichtslos, ja brutal gegen mich, und endlich kam, was kommen mußte: er nahm seine alten Gewohnheiten wieder auf – er suchte bei fremden Frauen, was ihm die eigene nicht bieten konnte.«

Sie hatte, während sie so sprach, es vermieden, ihn anzusehen, und auch er hatte zartfühlend seinen Blick vor sich hingerichtet.

»Arme, arme Frau!« Leise klangen nur die Laute seiner weichen, tiefen Stimme an ihr Ohr. »Und in dieser Seelenverfassung schenkten Sie seinem Kinde das Leben?«

»Ja!« Ein dumpfer, stöhnender Laut brach sich von ihren zusammengepreßten Lippen, es war wie ein verspätetes Echo all des unsagbaren Jammers, der damals ihre Brust zerrissen hatte.

Nun zog es seine Blicke unwiderstehlich zu ihr hin. Wie selbstverständlich griff er zu ihrer Linken, und wie bei einer Patientin hielt er diese kalte, zuckende Frauenhand zwischen seinen Fingern, die mit sanftem, streichelnden Druck ihr tröstend Ruhe geben wollten. Und es war ihr wirklich, als fühle sie es lindernd und wohltuend, aus seinen festen, ruhigen Händen zu ihr überströmen. Ein warmes Dankesgefühl gegen ihn quoll heimlich in ihr auf.

Gefaßt zog sie nach einigen Augenblicken ihre Linke von ihm zurück und, sich aufrichtend, tief Atem holend, erzählte sie weiter:

»Lassen Sie mich über die schwerste Zeit meines Lebens schnell hinweggehen. Erst hoffte ich noch immer, meinen Mann zurückgewinnen zu können – ich wäre ja bereit gewesen, um meiner aufrichtigen Liebe willen, ihm alles zu verzeihen. Aber ich mußte allmählich erkennen, daß der Bann, in den ich ihn einst gezogen hatte, für immer zerrissen war. Da hoffte ich wenigstens noch, daß er um des Kindes willen sich besinnen würde. Doch auch dies Hoffen war vergeblich. Sein Kind war ihm nicht nur gleichgültig, nein, er haßte es fast – war es doch nur eine Fessel, die ihn unlöslich an mich knüpfen sollte. Um so toller trieb er es daher nur, schließlich so rücksichtslos und schamlos, daß meine Frauenehre dem Gespött aller preisgegeben war. Da beschwor ich ihn, wenn er schon mich nicht liebte, mich doch als die Mutter seines Kindes zu achten und zu schonen, aber ein höhnisches brutales Wort war die Antwort. Er gab mir klar zu verstehen, daß ich ihm schon gerade genug zur Last sei. Seine Freiheit, seine Zukunft habe er durch diese spießbürgerlichen Eheketten verscherzt – er wolle kein Wort mehr hören!«

Ein Zittern erschütterte ihren Leib noch jetzt mit der Erinnerung an diese Schmach, und gequält fuhr sie fort:

»In dieser Stunde erstarb der Rest meiner Liebe für ihn. Ich haßte, ich verachtete ihn seitdem; aber dennoch blieb ich bei ihm – und das war das furchtbarste Opfer, das ich mir auferlegte! – ich blieb bei ihm, um des Kindes willen. Es sollte mich nicht dereinst mit stillem Vorwurf nach seinem Vater fragen. Aber diese entsetzlichen Jahre haben mich innerlich zugrunde gerichtet. Ich war ja wie ein Hund, der trotz tagtäglicher Fußtritte bei seinem Herrn in sklavischer Treue verweilt. Ich konnte mich selbst nicht mehr achten, ich hatte einen Abscheu vor mir, und dennoch, dennoch hielt ich aus!«

»Und was alles in jener Zeit an Eklem sonst noch an mich herankroch. Mein Unglück war ja stadtbekannt, da hielt es jeder der Herren unseres Verkehrs für sein gutes Recht, sich der ›armen, kleinen Frau‹ zu nähern, um ihr auf seine Art Trost zu spenden! – Ah!« es flammte sprühend in ihren Augen auf, wie sie sich nun ihm leidenschaftlich zuwandte, »ich habe die Männer verachten gelernt, noch mehr fast als jene Frauen, die an meinem Unglück Schuld trugen!«

In heftigster Erregung hob sich ihre Brust.

