Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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VIII.

Helles Jauchzen eines Kinderstimmchens und dazwischen ein tieferes, wohltönendes Frauenlachen tönten an Amthors Ohr, wie er sich dem Ende des Ganges näherte. Etwas überrascht bog er um die Ecke, und freudig überflog es seine Züge.

»Ah – da sind Sie ja! Schönen guten Morgen! Ich sah mich schon überall nach Ihnen um. Hier konnte ich Sie allerdings kaum vermuten.«

Amthor trat grüßend auf Frau Söllnitz zu, die er eben auf dem kleinen Deckplatz hinter der zweiten Kajüte bei seiner über das ganze Schiff ausgedehnten Morgenpromenade entdeckt hatte, wie sie spielend neben einem Kinde auf dem Boden kauerte, von fremden Augen unbeobachtet. Nur noch eine ihm fremde weibliche Erscheinung, vermutlich die Bonne des kleinen Mädchens, war zugegen.

Die junge Frau, ihm abgewandt, war bei dem Klang der Männerstimme unwillkürlich aus ihrer zwanglosen Haltung aufgefahren. Nun aber, da sie ihn sah, streckte sie ihm mit frohem Lächeln die Hand hin.

»Guten Morgen, lieber Herr Doktor! Also haben Sie unser Versteck doch aufgespürt! Wir halten hier nämlich immer unsere Spielstunde ab, meine süße Anne-Marie und ich. Gelt, mein Herzblatt?« Und sie drückte zärtlich das allerliebste, in duftige Spitzen und Rosa gehüllte kleine Geschöpfchen an sich, das mit den Ärmchen ihre Knie umschlang und so, das goldblonde Köpfchen an sie geschmiegt, mit den großen braunen Augen verwundert auf Amthor schaute.

»Bitte, lassen Sie sich nicht stören,« bat er. »Ihre kleine Freundin soll heute nicht zu kurz kommen. – Guten Tag, mein Kleinchen! Bekomm' ich auch ein Händchen?«

Das Kind sah erst einen Augenblick dem großen fremden Mann ein wenig verschüchtert in das bärtige Gesicht; dann aber bot es ihm langsam die Rechte.

Amthor nahm vorsichtig die zarten, weißen Fingerchen in seine große, sonnengebräunte Hand. Sehr freundlich, fast zärtlich blickte er auf das reizende, elfenhaft feine Geschöpfchen nieder.

»Was für ein bildhübsches Kind,« flüsterte er leise, einen Blick zu Frau Söllnitz sendend. »Es gehört zur Reisegesellschaft?«

»Ja – das Töchterchen eines jungen Ehepaares aus Hamburg,« nickte sie und drückte dann liebkosend das Gesichtchen der Kleinen fester an sich. »Sie ist ja auch meine ganze Seligkeit, mein Feenprinzeßchen, mein einziges!« Und in aufwallender Zärtlichkeit beugte sie sich plötzlich nieder und küßte das Kind leidenschaftlich.

Es war ein reizendes Bild, die anmutige junge Frau in dieser mütterlich-innigen Anwandlung und das allerliebste kleine Mädchen, das nicht minder zärtlich seine Ärmchen um ihren Nacken geschlungen hatte.

»Liebe, süße Tante Eva!« schmeichelte die Kleine und bat dann: »Spielst du nun weiter mit mir?«

Aber nun trat das Kinderfräulein dazwischen.

»Nein, Anne-Marie, komm! Du darfst die Herrschaften nicht stören.« Sie machte die betrübt dreinsehende Kleine von Frau Söllnitz los.

»Aber lassen Sie doch,« wehrte Amthor freundlich. »Sie stört uns ja gar nicht.«

Doch das Fräulein beharrte auf ihrem Entschluß, anscheinend ein wenig pikiert. Wahrscheinlich hatte sie es verletzt, daß ihr der fremde Herr nicht vorgestellt worden war. Es wäre auch Zeit, daß Anne-Marie ihr Frühstück erhielte, erklärte sie und nahm das Kind mit sich fort.

Amthor und Frau Söllnitz sahen ihm beide nach, wie es mit den zierlichen Füßchen in weißen Glacéstiefelchen neben der schnell sich entfernenden Gardedame hintrippelte.

»Ist es nicht etwas Himmlisches – so ein süßes, kleines Geschöpf?«

Mit träumerischem, sehnsuchtsvoll aufleuchtendem Blick fragte es die junge Frau, während ein leichtes Seufzen ihre Brust hob.

