Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Abseits von der lärmenden Gesellschaft saß Amthor, hart am Rande des jäh zur Tiefe abstürzenden Vorgebirges, das die nördliche Spitze Europas bildet, und starrte in die goldflüssige, weite See hinaus.

»Heute nachmittag war die »Hamburg« am Nordkap angekommen. Die lange Reise quer durch die arktische Wasserwüste war somit glücklich beendet, und der allergrößte Teil der Passagiere hatte erlöst aufgeatmet. Nun war man ja allen Fährlichkeiten entronnen. Von jetzt machte das Schiff ja nur noch Küstenfahrt bis Bergen hinab, in all die berühmten Fjorde Norwegens hinein, von den Schrecken eines abermaligen Sturmes war nun nichts mehr zu befürchten – Gott sei gedankt! Sorglos konnte man sich den Freuden der weiteren Reise hingeben.

So gestaltete sich denn der Aufenthalt hier oben auf dem Nordkap zu einem wahren Feste, zu einer Art Riesenpicknick.

Im milden Schein der Mitternachtssonne, bei einer Wärme wie an einem linden Sommertag, hatte sich alles ohne Mäntel und Plaids auf dem kahlen Felsen hingelagert, rings im Kreise um den primitiven Bretterpavillon herum, der während der beiden nordischen Saisonmonate hier oben in der Weltabgeschiedenheit zwei unternehmende Händler mit ungezählten Körben Sekt beherbergt.

Jeder sprach denn auch nun dem moussierenden Getränk zu, und eine allgemeine Animiertheit vereinte bald die ganze große Gesellschaft. Es herrschte eine Art Faschingsstimmung; die starren Schranken gesellschaftlicher Zurückhaltung fielen unmerklich nieder, und von Gruppe zu Gruppe sprang Scherz und Lachen zündend hinüber.

Nur eine blieb still inmitten all der rauschenden Fröhlichkeit ringsum: Eva Söllnitz. Sie hatte überhaupt unten auf dem Schiffe bleiben wollen, aber Mrs. Sanderham und der Kapitän hatten sie schließlich, halb mit Gewalt, gedrängt, mitzukommen. Sie müsse sich »aufrappeln« – das Alleinsein in ihrem Nervenzustande sei ihr ganz gewiß nicht gut! So war sie denn, dem Drängen endlich müde nachgebend, mit hinaufgestiegen; aber ohne jede innere Anteilnahme war sie nun hier oben, mit äußerster Anstrengung nur nahm sie an der Unterhaltung wenigstens so weit teil, daß es nicht auffiel.

Amthor war auch mit von der Partie gewesen, aber es hatte sich ihm keine Gelegenheit geboten, mit Eva Söllnitz allein zu sein, obwohl er mehrfach beim Aufstieg versucht hatte, das herbeizuführen. Schließlich hatte er die vergeblichen Versuche aufgegeben, und bald, nachdem sie oben angekommen waren und sich gelagert hatten, war er abseits gegangen. Der Lärm ringsum störe ihm die Stimmung, hatte er erklärt; er wolle das große Landschaftsbild eine Weile für sich allein genießen. So war er denn hinübergegangen nach dem Platze, wo sie ihn jetzt sitzen sah, unbeweglich in die Weite hinausblickend mit einem ernsten, traurigen Gesichtsausdruck.

In verzweiflungsvollem Sehnen flog Eva Söllnitz' Blick in unbewachten Momenten zu ihm hin. Was hätte sie darum gegeben, hätte sie hin zu ihm können, seine Hand ergreifen und sich an seiner Schulter ausweinen können! Nur das. – Sie meinte ja zu ersticken an all dem Weh, das auf ihr lastete. Mein Gott, wie unsagbar unglücklich war sie! Und wie leid tat er ihr! Sie konnte sich ja so in seine Seele versetzen: wie er sich zergrübelte über ihr verändertes Wesen, wie er aber keine Erklärung fand und sie daher für einfach unverständlich, für launenhaft oder charakterlos halten mußte.

Ach, das war ja das Allerfurchtbarste, so von ihm mißdeutet zu werden, – all das zu verlieren, was sie so stolz und selig gemacht hatte. Und das vor ihren Augen, ohne daß sie es ändern konnte. Es schrie ja freilich so leidenschaftlich in ihr, so qualvoll zu ihm hinüber: Wenn du wüßtest! Aber, sie mußte ja schweigen! Der Mund war ihr versiegelt durch die infame Art der Verdächtigung.

