Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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IX.

»– Also, meine Herrschaften, seien Sie mir noch einmal schönstens zur Instruktionsstunde willkommen hier auf der Back, wo mir mein Herr Kollege von der »Hamburg« heute freundlichst das Kommando abgetreten hat. – Ihr Wohl! Hurra – Hurra – Hurra!«

Aufspringend stimmten die anderen mit frohen Gesichtern mit ein in den Ruf, und die Sektkelche klirrten an das Glas des liebenswürdigen Gastgebers, des Kapitäns Neidhardt, der hier seine engere Tischgenossenschaft zu einer kleinen Sitzung eingeladen hatte.

Es war ein wundervoll milder Abend. Spiegelglatt lag die See, wie in ein Festgewand von schwerem, schillernden Goldbrokat gehüllt, und das Schiff ging so ruhig, daß man seine Bewegung überhaupt nicht spürte. Man hätte meinen können, in südlichen Breiten und nicht nahe dem ewigen Eise zu sein, wenn nicht der bleich-gelbe Schein der tiefstehenden Sonne jetzt gegen die zehnte Abendstunde daran erinnert hätte, daß man das Polarmeer durchquerte.

In heiterster Laune saß nun die kleine Gesellschaft auf der Back beisammen, wo heute nur ein angenehm fächelnder Hauch ging, Damen und Herren in sommerlich leichten Strandkostümen. Sie waren hier oben ganz unter sich, die übrige Schiffsgesellschaft respektierte ihre Absonderung und überließ ihnen den kleinen Teil des Decks ganz allein. Auch der Steward, der die Sektflaschen sorglich frappiert und dann eingeschenkt hatte, war vom Kapitän jetzt weggeschickt worden. »Danke, wir bedienen uns selbst!« So war man denn jetzt ganz unter sich.

»Nun, Herr Käp'tän. Bitte, so fangen Sie an mit die Instruktschon.«

Lächelnd bat so Mrs. Sanderham den Wirt, bei dem sie hier zu Gast waren. Er sollte sie ja heute in die Geheimnisse der Nautik einweihen, die ihnen so oft schon ein verwundertes Kopfschütteln abgenötigt hatten.

»Wie Sie befehlen. – Also Mrs. Sanderham, machen wir gleich bei Ihnen den Anfang! Sitzen Sie an Backbord oder Steuerbord?«

»O!« Die junge Amerikanerin, ganz unvorbereitet, sah sich hilfesuchend um. Leutnant v. Kreßmann, der, ihr nahe, auf einer aufgerollten Trosse saß, wollte sich vorbeugend soufflieren, aber der Kapitän bemerkte es:

»Halt da, Herr Leutnant! Vorsagen ist Hintergehung eines Vorgesetzten. Ich lasse Sie gleich ins Eisen legen und krumm schließen!« drohte er.

»O – dear me!« Die kleine Frau markierte hohes Entsetzen, »was sind Sie grausam, Herr Käp'tän! Sie werden mir doch nicht etwa auch gleich im Eisen schließen, wenn ich falsch sage?«

»Nein – aber Ihr Herr Gemahl wird Ihnen drei Tage lang entzogen. Also raten Sie richtig!«

»O terrible! – Poor Dick!« Sie faltete schmerzlich-sehnsüchtig die Hände zu dem jungen Gatten hin, der auf der anderen Seite neben ihr saß.

»Alle guten Geister, so steht jetzt bei mir: also – Steuerbord!« riet sie.

»Falsch! Backbord, denn Sie sitzen links,« entschied der Kapitän, und trat wirklich auf den jungen Amerikaner zu. »Bitte, Mr. Sanderham, Sie müssen mir Ihren Platz überlassen. – Strafe muß sein!«

»O dreadful!« jammerte in komischer Verzweiflung die kleine Frau dem scheidenden Gatten nach, der in der Tat dem Kapitän lachend seinen Feldstuhl abtrat und sich nun abseits aufs Schiffsgeländer hockte und gleichmütig – trotz des Trennungsschmerzes seiner Gattin – sich von neuem die unentbehrliche shag-pipe stopfte.