Amthor nickte; auch er war ja ein solcher Kindernarr. Wie oft träumte er nicht in seiner trübseligen Einsamkeit von einem sonnigen Kinderlachen und kleinen, weichen Händchen, die ihm Leben ins stille Haus schaffen würden.

»Ja,« nickte er ernst mit einem Blick ins weite und mit einem leisen Anflug von Melancholie im Ton, »Beneidenswert, wer das sein eigen nennt! – Nun, Sie haben ja solch Glück – dies wenigstens.«

Es kam keine Antwort.

Überrascht sah er daher nun auf sie und bemerkte einen schmerzlich-bitteren Zug in ihrem Gesicht.

»Ihren Knaben!« wiederholte er deutlicher. »Der Trost ist Ihnen doch bei allem geblieben.«

Sie erwiderte noch immer nicht gleich; es war, als ob sie ein quälender Gedanke bedrücke, den sie sich aber scheute, auszusprechen.

»Ein Knabe kann einer Mutter doch nie das sein, was ein Mädchen ist,« antwortete sie schließlich.

Er dachte eine Weile nach.

»Gewiß, ich gebe zu, ein Junge ist nicht so anschmiegsam, so zärtlich. Aber trotzdem – ich weiß doch, wie ich an meiner eigenen Mutter, gerade an der Mutter, gehangen habe, bis ins Mannesalter hinein. Sie war meine beste Freundin und Vertraute; über die zartesten Dinge gerade, wo mich der Vater nicht verstand, da sprach ich mich nur mit ihr aus. Mit keinem Menschen sonst auf der Welt! – Ich meine, solch inniges Vertrauen, solch ernstere Zärtlichkeit müßte ein Mutterherz doch auch glücklich machen.«

Er hatte sie beim Sprechen angesehen. Nun nahm er plötzlich wahr, wie es in ihren Zügen zitterte wie von mühsam verhaltener, tiefster Bewegung. Besorgt fragte er da:

»Was haben Sie? Habe ich unwissentlich irgend etwas gesagt, das Ihnen wehe getan hat? – Bitte, sagen Sie es mir doch!«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Aber er sah es ihr an, daß sie ein tiefes Leid, das nach erleichternder Aussprache schrie, gewaltsam wieder hinunterkämpfen wollte. Da neigte er sich ihr näher zu, und leise klang seine Frage:

»So wenig Vertrauen zu mir?«

Ein letztes Aufbäumen ihres Willens noch – es schien ihr furchtbar, das in Worten laut zu bekennen, was doch schon längst mit Flammenschrift in ihrem Herzen brannte – dann entfuhr es ihr wie ein unterdrückter Schrei tiefster Qual:

»Ich habe mein Kind innerlich verloren! – Verstehen Sie, was das heißt?«

Ein Blick voll unsagbar tiefen Leids traf ihn zugleich.

Erschüttert sah sie Amthor an.

»Sagen Sie mir alles,« bat er leise.

»Ich habe mein Kind so namenlos geliebt!« beteuerte sie unter tränendem Blick. »Sie wissen ja, was ich um seinetwillen getragen habe.«

Er nickte ihr langsam zu, sich ihrer trostlosen Eheschilderung damals in allem erinnernd.

»Gott, was war das Kind damals süß, und wie hing es an mir als kleines Geschöpfchen! Ich war ja sein ein und alles. Noch bis zu seinem sechsten Lebensjahre hin – aber dann kam es anders. Es war wohl der Einfluß der Schule – ganz gleich, ich mußte mit Schrecken bemerken, mein Junge ward ein ganz anderer. All das Zarte, Liebe – er war fast wie ein Mädchen früher gewesen – fiel von dem Kinde ab. Er wurde so hart und unlenksam, immer verschlossener und unliebenswürdiger. Ich war tief bekümmert, ganz unglücklich darüber. Ich versuchte alles, alles, erst in Liebe und Güte, dann mit größter Strenge – aber nichts half! Seine Eigenheiten traten nur immer schärfer hervor – ich mußte mit Entsetzen erkennen: ganz das Bild seines Vaters, des rücksichtslosen, hartherzigen, brutalen Menschen, den ich schließlich hassen gelernt hatte.«

»Als ich das erkannte – mein Gott! war ich eine todunglückliche Frau. Ich sank auf meine Knie und flehte zu Gott: nur das nicht noch! Laß mich nicht auch mein Kind noch verlieren! – Und von neuem rang ich um seine Liebe. Ich beschwor es unter Tränen, sich zu ändern, wieder lieb und gut wie früher zu sein, ja nicht nur um mich, sondern um seiner selbst willen – aber alles umsonst! So etwas Kaltes, Gleichgültiges, Eindrucksloses wie an diesem Kinde ist mir noch nicht vorgekommen. Mitunter konnte mich dieses störrische, herzlose Wesen zur Verzweiflung, fast zum Wahnsinn treiben – ich schäme mich nicht, es zu sagen, ich wußte bisweilen in solchen Momenten nicht mehr, was ich tat: ich habe das Kind furchtbar gestraft! Aber alles war ihm gleich, ob ich es kniefällig beschwor oder sinnlos züchtigte.«