Oder sollte sie doch reden – ihm wenigstens andeuten, was man ihr getan? War sie nicht etwa zu übertrieben in ihrem Feingefühl?

Eva Söllnitz begann von neuem zu grübeln und zu grübeln. Eine Stimme in ihr rief ihr ja immer lauter und gebieterischer zu: Hinweg mit falscher Scham, willst du ihn dir nicht ganz verlieren! Was nutzt dir dein zartfühlendes Schweigen? Willst du selbst ihn damit von dir treiben? Rede, rede, ehe es zu spät ist! – Und doch konnte sie sich den Entschluß nicht abringen, wenn sie sich ihm mitgeteilt hätte, wäre es nicht gewesen, als ob sie ihm damit gleichsam die Pistole auf die Brust gesetzt hätte: Du siehst, wie die Leute deine Beziehungen zu mir auslegen. Willst du mich noch länger in dieser schiefen, mich aufs schwerste kompromittierenden Lage lassen? Werde dir klar über deine Gefühle für mich, und tue, was alsdann deine Pflicht ist!

Das war es ja, was sie fürchtete, und – nein, nein! – sie konnte es nicht. Lieber alles ertragen, als daß er von ihr glauben könnte, daß sie ihn mit solchem Mittel zu sich ziehen, ihn zu einer Erklärung nötigen wollte.

So blieb denn bei ihr alles auf demselben Punkt, trotz der fieberhaft sich jagenden Gedanken – es war eben nur ein Sichdrehen im Kreise, ein furchtbar ermattendes Abquälen, das nun wieder ein Zustand innerster Erschöpfung, stumpfen Hindämmerns ohne alles Denken, ablöste, ein Zustand, den Eva Söllnitz aber fast wie eine Erlösung gegen jenes verzweifelte Umtreiben der Gedanken empfand.

Die Zeit war hingegangen, es war um die zweite Morgenstunde. Der allgemeine Aufbruch erfolgte. Die kleine Gesellschaft, der Frau Söllnitz angehörte, und zu der auch Amthor wieder zurückgekehrt war, wartete auf den Rat des Kapitäns, bis alle übrigen den Platz schon geräumt hatten; der steile Abstieg »mitten in der Horde« sei wenig angenehm – er wisse das von seinen früheren Besuchen des Kaps her. So ging man denn erst, als der letzte Trupp der Gesellschaft schon ein ganzes Weilchen voraus war.

Den Schluß des kleinen Zuges machte Amthor und Mr. Sanderham, dessen Gattin mit Frau Eva ihnen vorauf ging. Eine halbe Stunde fast wanderte man über das Plateau des Gebirges hin, durch die starre Felsöde; die Kosten der Unterhaltung wurden fast ganz von Kapitän Neidhardt bestritten, der, mit noch einem Herrn voraufgehend, lebhaft in seiner humorvollen, drastischen Art erzählte, von früheren Nordlandsfahrten und einem Besuch in Spitzbergen.

So kam man an den Rand des Plateaus, das nun in einer tiefen Auskehlung zu der kleinen Meeresbucht darunter abfiel, wo, wie dunkle Punkte, die Boote lagen und weiter draußen auf der goldflüssigen Flut die »Hamburg« wie ein Kinderspielzeug schwamm.

Der Weg war ziemlich steil und durch loses Geröll etwas beschwerlich. Nach wenigen Schritten, wo der Pfad gerade in scharfer Biegung um einen Felsen führte, glitt denn auch Mrs. Sonderham schon aus, und ein kreischender Aufschrei rief nach Hilfe. Schnell war der Gatte bei ihr, noch vor den beiden Herren darunter, und sie klammerte sich ängstlich an ihn.

»Bleib bei mir! Laß mir nicht allein gehen. Dick, auf diese miserable Weg!« bat sie dringlich, und der gutmütige Gatte diente ihr gern als Stütze.