»O – is er nicht ein Scheusal?« wies Mrs. Sanderham, es bemerkend, empört auf ihn hin. »Ich traure um ihn, und er raucht! Shocking! – Kommen Sie, Herr Käp'tän, trösten Sie mir über diese unwürdige Mann!«

Der übermütig-lustige Ton steckte bald auch die übrige Gesellschaft an. Nur Eva Söllnitz und Amthor, die nebeneinander saßen, waren etwas stiller. Wären sie mit dem Kapitän und dem ihnen auch noch sympathischen Ehepaar allein gewesen, so hätten sie wohl fröhlich mitgetan; aber die Anwesenheit der anderen, besonders der beiden Herren Görtz-Schilling und Kreßmann, ließ sie nicht so aus sich herausgehen. Sie waren, Amthors Entschluß getreu, allen ihnen unsympathischen Persönlichkeiten in den letzten Tagen einfach aus dem Wege gegangen oder hatten sich ihrer kühl entledigt, wenn diese sich der jungen Frau dennoch genähert hatten. Heut abend aber zwang sie die liebenswürdige Einladung des Kapitäns, die sie nicht hatten ausschlagen können, nun doch zu einem Beisammensein mit ihnen.

Indessen ließen sie sich die Laune dadurch doch nicht stören; sie waren vielmehr auf ihre Art froh. Sie amüsierten sich über die drolligen Neckereien der kleinen Amerikanerin mit dem Kapitän und über den trockenen Humor Mr. Sanderhams, der gelegentlich dabei immer die Shag-Pfeife im glattrasierten Gesicht, mit einem schalkhaften Aufblitzen seiner klugen Augen hinter den Brillengläsern, eine stets schlagfertige, satirische Bemerkung in die laut schwirrende Unterhaltung warf.

Sie selbst wechselten ab und zu ein halblautes Scherzwort unter sich, und dann und wann tauschten sie lächelnd einen schnellen, verständnisvollen Blick. Sie wußten auch so, wem er galt! Wie zwei gute alte Freunde verkehrten sie so vertraulich miteinander, und auch Frau Eva gab sich nicht mehr die Mühe, das irgendwie zu verbergen. Er empfand es mit hoher Freude, und mehrfach dankte er ihr für ihren Freimut mit einem herzlich warmen Lobesblick, der sie jedesmal stolz und froh machte.

Ihr war heute überhaupt so leicht und glücklich zumute, wie sie es seit langen Jahren nicht mehr gekannt hatte. Sie war ja nun nicht mehr allein inmitten einer falschen und gehässigen Welt! Sie nannte ja einen treuen Freund ihr eigen, der ihr seinen starken Schutz gewähren würde, sobald sie ihn nötig haben sollte, wie köstlich war das doch, dies geheime Gefühl der Geborgenheit! Wie quoll es jedesmal innig warm in ihr auf, wenn sie ihn still ansah mit dem frohen Bewußtsein: er ist dein Freund, dein Beschützer! Es drängte sie so oft, seine Hand zu ergreifen und dankerfüllt zu pressen, und wenn sie es nicht tat, geschah es nicht mehr aus Furcht vor den Menschen – mochten sie doch jetzt über sie reden, was sie wollten! – sondern aus einem ganz anderen Gefühl heraus: es keimte da etwas so Zartes, Feines im tiefsten Grunde ihres Herzens, ihr selbst noch dunkel und unerkannt, das sie sich aber instinktiv scheute den Blicken anderer preiszugeben. So begnügte sie sich denn damit, wenn er ihr das Gesicht abgewandt hatte, ihn oftmals mit einem still-glücklichen, innigen Ausdruck anzusehen und sich immer wieder seine ruhigen männlichen Züge einzuprägen, in denen sich ein so milder Ernst, eine so tiefe Güte spiegelten.

Aber noch einen anderen stillen Beobachter barg der lustige Kreis, den Regierungsrat, der trotz seiner lebhaften äußerlichen Teilnahme an der Unterhaltung doch unausgesetzt ein Auge auf Frau Söllnitz hatte, ohne daß sie in ihrem Glücksgefühl es merkte. Mit steigender Verwunderung hatte Herr Görtz-Schilling in den letzten Tagen den plötzlich so kameradschaftlich vertrauten Verkehr zwischen der jungen Frau und ihrem isländischen Bekannten wahrgenommen. Er hatte das zwar immer nur aus der Entfernung beobachten können, denn dieser »unverschämte Mensch« – so titulierte er bei sich Dr. Amthor – hatte ja eine Art, ihn bei jeder Annäherung gleich wieder in aller Gelassenheit abzuschütteln, die unerhört war. Seine Abneigung gegen diesen »unzivilisierten Patron« ohne »alle gesellschaftlichen Dehors« wuchs sich daher nachgerade zum Haß aus.