In völliger Erschöpfung schwieg Eva Söllnitz, dann fuhr sie fort:

»Es ging so lange, bis ich nicht mehr konnte. Mein Arzt riet mir dringend, meine Nerven zu schonen und mich nicht mit der Erziehung dieses völlig unzugänglichen Jungen gänzlich aufzureiben. Immer und immer wieder gab ich mir noch eine letzte Frist, hoffte immer noch eine Wendung zum Besseren. Ich konnte mich ja nicht dazu entschließen, mein Kind in fremde Hände zu geben. Schließlich aber – nach einem neuerlichen Vorfall, der mich wirklich krank niedergeworfen hatte, – mußte es geschehen, was ich nie für möglich gehalten hätte: ich gab den Jungen aus dem Hause, zu einem seiner Lehrer.«

»Dort ist er nun schon fast ein Jahr. Aber es hat sich nichts geändert; auch dies letzte hat seinen Starrsinn nicht brechen können. Er fragt nicht nach mir, und wenn ich ihn mir kommen lasse, tut er, als ob nichts geschehen wäre. Es seien ja so viele Jungen in Pension! Er empfindet das Trostlose der Situation gar nicht.«

Wieder machte sie eine Pause; dann endete sie:

»Anfangs hab' ich geglaubt, ich würde das nicht überstehen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich ja auch daran: ein Kind zu haben – und doch keines.«

Wie trostlos klang ihm das furchtbare Wort aus ihrem Munde!

Müde sagte sie dann noch das letzte:

»Und nun ist es überwunden. Meine Mutterliebe ist erstorben. Ich tue an dem Kinde, was ich für meine Pflicht halte, aber ohne jedes wärmere Interesse. Es ist mir ganz gleichgültig geworden. Es ist, als ob es nicht mehr mein eigenes wäre.«

Eva Söllnitz endete, und mit einem unbeschreiblich müden Ausdruck blickten ihre Augen vor sich hin ins Weite.

Amthor war im Innersten ergriffen. Er konnte dieses noch junge Gesicht nicht sehen, aus dem so alle Lebensfreude geflohen war. Wo war all der frische Mut wieder hin, den er gestern in ihr angefacht? Ihm war, als müsse er ihre in Gram und Verzweiflung erstarrte Seele wachrütteln. Nein, nein! Es konnte ja nicht in ihr gestorben sein, das höchste, das weiblichste aller Gefühle – in todesähnlichem Schlummer nur lag es. Und so kam es denn beschwörend von seinen Lippen:

»Nicht doch! Nicht doch! – Nicht so sprechen, liebe, gute Freundin!« Er griff nach ihren kalten Händen, »Versündigen Sie sich nicht am Höchsten der Natur: die Mutterliebe stirbt nicht – sie kann nicht sterben!«

Er schüttelte und preßte ihre regungslosen Hände, als könne er so auch ihre starre Seele erwärmen; aber sie blickte ihn nur mit einem schmerzlichen, hoffnungslosen Lächeln an.

»Ich weiß es besser.« Langsam entzog sie ihm die Hände.

»Aber das wäre ja furchtbar!« Heimliche Angst stand in seinen Augen. »Dann würde Ihnen ja der Boden unter den Füßen fortgerissen!«

Sie sah ihn an mit einem Blick, den er nie vergessen würde.

»Ich habe ihn längst verloren.« Mit einer ihn erschreckenden Ruhe sagte sie es. »Wurzellos bin ich, schwanke hin und her, und wer weiß, wohin ich falle.«

Er zuckte zusammen, sagte aber nichts. Nur seine Augen umfaßten ihre zarte, süße Frauenerscheinung, das feine Gesicht, trotz seiner Müdigkeit so unendlich sympathisch, war es denn denkbar? Diese von Haus aus so hochgesinnte Seele wirklich flügellahm – im Begriff, die Beute des Lebens zu werden, das sie todesmatt gehetzt hatte?