Eva Söllnitz blieb so einen Augenblick sich selbst überlassen; diese lang ersehnte Gelegenheit benutzte Amthor, um an ihre Seite zu treten. Mit geheimem Erbeben fühlte sie ihn herankommen. Nun war ja der Moment da, vor dem sie sich so bangte, dem sie so aus dem Wege gegangen war, und schon tönte ihr seine Frage im Ohr:

»Warum fliehen Sie mich, Frau Eva? – Was haben Sie gegen mich?«

Es klang aus seinen Worten eine so große Trauer; da konnte sie ihm nicht länger ausweichend

»Nichts gegen Sie!« versicherte sie, und ein beteuernder Blick traf ihn.

»Was dann aber?« Mit tiefster Sorge sah er auf sie. »Sie sind ja seit gestern ganz verstört.«

Ein letztes Zaudern noch, schwer atmete sie; dann gestand sie leise und stockend, den Blick vor sich auf den Boden heftend:

»Ich habe etwas Furchtbares erlebt. – Als ich mich gestern von Ihnen trennte und in meine Kabine kam – fand ich einen Brief –« es würgte ihr in der Kehle, »dieser Brief war anonym.«

»Wie?« Ein Ahnen schoß wie ein Blitz in ihm auf. »Anonym?«

Sie nickte nur schweigend in stummer Qual. Ach, wenn sie doch nichts weiter zu sagen brauchte!

»Nun versteh ich!« Er blieb in zitternder Erregung vor ihr stehen. »Dieser Brief enthielt Verleumdungen – Verdächtigungen gegen Sie?«

Wieder ein stummes Nicken. Aber es sagte ihm genug.

»Ah – diese Elenden! Diese –« ein unterdrückter Zornlaut entfuhr ihm, und fußstampfend ballte er die Faust nach der Gesellschaft, die drunten unterhalb des Felsvorsprungs, wie eine endlos lange Schlange sich auf dem Zickzackweg den Hang hinab zog. Dann aber kehrte er sich ihr wieder zu.

»Aber warum sagten Sie mir das nicht schon längst? Warum quälten Sie sich damit allein?«

Es kam keine Antwort, doch tiefer senkte sich ihr Haupt.

»Frau Eva.« Sehr ernst klangen seine Worte. »Sind wir denn nicht Freunde?«

Er sah, wie sie noch einmal mit sich rang; dann aber raffte sie sich entschlossen auf, als würfe sie eine falsche Scheu von sich, und blickte ihm voll ins Gesicht:

»Nun zwingen Sie mich zu sagen, was ich Ihnen hatte verschweigen wollen. Die Verleumdungen in jenem Briefe, sie trafen nicht nur mich, sondern – auch Sie!«

Einen Moment stand Amthor, noch ohne Verständnis; aber wie er jetzt ihr Haupt sich senken sah, wie eine flammende Röte auf ihren Wangen erschien, begriff er.

»Man hat Sie – man hat unsere Beziehungen –?

Sie zuckte, statt jeder Antwort, nur in sich zusammen.

Da kam, sein Herz erschütternd, das volle Verstehen über ihn: Um ihn hatte sie gelitten, die furchtbaren Qualen tödlich verletzten Frauenstolzes – allein, ohne jede Hilfe – gelitten bis zum Zusammenbrechen! Hatte er sie nicht getrieben, ihren vertrauten Verkehr frei vor aller Welt zu zeigen? Und nun hatte sie es büßen müssen!

Seine Augen begannen zu zittern. Wie sie, die Zarte, Schwache und doch so Tapfere, in frauenhafter Scham erglüht da vor ihm stand – so süß, so begehrenswert! Und all das, was in diesen Tagen an Sehnen in ihm zurückgedrängt worden war, das brach jetzt leidenschaftlich in ihm aus, brausend, unaufhaltsam, alle Vernunftsschranken hinwegreißend, wie ein aufbrandendes Meer.

»Eva – Eva!«

Ehe sie es hindern konnte, hatte er ihre beiden Hände ergriffen, und nun brannten seine wilden, inbrünstigen Küsse wieder und immer wieder auf diesen kalten, leidenszarten Händen.

In jähem Erschrecken erstarrt – das Herz stand ihr plötzlich still – gelähmt durch den über sie hinstürmenden Ausbruch seiner Leidenschaft, ließ Eva Söllnitz geschlossenen Auges, wie in einer seligen Ohnmacht, das sekundenlang über sich ergehen; sie wußte nicht, wie ihr geschah. Aber dann kehrte ihr die Besinnung wieder. Mein Gott, was tat er mit ihr?