Nun bot sich heute abend aber die willkommene Gelegenheit, die verdächtigen Zwei aus nächster Nähe zu beobachten, und diese nützte Herr Görtz-Schilling gründlich aus. So entging es ihm natürlich nicht, wie die beiden heimlich lächelnd Blicke tauschten, und wenn es noch eines letzten bedurft hätte, um sein Urteil unumstößlich zu machen, so waren es gerade diese stillen, unbewacht-glücklichen Blicke der jungen Frau gewesen. Nun stand es für ihn »bomben«fest: zwischen den beiden war es »allright!« Bliebe höchstens noch die Frage offen, bis zu welchem Grade ihre Intimität bereits vorgeschritten sei. Aber, na – das war ja schließlich nur eine Frage der Zeit! Ein leises zynisches Lächeln spielte um Herrn Görtz' Mundwinkel. Jedenfalls, wenn ein Mann so kurzerhand sich entschließt, einer Frau zuliebe solche Reise mitzumachen, na – er ließ spielend sein Monokel baumeln – so würde er ja wohl wissen, warum er das tat. Gerade so die Stillen vom Schlage dieses anscheinend so kalten Isländers sind ja im Innern die Tollsten – brennen lichterloh! Er kannte ja die Menschen.

Ja, er kannte sie wirklich! So resümierte der Regierungsrat seine heimlichen Beobachtungen, und eine hämische Freude überkam ihn: hatte er nicht gleich damals, als er hörte, daß Frau Söllnitz geschieden sei, solch dunkles Gefühl gehabt, daß da bei ihr irgend etwas nicht stimmte? Na also, nun war's ja klar am Tage! Auch sie war nicht unzugänglich die sich so furchtbar unnahbar gebärdet, ihn so kühl abgelehnt hatte. Es mußte eben nur der Richtige kommen, einer nach ihrem Geschmacke.

Ein Empfinden verletzter Eitelkeit und Eifersucht stieg in Görtz-Schilling auf. Daß sie nun doch auch ihren dunkeln Punkt hatte, das hätte er ihr durchaus nicht übel genommen, im Gegenteil, das machte sie in seinen Augen erst recht pikant. Aber daß sie ihn hatte so abfallen lassen und einen so minderwertigen Menschen ohne jede höhere Kultur ihm vorzog, das kränkte, das empörte ihn und erweckte in ihm ein Verlangen, sich zu rächen. Ja, das wollte er! Da für ihn nichts mehr zu hoffen war, so wollte er wenigstens ihrem Stolz eine unheilbare Wunde schlagen, wollte ihr zeigen, daß er alles durchschaute, und ihr kaltverächtlich zu verstehen geben, wie er nun von ihr denke – daß sie wahrhaftig keinen Grund habe, sich nun noch aufs hohe Pferd zu setzen.

Der Regierungsrat wartete nur auf die nächste Gelegenheit, sein Vorhaben auszuführen; aber sie bot sich ihm nicht so bald. Mit steigernder Eifersucht und Gehässigkeit sah er vielmehr, wie Amthor und die junge Frau sich allmählich in ein eingehenderes sie offenbar lebhaft interessierendes Gespräch vertieften, wie sie dabei aufstanden und, in ihre Unterhaltung verloren, etwas abseits gingen, bis an das Eisengeländer des Decks, wo Amthor, gedankenvoll den Kopf gesenkt, sich aufstützte, während Frau Söllnitz neben ihm stand und, weiter sprechend, mit ernstem Ausdruck ins Weite, aufs Meer, hinausschaute. Er konnte zwar leider nicht hören, was sie sich da erzählten, aber die Situation war ihm ganz klar: es waren offenbar Dinge, für das Ohr eines dritten nicht bestimmt. Dies genügte ihm aber völlig, nach allem, was er bisher schon an den beiden beobachtet hatte.

»Sehen Sie,« wandte sich indessen gerade Eva Söllnitz an Amthor, »Ihre Worte von neulich sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe bisher immer geglaubt, ich hätte das letzte an meinem Kinde getan, meine Pflicht bis zum äußersten erfüllt. Nun aber haben mir Ihre Worte diese feste Überzeugung erschüttert und mich von neuem in qualvolle Unschlüssigkeit gestürzt. Ich habe ja so unausgesetzt nachgedacht über das, was Sie sagten: dem Kinde fehle der Vater. Und ich kann mich der Erkenntnis nicht entziehen – Sie haben wohl recht.«

Sie machte eine Pause, mit einem Gefühl schwerer Bedrücktheit; dann fuhr sie leiser, verloren fort, wieder hinaus ins Weite schauend:

»Ich könnte mir jetzt selbst vorstellen, wenn eine feste und doch gütige Hand über dem Jungen wäre, wenn ein ernster und doch liebevoller Mann wie ein rechter Vater sich seiner annähme, ein Mann, vor dem er tiefsten Respekt und, wenn nötig, auch heilsame Furcht hätte, den er insgeheim aber doch bewundern müßte – daß dann seine Unzugänglichkeit allmählich schwinden, daß er sich dann wohl lenken lassen würde. Ich glaube es wahrhaftig immer mehr, je länger ich darüber nachdenke.«

»Das freut mich aus ganzem Herzen!« freudig überrascht wandte sich Amthor ihr zu. »Sehen Sie, ich wußte es ja, Ihr Interesse an dem Kinde konnte ja nicht tot sein – es schlummerte nur.«

Aber da zog wieder der alte Schatten über ihr Gesicht.

»Also, Sie halten es wirklich für meine Pflicht, dem Kinde wieder einen Vater zu geben?«

Er antwortete nicht gleich; dann aber erwiderte er langsam:

»Ich glaube allerdings, daß es nach allem für das Kind das einzige Rettungsmittel sein würde. Und auch für Sie selbst.«

Sie machte eine heftig-abwehrende Bewegung:

»An mich denke ich dabei nicht. Im Gegenteil, mir ist die Lust vergangen, noch einmal das Glück der Ehe zu erproben. Noch fühle ich alle die Wunden allzu schmerzlich, wenn ich mich wirklich dazu entschließen könnte, noch einmal zu heiraten, so geschähe es nur um des Kindes willen – es wäre ein großes Opfer, das größte und letzte, das ich ihm bringen könnte.« Ein schweres Seufzen hob ihre Brust; dann schloß sie traurig mit leisem Ton: »Und der Gedanke läßt mich nun nach Ihren Worten nicht mehr zur Ruhe kommen, daß ich mich dieser Pflicht nicht entziehen darf – daß ich dieses Opfer bringen muß.«

Amthor wurde sehr ernst. Es legte sich lastend auf ihn das Bewußtwerden, welch schwere Verantwortlichkeit er mit seinem Rat auf sie lud. Sollte er diese unglückliche, schwer heimgesuchte Frau wirklich dazu bestimmen, noch einmal sich in all die Gefahren zu begeben, denen sie kaum erst entronnen war? Lange erwog er das bei sich, dann erst erwiderte er, nun aber entschlossen:

»So hab' ich das nicht gemeint. Dies Opfer, von dem Sie sprechen, darf Ihnen nie und nimmer zugemutet werden. Sie haben auch Pflichten gegen sich selbst – Sie dürfen sich nicht einfach zugrunde richten. – Nein, was mir vorschwebte als rettende Lösung, das wäre ein Mann, dem Sie aus eigner Neigung die Erziehung Ihres Kindes anvertrauen und die Sorge um Sie selbst dazu – ein Mann, der Ihnen volle Sympathie einflößte und dem Sie mit innerstem Vertrauen die hohe, schöne Aufgabe in die Hand legen könnten, Ihrem Kinde ein rechter Vater, Ihnen selbst ein treuer Gefährte zu werden. – Nur so, nicht anders könnte ich mir Ihre Zukunft denken.«

Eva Söllnitz schwieg, während seiner Worte war ihr unbewußt ein Ausdruck tiefen Sehnens auf ihre Züge getreten, was er da eben sagte, das weckte ja ein geheimstes Empfinden in ihrer Brust, das bei all dem Grübeln der letzten Tage als ein leiser Unterton mitgeklungen hatte. Ja, das wäre freilich die rechte Lösung – das wäre ja noch einmal das Glück, an das sie nicht mehr ernstlich gewagt hatte zu denken! Und wunderbar! wie er so sprach, da stieg wieder dasselbe Bild auf, das ihr vorhin unwillkürlich vor die Seele getreten war, als sie die ideale Gestalt eines väterlichen Erziehers für ihren Jungen selbst geschildert hatte – sein eigenes Bild! Und plötzlich schoß es ihr durch den Sinn, ein Gedanke, fern und flüchtig, traumhaft wie ein in stiller Nacht aufleuchtendes Meteor: wenn er dieser Mann wäre – wenn er diese Aufgabe auf sich nehmen wollte! Ja, ihm gäbe sie sich unbedenklich, mit innigem Vertrauen in die Hand, sich und ihr Kind.