Eva Söllnitz aber fuhr fort, im gleichen, erschreckend ruhigen Tone:

»Ist es denn auch ein Wunder, daß dem so ist? Eine Stütze nach der anderen hat mir das Schicksal fortgerissen – nun auch noch den letzten Halt, an den ich mich geklammert hatte, an dem ich den armseligen Rest meines Lebens aufrichten wollte. Wozu bin ich überhaupt noch da? Für wen leb' ich und halt' ich mich noch aufrecht? – Wirklich, oft frag' ich es mich: warum kämpf' ich bloß immer noch gegen das Leben, das mich ganz niederreißen will? Ich bin ihn oft so müde diesen ewigen Kampf, den mir doch keiner lohnt. Ich könnte es ja doch so viel bequemer haben, wenn ich wirklich die wäre, zu der mich die Welt mit Gewalt machen möchte.«

»Frau Eva!« Die quälende Angst um sie trieb ihm den Namen auf die Zunge, den er vorhin von der Kleinen kennen gelernt hatte, und die vertraute Anrede, die Qual um sie, die aus seiner Stimme zitterte, sie erreichten, was seinen Worten bisher nicht gelungen war. Ihre Seele erwachte aus ihrer Starrheit. Ein leiser Hauch von Rot flog über ihre Wangen, und sie strich sich mit beiden Händen über die Schläfe. Erst jetzt kam ihr zur Besinnung, was sie da eben, von ihrer verzweiflungsvollen Stimmung fortgerissen, geäußert: nachtdunkle Empfindungen, die sie sonst stets im tiefsten Herzen verschlossen hatte, nun hatte sie sie mit lauten Worten preisgegeben – vor einem Manne preisgegeben.

Der leise Hauch auf ihren Wangen ward plötzlich zum brennenden Rot, und verwirrt wandte sie den Blick vor seinen klaren, sie tief durchdringenden Augen ab. Ihr war, als hätte sie sich vor ihm entblößt.

Er aber sprach auf sie ein, in einem ernsten, innig mahnenden Ton:

»Sie fragten eben, für wen Sie kämpfen sollten? Nun, ich sage Ihnen, wenn Sie sonst wirklich niemanden wüßten, an dessen verehrungsvoller Achtung Ihnen gelegen wäre: um Ihrer selbst willen! Es wäre ja der furchtbarste Irrtum, wenn Sie wähnten, Sie könnten leben wie jene anderen Frauen in Ihrer Lage. Sie nicht! Nur allzubald würde für Sie ein Erwachen aus dem Rausch des Vergessens kommen und dann – ein Ende mit Schrecken.«

Ein leises Zittern erschütterte ihre, ihm halb abgewandte Gestalt. Ihr war, als sähe sie sich bereits in jener Stunde furchtbaren, zu späten Erwachens. Und plötzlich standen Tränen in ihren Augen. Sie kehrte sich ihm zu und streckte ihm beide Hände hin:

»Sie sind so gut zu mir. – Haben Sie Dank, tausend innigen Dank für Ihre Worte! Und vergessen Sie das vorhin Gesagte. Ich war nicht bei Besinnung, als ich so sprach – mein besseres Ich hatte keinen Anteil daran. Bitte, bitte – glauben Sie es mir!«

Er sah sie an mit einem stillen, weichen Blick, voll tiefer Güte, wie ein Vater, der tröstend ein weinendes Kind in seine Arme nimmt.

»Es bedarf dieser Versicherung nicht,« sagte er mild, während ihre Hände ihn einen Augenblick beschwörend preßten. »Ich wußte, daß es Ihnen nicht ernst mit solchem Wunsch sein konnte.« Doch dann fuhr er mit festem Nachdruck fort: »Aber sie sollen auch nicht erst spielen mit solchen Gedanken, Sie dürfen nicht mehr wanken – Sie müssen wieder fest Wurzeln schlagen.«

Das alte bittere Lächeln flog da wieder um ihre Mundwinkel.

»Nein, nicht diese hoffnungslose Resignation!« drängte er, »Sie haben kein Recht, schon am Leben zu verzweifeln, noch so jung und –«

Er stockte; aber seine sie zärtlich anleuchtenden Blicke vollendeten den Satz.

Sie schüttelte wehmütig den Kopf:

»Was kann mir das Leben noch bringen?«

»Vieles – unendlich Schönes! Es hat ja so viel an Ihnen gut zu machen.« Und als sie noch immer zweifelnd abwehrte, fuhr er eindringlicher fort, während seine Augen mit inniger Wärme auf ihr ruhten. »Es wird Sie entschädigen – glauben Sie mir – in dem, wo es Sie so bitter enttäuschte. Sie werden die Stütze, die Sie brauchen, finden in der Person eines charaktervollen, großdenkenden Mannes, der die Wunden an Ihrem Herzen heilen wird, die ein Unwürdiger Ihnen schlug.«

Ein hartes Auflachen wollte sich ihr entringen. Sie hatte den Glauben verloren, daß es solche Männer gab. Und wenn wirklich – wen würde die Frau reizen mit dem Kinde eines anderen? Die Frau, die Jugend und Unbefangenheit verloren hatte, die im Leid bitter und hart, scharf und skeptisch geworden war? Nein, nein! Solch Hoffen betrog sie nicht mehr.

