Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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I.

»Island in Sicht!«

Von irgend einer unbekannten Stelle ausgegangen, machte das Wort plötzlich die Runde an Bord der »Hamburg«, und alle Krimstecher richteten sich eifrig in den schweren, grauen Nebelvorhang, der sich rings um das mächtige, rastlos vorwärtsstampfende Schiff gesenkt hatte. Den ganzen Morgen fuhr man schon so in dem langweiligen Nebel hin; es war also höchste Zeit, daß man endlich wieder etwas zu sehen bekam. Aber wo? Wo zeigte sich die sagenhafte Insel, der man nun schon fünf Tage mit Erwartung entgegenfuhr? Ein eiliges Hin- und Herlaufen entstand auf dem oberen Promenadendeck nach Backbord und Steuerbord hin; jeder wollte zuerst die Insel »Thule« entdecken.

»Hier, meine gnädige Frau – auf dieser Seite bitte!«

Der stattliche, wettergebräunte Herr mit graumeliertem Spitzbart, im Bordanzug des Kaiserlichen Jachtklubs, winkte der Dame dienstfertig zu, die eben, zwei jüngeren Herren folgend, nach der rechten Schiffsseite hinübergehen wollte.

»Sehen Sie schon was, Herr Kapitän?« Gespannt trat die Angerufene an seine Seite.

»Bitte hier!« Der Herr reichte ihr sein Triëder hin und gab ihm die rechte Stellung.

»Ah, wahrhaftig – ja, mit dem wundervollen Glase! Ganz deutlich – unter dem Nebelvorhang sieht man dunkle Felsen, die isländische Küste!«

»Die Küste doch noch nicht. Das dauert noch ein Weilchen,« erklärte Kapitän Neidhardt, der seebefahrene alte Marineoffizier, »was Sie da sehen, gnädige Frau, ist die erste der Westmännerinseln, einer Gruppe kleiner Inselchen, die dem eigentlichen Island ein paar Meilen vorgelagert sind.«

»Ah so!« Interessiert blickte Frau Professor Söllnitz wieder hinüber. »Wir kommen immer näher. Man sieht schon deutlich die Zeichnung der Felsen. Kolossale Klippen! Sie fallen ganz senkrecht ins Meer. Und wie düster diese schwarzen, gigantischen Wände! – Ein dekoratives Eingangstor zur alten Insel Thule.«

»Ja, meine gnädige Frau.« Der Kapitän nahm wieder das Glas aus ihrer Hand. »Düster, wie ihre Geschichte.«

»Wieso?«

»Bei der Besiedlung Islands haben diese einsamen Eilande eine blutige Rolle gespielt. Den ersten norwegischen Entdecker der Insel, der sich auf Island ansiedelte, erschlugen seine Sklaven und flüchteten sich dann hierher. Doch der Blutsbruder des Toten rächte ihn, fuhr mit seinem Drachen den Mördern nach und tat sie seinerseits ab. – Der Boden da drüben ist mit Blut getränkt.«

Frau Eva Söllnitz schickte den Blick abermals zu der Felseninsel hinüber, die sich jetzt ganz klar dem Blick zeigte.

»Welch starre, öde Einsamkeit! Ob dort jetzt wohl auch noch Menschen hausen mögen?«

Wie zur Antwort auf ihre Frage drehte das Schiff etwas nach links, und alsbald zeigte sich hinter dem Felsenvorsprung eine windgeschützte Talkehle, von deren sattgrünem Untergrund sich weiße Häuschen abzeichneten. Neidhardt wies mit dem Glas hinüber.

»Wahrhaftig, Häuser! Also wirklich bewohnt.« entfuhr es ihr. »Mein Gott, wie können es nur Menschen aushalten, auf diesem Felsen im Meer zu sitzen, immer und ewig – abgeschnitten von aller Welt durch die Meereswüste!«

Während ihrer Worte waren die beiden jüngeren Herren, die sich mit der Schar der übrigen Schiffsgäste nach der Ausblickseite begeben hatten, zu den beiden getreten.

