Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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XV.

Die »Hamburg« lag im Hafen von Hammerfest, das sie in wenigen Stunden vom Nordkap aus erreicht hatte. Obwohl es noch früh am Morgen war, hatten sich doch alle Passagiere bereits wieder von dem so spät aufgesuchten Lager erhoben. Nach der langen Seefahrt lockte es jeden, endlich einmal wieder Kultur und Menschen zu sehen, wenn sie auch nur so anspruchslos waren, wie in diesem kleinen, weltabgeschiedenen Städtchen.

Das Schiff war wie ausgestorben. Amthor empfand es als eine Wohltat. Kein Schlaf war diese Nacht in seine Augen gekommen. Nachdem er den Brief beendet hatte, war er bis zur Ankunft hier im Hafen auf Deck geblieben. Dann erst war er in seine Kabine gegangen, um sich umzukleiden.

Nun war er wieder heraufgekommen. Eine verzehrende Unruhe trieb ihn hin und her. Jetzt mußte Eva Söllnitz ja seinen Brief gelesen haben, den er ihr früh durch ihre Stewardeß mit einem Buche aus der Schiffsbibliothek übersandt hatte. Jetzt wußte sie alles wie würde sie nun über ihn denken?

Ruhelos wanderte Amthor über das ganze Schiff hin, wo ihn heute ja kein zudringlicher Blick störte. Wo mochte sie jetzt weilen? An Land war sie nicht gegangen, er hatte ja vorhin das Abfahren aller Boote mit angesehen; gewiß war sie in ihrer Kabine geblieben, sich dort zur Ruhe durchzukämpfen. Arme, geliebte Frau! Qualzerrissen stellte er sich vor, wie sie mit sich rang, diese abermalige Zertrümmerung einer Lebenshoffnung zu überwinden.

Auf seiner Wanderung war Amthor jetzt auch zu jenem entlegenen Schiffswinkel am Heck gekommen, wo er damals Eva mit der Kleinen beim Spielen gefunden hatte. Die reizende kleine Szene stand ihm wieder so deutlich vor Augen, wie er jetzt um das Kajütenhaus herum dem kleinen Deckplatz zuschritt, wie anders aber heute! Kein frohes Lachen tönte ihm entgegen; verlassen, lautlos war der Platz. Er bog um die Ecke; aber da schreckte er zusammen: Auf einem der Bordstühle, die hier standen, ruhte eine weibliche Gestalt, regungslos, den Kopf in die Hand gestützt, mit geschlossenen Augen – Eva Söllnitz. In ihrem Schoß lagen, von der Linken gehalten, mehrere Blätter Papier – sein Brief.

Einen Augenblick blieb er stehen, keiner Bewegung, keines Wortes mächtig, nur mit brennenden Augen auf ihr blasses Antlitz starrend: Was hatte diese Nacht aus ihr gemacht! Wie todesmüde, wie scharf waren die geliebten Züge geworden!

Da sah sie auf, wohl durch sein Herannahen aufgestört, und nun erblickte sie ihn. Erst war es, als ob sie aufspringen wollte, dann aber blieb sie wie kraftlos in ihrem Stuhl liegen, und die Augen schlossen sich wieder. Nur ihre Lippen bewegten sich leise, wie in einem unhörbaren Aufstöhnen.

»Frau Eva!« fast scheu kam es aus seinem Munde, er war einen Schritt näher getreten. »Darf ich bleiben?«

Sie verharrte erst ohne sich zu rühren, dann neigte sie kaum merklich das Haupt.

Nun stand er dicht vor ihr.

»Ich sehe, Sie haben meinen Brief gelesen. – Eva – können Sie mir verzeihen?«

Ein namenloses Bangen bebte in seinem Tone.

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Sie haben mir ja nichts getan – nur ich – ich selbst – ach!«

Mit verzweifeltem Ausbrechen warf sie den Kopf plötzlich zur Seite und bohrte das Antlitz in das Kissen der Lehne.

Bis ins Mark erschüttert, stand Amthor vor ihr; die Nägel seiner Finger in die Faust gebohrt, die Zähne zusammengebissen.

»Eva, Eva! – Mein Leben gäbe ich, könnte ich Ihnen die Ruhe wiedergeben!«

Der Aufschrei aus seinem gemarterten Herzen entriß sie der eigenen Qual. Plötzlich richtete sie sich auf, und ihre Hand streckte sich ihm entgegen:

»Sie Armer, Unseliger – was haben Sie gelitten!«

Er sprach kein Wort. Die Augenlider krampfhaft niedergepreßt, drückte er, mit zuckenden Nerven, ihre Rechte.

»Ihr Brief da hat mir ja das Herz zerrissen. – Nein, Hjalmar –« er erbebte, wie sie zum erstenmal seinen Namen nannte – »wenn wirklich ein Funken Groll gegen Sie in mir gewesen wäre, diese Bekenntnisse da hätten ihn ausgelöscht. Übermenschliches haben Sie ja getragen!«

Da überwältigte ihn plötzlich das jahrelang stumm getragene Weh, und mit einem dumpfen, erschütternden Laut beugte er sich jäh über ihre Hand, sein Antlitz zu verbergen.