»So ist Ihnen also nichts erspart geblieben!« Fast erschüttert sagte er es. »Aber wie wurden Sie endlich von jenem Elenden frei?«

»Er lief davon. Er!« Mit hohnvollem Auflachen stieß sie es aus. »Das Leben an meiner Seite wäre ihm unerträglich – der Künstler in ihm ginge darunter zugrunde! Mit einer jener Seelenfreundinnen, die sich seiner so opferfreudig annahmen, ging er in die Welt hinaus, zu einer großen Konzerttournee im Auslande. – Erst brach ich fast zusammen unter diesem letzten Schlage. Dann aber kam es über mich wie ein Gefühl der Erlösung: so war ich also denn nun wirklich endlich frei von ihm! Ich hätte auf meinem Platz ja ausgehalten bis zum Umsinken, aber er selbst hatte die Trennung herbeigeführt.«

»So hatte ich mir vor meinem Kinde denn nichts vorzuwerfen, und ich klagte nun meinerseits auf gerichtliche Scheidung der Ehe, die er ja bereits tatsächlich aufgelöst hatte. Da es sich um bösliches Verlassen handelte – jene anderen Vergehen wollte ich nicht zum Gegenstande eines skandalösen Prozesses machen – so dauerte die Entscheidung lange, vor Jahresfrist erst ist daher das Urteil gesprochen worden, das ihm die Schuld beimaß und mir das Kind beließ. – Das war denn das Ende.«

Mit einem tiefen Seufzer klang ihr trauriger Bericht aus. Die Erinnerung an jene Leidenszeit hatte all das schlummernde Weh in ihrer Brust wieder wachgerufen, daß es in tausend Wunden qualvoll brannte; und dennoch war es ihr eine wohltuende Erleichterung, daß sie darüber gesprochen hatte. Zum erstenmal! Noch nie hatte je ein Mensch von ihr all das gehört.

Schweigend ging ihr Begleiter neben ihr her, tief gesenkten Hauptes; plötzlich aber blieb er stehen und hielt ihr beide Hände hin.

»Halten Sie mein Schweigen nicht für Teilnahmslosigkeit. Im Gegenteil –« aus seinen Augen leuchtete es jetzt warm auf, und seine Stimme war bewegt – »ich bin tief ergriffen von Ihrem Geschick, was hat das Leben Ihnen getan. Sie arme, arme Frau! wenn ein Wunsch aus innerstem Herzen helfen könnte, so möchte ich in dieser Stunde vom Himmel alles Gute für Sie erbitten. Könnte ich Ihnen doch irgendwie dienen! Aber wie traurig, daß ich Ihnen nichts geben kann.«

»Sie haben mir viel gegeben,« mit innigem Dank drückte sie seine Hände, »mit Ihrer Teilnahme, Ihrem Verständnis. Ich habe mich nach solcher Aussprache ja jahrelang gesehnt.«

Sie hatte sich wieder frei von ihm gemacht und begann nun langsam den Weg am Strand nach der Stadt zurückzugehen.

»In Ihrer Heimat haben Sie niemanden, zu dem Sie sich aussprechen könnten?« so nahm nach längerem Stillschweigen der Arzt das Gespräch wieder auf.

»Keinen,« erwiderte Frau Söllnitz. »Sogenannte gute Bekannte zu Dutzenden – aber niemanden, dem ich mein Inneres zeigen könnte.«

»Nun verstehe ich freilich Ihr Wort vorhin, wirklich. Sie haben recht. Man kann mitten in der Gesellschaft einsamer sein als in der Wildnis.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her; dann fragte er wieder:

»Sie haben diese Reise angetreten, um einmal ganz loszukommen von der Vergangenheit, um sich abzulenken und mit neuen Eindrücken zu füllen?«

Sie nickte. »Ja, ich hoffte, daß die großzügige Schönheit des Nordens mir wohltun würde.«

»Aber, Sie sind enttäuscht?«

»Das nicht. Nur, daß mir der Schwarm, mit dem man leider reist, den Genuß stört und mich häufig wieder gerade in all jene Nichtigkeit hinabzieht, der ich so gern entronnen wäre.«