»Eine gottverlassene Felsquetsche! Da möcht' ich ja nicht mal begraben sein,« bekräftigte Leutnant von Kreßmann die Worte der jungen Frau. »Schätzen Sie solche Solitüde, Görtz?«

»Um Himmels willen!« wehrte der junge, ein sehr elegantes Schiffsdreß tragende Regierungsrat Görtz-Schilling ab und ließ entsetzt sein Monokel fallen. Er kam sich mit seinem jugendlichen Referendargesicht bei dem stolzen Titel selber sehr interessant vor. »Ich habe doch kein Talent zum Meergreis!«

»Ja, das sagen Sie so, meine Herren,« lächelte Neidhardt. »Und doch geht das alles, wenn's sein muß. Kreuzen Sie mal zwei Jahre auf der Südsee, mit so 'nem kleinen Kippelkahn von ›Möve‹, und seien Sie Kommandant, also ganz auf Ihre Kajüte und sich allein angewiesen – ich sage Ihnen, meine Herren, dann sehnen Sie sich sogar nach so 'nem Meergreisidyll!«

Herzhaft lachte der alte Seemann vor sich hin. Die beiden jungen Leute antworteten aber nicht. Ihnen war der Kapitän mit seinem gelegentlichen Belehren und Korrigieren nicht gerade sehr sympathisch. Zu schade, daß sich die schickste und interessanteste Frau an Bord, Frau Professor Söllnitz, gerade an Neidhardt, ihren Tischherrn, besonders angeschlossen hatte! Und der »alte Knacker« – so titulierte ihr Neid den noch ganz jugendlichen, elastischen Mann – belegte sie ja mit Beschlag, wo er konnte.

Kapitän Neidhardt begann eine kleine Bordpromenade. In Gegenwart dritter schätzte er die Unterhaltung mit der scharmanten Frau nicht. Er verkehrte zwar auch gern mit Männern, aber nur im Herrenzimmer, bei der Zigarette und beim Burgunder; bei den Damen sah er sich lieber allein.

Jetzt versuchte der Regierungsrat, sich geltend zu machen. Er wandte sich an Frau Söllnitz:

»Gnädige Frau scheinen nicht gerade sehr entzückt von diesem Vorgeschmack Islands. Ich muß auch gestehen, wenn dies die ganze Herrlichkeit sein soll, hat sich der endlose Umweg über Island zum Nordkap, wo die Gegend erst wieder anständig wird, wahrhaftig nicht gelohnt.«

»Aber warten Sie doch erst mal ab, bis wir überhaupt in Island sein werden,« lehnte Frau Söllnitz ab. »Sie sind ja noch schlimmer als der Reisende im Plötz, der von einem rothaarigen Kellner im ersten Gasthof auf die ganze Bevölkerung Frankreichs schloß.«

»Jrammatik I-a!« lobte witzelnd Herr v. Kreßmann. »Gnädige haben Ihr Schulgeld mit Erfolg angelegt. Tadellos! – Ich habe keinen Schimmer mehr vom sel'gen Plötz.«

»Sollten Sie wirklich jemals einen gehabt haben?« spöttelte Frau Söllnitz. Sie hatte ihre schlanke Gestalt im marineblauen Kostüm mit verschränkten Armen über die Reling gebeugt und lehnte nun so bequem, in das Kielwasser hinuntersehend, das lichtgrün, mit weißen Schaumadern durchzogen, beständig an der Flanke des Schiffs entlang vom Bug nach hinten schoß.

»Pardon, Gnädigste!« entrüstete sich scherzhaft der Leutnant, während Herr Görtz-Schilling sein helles, geziertes Lachen ertönen ließ, »wie kommen Sie zu der Meinung?«

»Nun, seitdem ich gestern, beim Flirt mit Mademoiselle Dufour, Ihr wundervolles Französisch gehört habe.« Ein flüchtiger Blick der jungen Frau traf ihn, aber mit einem leichten, spöttischen Aufleuchten. Sie wollte ihm doch zu verstehen geben, daß ihr seine angelegentliche Kurmacherei bei der kleinen Französin nicht entgangen sei, wennschon seine ihr selbst sonst so ostentativen Aufmerksamkeiten ihr mehr lästig als angenehm waren.

Der junge Offizier aber glaubte in seinem Selbstgefühl, aus der kleinen Attacke das Motiv geheimer Eifersucht herauszuhören. Er lächelte geschmeichelt. Aha, es war ihr also doch nicht ganz egal, wenn er seine Huldigungen anderweit darbrachte!

»Ja, freilich – mein Französisch ist ein bißchen eingerostet; aber es genügt eventuell noch, um Herzen zu brechen.«

Übermütig lachte er sie an, die schon wieder ihren Blick vor sich hin in die Tiefe gesenkt hatte. Nun aber sah sie doch zu ihm hin.