Amthor ahnte ihre Gedanken.

»Sie müssen wieder vertrauen und hoffen lernen – Sie müssen! Aber ehe Sie an alles andere denken – Sie müssen erst Ihr Kind wiedergewinnen!«

Frau Eva machte eine müde, hoffnungslose Gebärde; aber er ließ sich nicht abschrecken. warmherzig, überzeugt, sprach er auf sie ein:

»Vorhin, wie Sie mir so alles erzählten, da drängte sich mir die Erkenntnis auf: es mußte ja eigentlich so kommen. Das arme Kind hat nie recht einen Vater gehabt, und was es von ihm sah, war ein schlechtes Vorbild. Dazu noch vererbte Anlagen – kann es einen da wundern, wenn es sich schließlich so entwickelt hat?«

»Mag sein – gewiß! Das alles hab' ich mir selbst ja hundertmal gesagt, und darum hab' ich es ja auch immer wieder von vorn mit ihm versucht, bis ich eben am Rande mit meinen Kräften – bis alles aus war.«

»Dies Wort darf eine Mutter nicht kennen,« verwies er sie ernst, aber freundlich. »Die Liebe höret nimmer auf! Das ist das wahre Mutterevangelium. – Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das arme Kind dauert! Sie dürfen sich ihm nicht entziehen – Sie wissen ja nicht, was Sie ihm damit antun!«

Mit steigender nervöser Erregtheit hatte sie ihn angehört, nun aber brach es gequält von ihren Lippen und mit bitterem Vorwurf:

»Das Kind! Immer nur das Kind! Das dauert Sie, mit dem haben Sie Mitleid! Dem zuliebe soll ich mich von neuem aufreiben und zermartern! – Aber denken Sie doch auch einmal an mich! Ich war am Ende, ich schwöre es Ihnen! Wäre mein Arzt doch hier, der meinen elenden Zustand besser kannte! Er würde Ihnen bezeugen, wie weit es mit mir war. Oder halten Sie mich für herzlos, für eine kalte Egoistin? So wahr ich hier stehe, ich wäre bereit gewesen, mein Leben für mein Kind zu geben, könnte ich es damit retten – ja noch heut tät' ich es! Aber soll ich mich denn nutzlos aufreiben, meine Nerven zerrütten, vielleicht unheilbarer Erkrankung verfallen, ohne daß ich ihm ein Atom damit helfen kann? Ja, soll ich das? verlangen Sie das von mir?«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, im Tiefsten aufgewühlt. Da regte sich der Arzt in ihm. Er sah, daß er es hier wirklich mit einer nahezu erschöpften armen Frau zu tun hatte, an die er jetzt solche Anforderungen nicht stellen durfte. Beruhigend sprach er ihr da zu:

»Nein, nein! Das wäre ja brutal und sinnlos zugleich. Ich ahnte ja nicht, daß es in der Tat so mit Ihnen steht, wenn man Sie zu anderen Stunden so frisch und elastisch sieht –«

Sie lachte herb auf. »Selbstzucht, lieber Herr Doktor! Mir ist manchmal ganz anders zumute, als Sie alle glauben.«

Er nickte. »Ja, ja – ich weiß: Frauen sind Heroen im Verbergen von Leiden.« Mit innigem Mitleid überflog er ihre schlanke, zarte Erscheinung. »Ihr Arzt hatte ganz recht: Sie müssen jetzt erst einmal an sich selbst denken, selber erst wieder gesund und stark werden, dann wird sich Ihre Energie schon wieder von selbst melden. Dessen bin ich sicher.«

Sie lächelte nur still zu seinen Worten.

»Aber nun kommen Sie!« mahnte er. »Sie müssen sich ablenken von allen traurigen Gedanken. Da vorn lockt die Musik. Stürzen wir uns in die Wogen der Genüsse, und in einen frischen, fröhlichen Kampf mit Ihren ›Freunden‹! Das wird Sie aufmuntern! Nicht?«

Da brach es wieder heller aus ihren Augen.

»Nun sehen Sie!« scherzte er mit einem frohen Blick und schritt lebhaft mit ihr vorwärts. »Die Erde hat Sie wieder.«

 


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