»Das verstehe ich wohl,« pflichtete er ihr bei. »Schade, daß Sie nicht länger hier verweilen. Dann hätten Sie sich frei machen müssen von Ihrer Gesellschaft und ich hätte Ihnen das Innere dieser Insel gezeigt. Sie ist reich an grandioser Schönheit; nur braucht man Wochen, um sie recht kennen zu lernen.«

»O, wie schön hätte das sein können!« Sehnsuchtsvoll leuchtete es ihn aus ihren dunkeln Augen an. »Ja, mit Ihnen – unter Ihrer Führung! Das könnte ich mir herrlich denken. Aber leider – übermorgen geht unser Schiff schon wieder in See.«

Unwillkürlich richtete sie die Blicke hinaus in die Bucht, wo der dunkle Rumpf der »Hamburg« mit seinen feinen Formen sich deutlich von dem hellen Wasserspiegel der See abzeichnete.

»Schon übermorgen?« Ihr schien, als ob ein lebhaftes Bedauern aus seinen Worten klang. Dann sah er langsam zu ihr hin. »Es ist zwar nur eine Galgenfrist, aber lassen Sie sie uns nützen, wollen wir morgen zusammen reiten? – In ein prächtiges Gebirgstal, da drüben hinter jenen Höhen?«

Er wies über die Bucht hinüber.

Freudig leuchtete es in ihrem Blick auf.

»Von Herzen gern, wann wollen wir aufbrechen?«

»Schon früh; es ist eine gute Tagestour, wollen Sie um acht am Magazin sein, wo wir uns gestern trafen? Ich besorge Pferde und Proviant.«

»Alles, was Sie wollen!« erwiderte sie, indem sie ihn mit frohen Augen anstrahlte. Die Freude auf die verlockende Partie hatte wieder einen rosigen, verjüngenden Hauch auf ihre Wangen gezaubert, und elastischer schritt sie aus. »Ich vertraue Ihnen alles an – selbst die Versorgung meines Magens! Das ist doch gewiß ein Beweis von Vertrauen?«

Ihr schelmischer Ton hellte auch sein Gesicht auf.

»Ich hoffe, mich Ihres Vertrauens würdig zu erweisen, und werde Ihnen morgen mit einem echt isländischen Reitermahl aufwarten.«

»O wie famos!« lobte sie. »Sie spannen meine Erwartungen ja immer gewaltiger. Ich werde diese Nacht kein Auge zutun, passen Sie auf. – Aber, sehen Sie!« sie wies vor ihnen auf den Hafen, wo sich auf dem Landungssteg eine dichte Schar von Menschen drängte. »Das Konzert ist aus, unsere Boote gehen von Land. Ich muß mich eilen.«

Schneller schritten sie zu. In der Tat war die Pinaß mit vier großen Booten im Schlepp bereits abgedampft, als sie am Steg anlangten. Aber die Motorbarkasse lag noch dort, um die Nachzügler aufzunehmen; auch sie war schon fast gefüllt.

»Nun, Gott sei Dank!« scherzte Frau Söllnitz, als sie, auf seine Hand gestützt, in das Fahrzeug hinabstieg. »So brauche ich doch nicht auf Island zu biwakieren, wie ich schon gefürchtet hatte.«

Sie stand nun unten und reichte ihm noch einmal zum Gruß die Hand hinauf.

»Gut' Nacht denn, und auf Wiedersehen morgen, Herr Doktor. Punkt acht Uhr bin ich zur Stelle!«

Ihr Auge winkte ihm noch einen heimlichen Gruß zu. Dann machte die Barkasse los und schoß geschwind den Gefährten nach.

Schon weit draußen, drehte sich Frau Söllnitz noch einmal nach Land um. Täuschte sie sich, oder stand er da wirklich noch allein auf der Landungsbrücke? Gern hätte sie, sich zu vergewissern, ihm mit dem Taschentuch hinübergewinkt; aber sie scheute die verwunderten Blicke ihrer Reisegefährten. So ließ sie es; aber ihr Sinnen flog hinüber zu ihm, wie sie so gedankenversunken dasaß.

 


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