»Sie sind doch unglaublich eingebildet!« Aus dem scherzhaften Ton klang doch etwas wahre Meinung. »Haben Ihnen die Frauen wirklich Veranlassung dazu gegeben?«

Der kleine Leutnant warf sich in die Brust; er war wirklich ein hübscher, elegant gewachsener Junge, und seine Unverfrorenheit sicherte ihm obenein Erfolge. Aber er sagte:

»Meine Bescheidenheit verbietet mir, Ihnen zu antworten, gnädigste Frau.«

»Bescheidenheit ist gut!« platzte der Regierungsrat heraus. »Wenn Sie sonst keine Beschwerde drückt, lieber Kreßmann – an der werden Sie sicher mal nicht sterben!«

Aber Frau Söllnitz erwiderte, und diesmal zeigten ihre Worte unverhüllt den Ernst, ja eine tiefe Geringschätzung:

»Ich wäre wirklich begierig, Ihre Eroberungen kennen zu lernen – oder nein, lieber doch nicht!«

»Bitte sehr, meine Gnädigste!« Und nunmehr war es auch dem Leutnant mit seinem Protest ernst. Als rechter Kavalier ließ er auf die Damen seiner intimeren Bekanntschaft nichts kommen. »Ich habe den Vorzug, nur mit Damen der besten Gesellschaft bekannt zu sein.« Und er nahm eine sehr imposante Haltung an.

»Wirklich?« spottete die junge Frau, langsam den Blick zu ihm wendend, ohne sich aber aus ihrer nachlässigen Stellung zu rühren. Dann aber zeigte sich um ihren feingeschnittenen, doch herben Mund jener so oft hervortretende stolz-verächtliche Zug, der das geheime Entzücken des Regierungsrats bildete. Unglaublich vornehm! – so fand er sie auch diesmal wieder. Gerade dies Unnahbare in ihrem Wesen reizte so kolossal. Sie aber fuhr mit kaltem, fortwerfenden Ton fort – man hatte das Gefühl, daß sie eben mit einer Miene des Abscheus, hochgerafften Saumes, über den Schmutz der Straße hinwegschritt –: »Nun, mag sein. Das Aushängeschild ›Gesellschaft‹ verdeckt ja heutzutage vieles.«

Nun aber geriet Kreßmann in Harnisch.

»Meine gnädigste Frau – bei allem schuldigen Respekt – Sie gebrauchen da eben Worte, die ich notgedrungen auf die Damen meiner Bekanntschaft beziehen muß –«

»Bitte!« scharf schnitt sie ihm das Wort ab. »Wir sprachen eben nur von einem gewissen Teil Ihrer Bekanntschaften – Sie wissen recht gut, wen ich meine.« Ihr verächtlicher Ton war deutlich genug. »Und Sie würden im Ernst doch wohl nicht wagen, mir eine dieser Damen zuzuführen – und wenn sie zehnmal äußerlich zur Gesellschaft gehören!«

Ihre Miene war so streng, daß der sonst so dreiste Leutnant doch jetzt verstummte. Ein Teufelsweib! Man mußte doch Respekt vor ihr haben. – Der Regierungsrat aber ergriff rasch die Gelegenheit, sich als einen Mann von altpreußisch-gediegenen Anschauungen über Moral und Gesellschaft zu empfehlen.

»Ausgezeichnet, meine gnädige Frau! Mir ganz aus dem Herzen gesprochen! Es wäre nur dringend zu wünschen, daß alle unsere Frauen solche Anschauungen hätten und betätigten. Dann würde der wirklich erschreckend um sich greifenden Zerfressenheit unserer Gesellschaftsmoral ein wirksamer Hemmschuh entgegengesetzt werden.«

Erwartungsvoll sah er nach diesen würdigen Worten zu ihr hin, eines Lobes gewärtig; statt dessen lachte sie ihm plötzlich hell ins Gesicht, in dies jugendlich-unreife Referendarsgesicht, dem die angenommene Würde so herzlich wenig stand.

»Gut gebrüllt, Löwe!« Die schlanke Frau richtete sich von der Brüstung auf, und noch immer lachend, spottete sie: »Sie reden ja wie ein Regierungskommissar auf der Sittlichkeitskonferenz. – Gott nein, sind Sie komisch!«

Herrn Görtz-Schilling entfiel – diesmal unwillkürlich – das Augenglas. Nichts weniger als geistreich starrte er die Sprecherin an. Was sollte er nun bloß davon denken? Eben noch ernsteste Sittenwächterin und nun frivole Spötterin? – Aber ganz gleich! Komisch fand sie ihn, das genügte! Seine persönliche wie amtliche Würde erforderte eine scharfe Verwahrung.

Aber ehe er noch das erste Wort gefunden, hatte Frau Söllnitz sich schon zum Gehen gewandt, wieder ganz bestrickende Liebenswürdigkeit, nickte sie den beiden jungen Leuten völlig harmlos zu.