Sie duldete es schweigend, ja mit der Linken fuhr sie sanft über sein Haupt.

»Armer, Armer!« leis flüsterte sie es, mit bebender Stimme.

Dann richtete er sich auf, bleich, aber wieder gefaßt.

»Verzeihen Sie,« bat er tonlos. »Einmal mußte es wohl sein.«

Nun erhob auch sie sich aus ihrem Stuhl.

»Hjalmar – es geht ja über Ihre Kraft,« ein unendliches Mitleid, eine zitternde Angst stand in ihren Augen. »Sie brechen ja zusammen unter der Last, die sie sich aufgeladen. – Sie gehen zu Grunde daran. Sie dürfen sie nicht weiter tragen!«

»Ich muß!« Fest preßten sich seine Lippen aufeinander.

»Das ist ja Unvernunft – Wahnsinn – ein Verbrechen an sich selbst!« loderte sie auf. »Niemand kann solch Opfer von Ihnen verlangen, auch Ihre Frau nicht!«

»Sie irren, Eva,« ernst wehrte ihr sein Auge. »Meine Frau verlangt das auch nicht. Im Gegenteil, sie hat mir mehr als einmal die Freiheit wieder geben wollen.«

»Wirklich?« wie ein nochmaliges Aufflammen einer geheimen Hoffnung blitzte es in ihren Augen auf. »Und warum machten Sie davon keinen Gebrauch?«

Wieder traf sie sein ernster, großer Blick.

»Das werden Sie am besten verstehen, Eva! Gerade weil sie so hochherzig war und mich nicht halten wollte – darum blieb ich.«

Ein leises Rot schoß in ihre Wangen; aber noch einmal bäumte es sich in ihr auf, die tödliche Angst um ihn und ein eigensüchtiges Hoffen.

»Und dennoch! Sie selber riefen mir einmal das Wort zu vom Recht auf sich selbst. Warum wollen Sie sich nutzlos opfern? Ihrer unglücklichen Frau können Sie ja doch damit nichts nützen!«

Er sah sie an, wie sie vor ihm stand mit flehenden, beschwörenden Augen, das letzte Aufflackern der Hoffnung im Blick – in jeder Fiber ganz sein, zu ihm drängend! Er brauchte ein Wort, ein einziges Wort zu sprechen, und alle jubelnde Seligkeit war sein! Und noch einmal brandete auch in seinem Herzen das übermächtige Begehren nach Glück auf, das verzweifelte Ringen nach Lebenslust – doch nur einen Augenblick! Im nächsten erwiderte er, tonlos, aber unerschütterlich entschlossen:

»Es gibt verlorene Posten, auf denen man aushalten muß, ob es nützt oder nicht, bis zum letzten Atemzuge. Es ist Pflicht, Ehrensache! Auf solchem Posten stehe ich. Und überdies, wohl doch nicht ganz ohne Nutzen. Seit meiner Frau vor zwei Jahren auch die Mutter gestorben, bin ich der einzige Trost, den sie in ihrem Unglück noch hat. Soll ich ihr den auch noch nehmen?«

Eva Söllnitz antwortete nicht. Sie war bei seinen Worten wieder blaß geworden – ganz bleich.

Da trat er dicht zu ihr.

»Sie werden sich überwinden, Eva; ich weiß es. Sie können selber nicht anders denken, auch wenn Sie es in dieser Stunde inneren Aufruhrs nicht glauben sollten. Aber ich kenne Sie besser, und groß will ich Sie sehen, ganz groß, Eva – wenn meine Augen Sie nicht mehr erblicken werden.«

Seine Worte, die zitternd ausklangen, brachten ihr mit einem Male zum Bewußtsein, daß das Scheiden bevorstand – diesmal der Abschied für immer. Da verließ sie die Besinnung:

»Ich kann dich nicht lassen! Ich kann nicht!«

Alles vergessend, warf sie sich an seine Brust, ihn leidenschaftlich umschlingend.

Amthor hielt sie sanft umfangen, ihren Kopf an sich nehmend und mit der anderen Hand ihre glühende Wange und Schläfe zärtlich drückend. Etwas Väterliches lag in dieser Liebkosung, und so war ihm auch im Herzen zumute. Wie ein sein Weh ungestüm ausschluchzendes Kind hielt er sie an seiner Brust. Er war der eigenen Leidenschaft Herr geworden.

Eine Weile ließ er sie so gewähren, bis der erste Sturm ihres Schmerzes sich ausgerast hatte, dann hob er zärtlich ihr Gesicht hoch.