Mit einem Ruck entriß sie ihm die Hände.

Da kam auch er aus seinem Taumel zu sich. Er richtete sich auf. Dann aber zuckte er plötzlich wie unter einem furchtbaren Schlage zusammen. Totenblässe erschien auf seinen Zügen, und seine Hand fuhr zur Stirn. Mein Gott – was hatte er getan! Er starrte mit fast entsetzten Blicken auf sie nieder, die in zitternder, selig-banger Erwartung, mit gesenkten Augen seines Wortes harrte, das ihr die volle Seligkeit bringen sollte.

Sie harrte, mit angehaltenem Herzschlag – aber das Wort kam nicht. Statt dessen drang jetzt ein dumpfer Laut wie ein unterdrücktes Stöhnen an ihr Ohr.

Erschreckt blickte sie auf. Da sah sie ihn vor sich stehen – keinen Tropfen Blut im Gesicht.

»Was ist Ihnen?«

Langsam sank ihm die Hand hernieder, ein Blick traf sie, der ihr das Herz zerschnitt, dann kam es tonlos von seinen Lippen:

»Ich bin zum Frevler an Ihnen geworden. – Mein Gott – wäre diese Stunde doch nie gekommen!«

Und abermals entrang sich ihm ein verzweifelter Laut.

Sie starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, entsetzt, wortlos. Sie verstand ihn nicht, aber sie fühlte es: Da war eben etwas Furchtbares zwischen sie beide getreten – im Augenblick höchster Seligkeit, wo das Glück sie schon gestreift hatte.

Die entsetzliche Pause dünkte sie eine Ewigkeit. Dann machte er eine Bewegung auf sie zu:

»Nun ist es geschehen, was nie hätte sein dürfen; denn ich bin ein Unfreier, der nicht das Recht hat, Liebe zu zeigen, und um Liebe zu werben. – Ich bin verheiratet, Frau Eva.«

»Wie –?«

Sie blickte ihn mit irren, weit geöffneten Augen an. Das konnte er doch nicht gesagt haben, was ihr da eben ihr Ohr vorlügen wollte!

Aber stumm bestätigend neigte sich langsam sein Haupt. Da war es ihr, als ob alles herum um sie sich zu drehen begann. Ihre Hand tastete wie nach einem Halt.

Amthor sah es und streckte die Rechte nach ihr hin. Doch sie raffte sich im selben Moment zusammen; es war, als schreckte sie vor der Berührung seiner Hand zurück. Es entging ihm nicht, und ein unbeschreiblicher Schmerz spiegelte sich in seinen Zügen.

»Verurteilen Sie mich nicht ungehört!« flehte er leise. »Sie wissen nicht, was mich diese Stunde kostet. Lassen Sie mich Ihnen alles sagen!«

Sie sah an ihm vorbei, hinunter in die Tiefe, mit einem leeren Blick, was konnte er ihr noch sagen? In ihrem Ohr tönte ja unausgesetzt das eine furchtbare Wort, das alle anderen überflüssig machte: Unfrei!

»Frau Eva!«

Seine bang bittende Stimme entriß sie ihrer Starrheit. Mechanisch begann sie sich zu regen. Ihr Blick fiel drunten auf die Gesellschaft; unterhalb des Felsenvorsprungs wurden jetzt auch ihre Bekannten wieder sichtbar, das Ende des langen sich herabwindenden Zuges. Es kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, wie weit zurückgeblieben sie hier waren, und unwillkürlich begann sie bergab zu gehen, des Weges achtlos, nur schnell, schnell den anderen nach.

Amthor schritt an ihrer Seite. Noch immer hatte er keine Antwort auf seine Frage.

»Sie wollen mich also nicht hören?« Eine unendliche Trauer klang aus seinen Worten.

Ja so – er hatte sie ja vorhin da etwas gefragt. Es kam ihr wieder in Erinnerung.

»Doch – aber nicht jetzt, vielleicht morgen – später.«

Mit müdem, gleichgültigem Ton, erwiderte sie es. Da sprach auch er nichts mehr. In todestraurigem Schweigen gingen sie beide nebeneinander her.

 


 << zurück weiter >>