Im nächsten Augenblick aber war der Gedanke schon wieder entschwunden, davongeschreckt von der unerbittlichen Vernunft. Amthor dachte ja nicht daran! Freundschaftlich teilnehmend, aber doch innerlich völlig ruhig stand er da neben ihr. Da richtete sie sich energisch auf – es war nicht gut, am hellen Tage zu träumen! – und an ihm vorüber zu der kleinen Gesellschaft sehend, sagte sie, das Thema abschließend:

»Das wäre freilich eine glückliche Lösung der Frage. Aber sie wird vielleicht immer auf sich warten lassen.«

Langsam trat sie, von ihm begleitet, dann wieder zu den anderen zurück.

Die Zeit war dahingeflogen, und die Stimmung des kleinen Kreises war immer ausgelassener geworden, denn der Kapitän ließ den schäumenden Trank in den Kelchen immer wieder nachfüllen.

Frau Eva wurde der übermütige Ton der, bis auf Amthor und den Gastgeber sämtlich sekterhitzten Herren zu viel. Sie beschloß daher, sich unbemerkt, um nicht den allgemeinen Aufbruch nach sich zu ziehen, zu entfernen. Mit einem heimlichen Gruß hatte sie sich von ihrem Nachbar Amthor verabschiedet, wie sie wähnte, ganz unauffällig; dann war sie aufgestanden, sich Kühlung zufächelnd, und war, wie um ein Weilchen sich zu erfrischen, abseits geschritten, um dort noch ein paar Augenblicke über die Brüstung zu lehnen, ehe sie sich ganz fortbegab. Aber Herr Görtz-Schilling hatte sie nicht aus dem Auge gelassen. Endlich war ja nun seine Gelegenheit gekommen, und leise ging er ihr also nach.

»Nun, meine Gnädigste, Sie wollen uns schon verlassen?« tönte ihr plötzlich seine Frage ins Ohr, und nachlässig lehnte er sich, dicht neben ihr, gleichfalls über das Geländer.

Aus seinem Ton, seiner ganzen Haltung fühlte die junge Frau bereits eine geheime feindliche Absicht heraus.

»Woher wissen Sie, daß ich Sie verlassen will?« entgegnete sie kühl, aber doch klang eine leichte Überraschung aus ihrer Gegenfrage.

»Mir ist eben Ihr diskreter Abschied von Herrn Doktor Amthor nicht entgangen – leider.«

Sie fuhr bei seinem ironischen Ton zusammen, aber sie wahrte ihre Fassung. Amthors Mahnung von neulich klang ihr plötzlich im Ohr: wenn die Meute Sie anfallen will, packen Sie fest zu! So sah sie dem Regierungsrat denn voll ins Gesicht:

»Warum leider?«

Er war offenbar über ihre Fassung erstaunt. Aha, sie spielte die Unbefangene, also er mußte deutlicher werden.

»Nun, ich hatte so das Gefühl –« ein leises, perfides Lächeln spielte um seine Lippen – »es wäre nicht ganz in Ihren Intentionen gewesen, gnädigste Frau, daß dieser Abschiedsgruß von uns anderen bemerkt würde.«

»Ihr bewundernswert feines Gefühl hat Sie in der Tat nicht getäuscht, Herr Regierungsrat,« spöttelte sie, ihn mit einem verächtlichen Blick streifend. »Ich wollte mich wirklich ganz diskret von Herrn Doktor Amthor verabschieden, um nicht das Signal zum allgemeinen Aufbruch zu geben.«

»Ah, wirklich?« machte er ironisch. »Und Sie würdigten nur Herrn Doktor Amthor eines freundschaftlichen Abschieds, vermutlich, weil er Ihr nächster Nachbar war?!«

»Allerdings – oder glaubten Sie etwa anderes?« Seine wahre Meinung kühn herausfordernd, sah sie ihn an.

Er war wirklich verblüfft. Solche Kaltblütigkeit! Teufel auch – die kleine Frau war eine ganz Geriebene! Nun, da hieß es, nicht länger ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sein Augenglas einsetzend, sah er sie fixierend an, mit einem ganz impertinenten Lächeln, das ihr das Blut nun doch ins Wallen brachte.