»Meine liebe, liebe Eva! Was du jetzt in dieser Minute durchkämpfst, das liegt schon hinter mir. Glaubst du, ich hätte mich nicht auch so aufgebäumt wider das Schicksal? Auch ich habe an Trennung von meiner Frau gedacht. Aber sieh, Geliebte: was würde es uns nützen, wenn wir alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hätten und nachher ließe uns der finstere Schatten der Reue nicht unseres Glückes froh werden?«

»Ich würde es niemals bereuen, ich nicht! Für dich tue ich alles! Wenn ich dich nur habe!«

Und in neuem Ausbruch preßte sie sich an ihn. Leidenschaftlich erwiderte diesmal auch er ihre Liebkosung. So fühlte sie für ihn – er war ihre Welt, mochte alles rings in Trümmer gehen! Was für eine Seligkeit hätte diese Liebe ihm bieten können! Sein Gesicht preßte sich plötzlich auf das ihre, und – wie ein Blitzschlag durchfuhr es sie jetzt – seine Lippen hatten die ihren gefunden.

Doch nun riß er sich los – machte sich frei aus ihren Armen, blaß vor innerster Erregung, aber ein verklärtes Leuchten in seinen Augen, was ihm dieser Augenblick gegeben – das konnte ihm nichts wieder rauben!

»Genug nun, Eva – es muß ein Ende sein.«

Langsam nur fand sie sich aus ihrem Taumel wieder zurück.

»Möglich, Geliebte, daß du wirklich reuelos dich unseres Glücks freuen könntest – obschon ich es nicht glauben kann – aber ich vermag es nicht. Ich kenne mich! Und das würde auch dir das Glück zerstören.«

Sie preßte die Hände gegen die noch wie rasend pulsenden Schläfen. Da war sie ja mit einem Male wieder aus Himmelswonnen in die Nacht der Verzweiflung gestoßen! Aber zugleich durchzuckte sie aufleuchtend ein letztes Hoffen, wenigstens ein Schimmer von Glück.

»Gut, Hjalmar – so sei es,« schwer entrangen sich ihr die Worte aus wogender Brust. »Kehre zurück, wohin die Pflicht dich ruft – bis du frei bist. Aber laß mich dich wiedersehen! Ich will wieder nach Island kommen, im nächsten Sommer, alle Jahre auf ein paar Tage. Das – das mußt du mir wenigstens zugestehen!«

Beschwörend preßte sie seine Hände, und ihre dunkeln, schönen Augen hängten sich flehend an ihn. Auf seinem Antlitz sah sie ja nur zu deutlich den schweren Seelenkampf, der ihn aufwühlte.

Dann aber wehrte er mit festem Griff ihrem Ansturm.

»Nein, Eva – auch das nicht!«

»Wie?«

Fast schrill kam es von ihren Lippen.

»Bitte – hör' mich ruhig an, einzig Geliebte, ganz ruhig! Ich habe das alles heut' nacht ja mit mir durchgerungen: Es kann nicht sein. Es wäre Frevel, dich an mich zu fesseln; es ist das Ende meines Gebundenseins ja nicht abzusehen. Jahre noch können hingehen, ehe die Erlösung eintritt, und wer weiß, was dann noch von mir übrig ist. Sollst du die besten Jahre in aufreibender Ungewißheit verzehren, nur um nachher einen gebrochenen Mann zu heiraten, der dir eine Last sein wird?«

Sie machte eine leidenschaftliche Bewegung zu ihm hin.

»Du mir eine Last? – Mein höchstes Glück wird es sein, dich zu heilen von allem Leid!«

Er dankte ihr mit einem leuchtenden Blick; aber dann ward seine Miene wieder ernst, und jener Zug unerschütterlicher Entschlossenheit trat auf seine Züge, den sie nun schon fürchten gelernt hatte.

»Und wenn es so wäre – es kann nicht sein! Eva, wollen wir auf das Ableben eines Menschen warten, um unser Glück darauf zu bauen? Mit täglichem heimlichen Sehnen, er möchte den Abend nicht mehr erleben! Soll ich an der Seite meiner Frau leben und sie mit jedem Atemzug verraten? – Nein, nein, das kann ich nicht, Eva! Verlange das nicht von mir.«

Einen Moment starrte sie ihn an, wie ohne Verständnis; dann kam tonlos ihre Frage:

»Also es soll aus sein zwischen uns – alles aus?«

Er gab keine Antwort; aber sein Blick sprach das grausame »Ja«.

Da brach sie leidenschaftlich aus, besinnungslos vor Schmerz:

»So zertrittst du mich also ohne Erbarmen? Alles, was du aufgebaut hattest, was in mir wieder gut und groß werden wollte, du selbst reißt es nieder! Treibst mich zurück mitleidslos in die kalte, feindselige Welt – ohne Halt, ohne Schutz! – Gut, gut, Hjalmar, ich gehe. Aber möge dich auch das nie reuen, was du heut an mir tatest!«

Ehe er noch ein Wort erwidern konnte, war sie davongeeilt.

Er blieb zurück, im Herzen wie versteinert; im Ohr immer noch den Klang ihrer letzten, furchtbaren Worte.

 


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