»Nun, vielleicht einigen sich die Herren über das Thema.«

Und schon war sie hinweg, mit energisch aufgesetztem Fuß schnell den Promenadenweg hinaufschreitend. Es lag etwas Herrscherinnenhaftes, wie in ihrem ganzen Wesen, so auch in ihrem Gang. Und wenn man auch eben erst schlecht von ihr behandelt war, es reizte einen schon wieder von neuem, um ihre Gunst zu werben. Sie war doch ein ganz einziges Weib.

»Ein tolles Frauenzimmer!« Bewundernd bemerkte es der kleine Leutnant.

»Der Deibel soll aus ihr klug werden!« grollte immer noch, trotz aller heimlichen Bewunderung auch auf seiner Seite, der Regierungsrat. »wie sie mit einem umspringt, das ist wirklich mehr als toll! Von Rechts wegen müßte man sie ja einfach keines Wortes mehr würdigen.«

»Tun Sie's doch, Görtz,« rief spöttelnd Kreßmann.

»Ja – wenn sie nur nicht so verdammt apart wäre! Kein anderes Weib hier an Bord kommt neben ihr auf.«

»Na also!« zog der Leutnant das Resumee und hockte sich auf die Reling, gemütlich mit den Beinen in weißen Seglerhosen und -schuhen baumelnd, während er das silberne Zigarettenetui zog. »Da – rauchen Sie?«

»Merci!« nahm Görtz an und bot seinerseits dem andern Feuer.

»Küss' die Hand!« dankte, die Zigarette anrauchend, Kreßmann; dann paffte er nachdenklich vor sich hin.

»Sagen Sie mal, Görtz, glauben Sie eigentlich, daß sie wirklich eine geschiedene Frau ist?«

»Frau Söllnitz?«

»Na natürlich! Wer denn sonst?! Sie haben doch gewiß auch schon von gehört. Es wird doch hier auf dem Schiff erzählt.«

»Das erste, was ich höre!« staunte der Regierungsrat und trat dichter zu dem guten Bekannten, »Wer sagt's denn?«

»Mein Gott, so allgemeines Gemunkel. Mir hat's, glaub' ich, Thümmler erzählt.« – Er meinte einen Reisegefährten. – »Ihr geschiedener Mann soll ein bekannter Künstler sein, Sänger, Geiger oder irgend sonst so'n Musikathlet.«

»Was? Etwa der berühmte Geiger? Professor Gregor Söllnitz?«

»Möglich, ja,« zuckte von Kreßmann die Achseln. »Kenne die Herrschaften nicht persönlich. Na, gleichviel, wer – können Sie sich eigentlich vorstellen, daß sie geschieden ist?«

»Hm – ja –« Auch Görtz rauchte nun nachdenklich weiter. »Eigentlich macht sie ja gar nicht den Eindruck, eher hätt' ich sie für 'ne Witwe gehalten. – Aber, hören Sie, das ist ja kolossal interessant! Geschieden also!«

Das Faktum – denn das war es für den Regierungsrat bereits – ließ ihm plötzlich die junge Frau in einem ganz anderen Lichte erscheinen. Die Bekanntschaft mit ihr bekam mit einemmal einen netten, kleinen prickelnden Beigeschmack. Es war, als ob plötzlich einige Schranken einstürzten, die ihre Person bisher abwehrend und schützend umgeben hatten; unwillkürlich tauchten leise Hoffnungen und Wünsche auf, die sich bisher nicht an sie gewagt hatten.

»Eigentlich begreife ich da nicht, wie sie sich so furchtbar haben kann,« bemerkte Görtz aus diesem Gedankengang heraus. »Auch vorhin erst – mit Ihnen.«

»Na, das ist doch ganz klar – gerade darum!« belehrte ihn der Jüngere, in diesem Punkte sich als besserer Menschenkenner fühlend, »wenn eine Frau selber 'ne bißchen wacklige Position in der Gesellschaft hat, ist sie um so krampfhafter bemüht, sich als unnahbar aufzuspielen. Doch sehr plausibel, – nicht?«

»Da haben Sie recht,« stimmte der Regierungsrat bei, gedankenverloren. Seine Blicke suchten Frau Söllnitz, die hinten an der Treppe zum unteren Promenadendeck mit einem Ehepaar stand, und musterten nun noch einmal ihre ganze Erscheinung, skeptisch, neugierig und taxierend zugleich. Donnerwetter, jetzt hatte die Sache doch ein ganz anderes Gesicht; nun sollte man doch wirklich mal sehen, ob denn die kalte Unnahbarkeit faktisch so stichhaltig war. Entschlossen richtete er sich auf und warf den Zigarettenrest über Bord.

»Ich will doch auch mal wieder nach der Küste ausschaun,« verabschiedete er sich von dem Bekannten und begann, sich der kleinen Gruppe da hinten zu nähern.

 


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