»Ihre Unbefangenheit könnte mir beinahe imponieren, gnädigste Frau.«

Eva Söllnitz erblaßte. Hoch richtete sie sich auf:

»Ich verlange jetzt eine Erklärung Ihres merkwürdigen Benehmens – auf der Stelle!«

Er verblieb zunächst in seiner nachlässigen, lehnenden Stellung, die Arme auf der Brüstung verschränkt. Und so erwiderte er dreist, immer das Glas im Auge:

»Sie sind sehr impulsiv, Gnädigste! Aber wie Sie befehlen.« Und nun reckte auch er sich auf, um sie von oben her mit seiner Eröffnung niederzuschmettern. »Glauben Sie wirklich, meine verehrteste, gnädigste Frau,« er legte eine ironische Höflichkeit in seinen Ton, »daß ich blind bin? Daß die doch ganz auffällige Intimität, mit der Sie diesen Herrn da –« er nickte kalt verächtlich mit dem Kopf nach Amthor hin – »beehren, mir unbemerkt geblieben sein sollte?«

Die junge Frau wurde noch blasser; sie fühlte ihr Herz bis in den Hals hinaufschlagen vor Erregung. Aber mit fester Stimme fragte sie ihn, ihren Blick in den seinen bohrend:

»Und haben Sie an dieser ›Intimität‹ etwas auszusetzen? Bin ich Ihnen über meine Freundschaften Rechenschaft schuldig?«

»Ah – nicht im mindesten!« er verneigte sich mit ironischer Höflichkeit.

»Dann verbitte ich mir auch jede Kritik Ihrerseits – versteckt oder offen! Ich hoffe, Sie verstehen mich, Herr Regierungsrat!«

Ein strenger, kalter Blick traf ihn, und mit stolz zurückgeworfenem Kopf wandte sie sich ab.

Der Regierungsrat blieb einen Augenblick stehen, wo sie ihn verlassen hatte, erst ziemlich verblüfft, fast beschämt, wie sie ihn so hatte stehen lassen, mit einer wirklich imponierenden Hoheit – Donnerwetter, man hätte auf die Unantastbarkeit dieser Frau schwören können. Dann aber schüttelte er schnell diese Regung ab. Dummheit! Er war doch kein Gimpel. Er würde sich doch von ihr nichts mehr weiß machen lassen. Sie war eben eine raffinierte Schauspielerin, die die Rolle des gekränkten Frauenstolzes virtuos durchführte – nichts weiter! Und ein Esel war er gewesen, daß er sich im Moment hatte verblüffen lassen, statt ihr mit einem höhnischen Wort zu ihrem Komödiespielen zu gratulieren. Er war jetzt wütend über sich, daß er da eben ihren überlegenen Spott stillschweigend eingesteckt hatte. Es war doch ein starkes Stück: Sie, die allen Grund hatte, sich schuldbewußt zu fühlen, sie wagte ihn noch obenein zu verhöhnen!

Ah – ein heißer Grimm, ein gesteigertes Verlangen nach Rache überkam ihn. Das sollte ihr nicht ungestraft hingehen! Er würde sich revanchieren. Jetzt wollte er sie noch ganz anders demütigen: Öffentlich, vor der ganzen Gesellschaft! Er wollte dafür sorgen, daß man sie im rechten Lichte sah und danach auch behandelte, sie und ihren Günstling.

Auch der Regierungsrat kehrte nicht wieder zu der lustigen Gesellschaft zurück; er ging hinüber nach dem Promenadendeck. Trotz der späten Stunde war es hier noch belebt; bei der Tageshelligkeit mochte man ja noch nicht an Schlafen denken. Suchend blickte er über die Gruppen hin. Ah – da war ja die geeignete Persönlichkeit, die er suchte, und schnell schritt er zu der Frau Medizinalrat Geoffroy hin, die auf dem ganzen Schiff als das »wandelnde Auskunftsbüreau« bekannt war. Sie wußte alles und verbreitete alle Neuigkeiten mit einer erstaunlichen Betriebsamkeit.

»Guten Abend, meine gnädigste Frau. Noch auf?« begrüßte er die alte Dame, die mit zwei anderen noch im lebhaften Geplauder saß; die dicht zusammengerückten Bordstühle bildeten eine ordentliche kleine Burg für diese, im halben Flüsterton geführte, diskrete Unterhaltung.

»Ah, Herr Regierungsrat!« Die Medizinalrätin hieß ihn mit einem Handwinken willkommen. »Nun, schon dienstfrei? – Allerdings, Frau Professor Söllnitz ist ja bereits aufgebrochen; sie kam eben vorbei.«

Herr Görtz verstand die spitzige Anspielung der Dame nur zu gut; aber sie ärgerte ihn heute nicht, im Gegenteil, sie bot ihm den gewünschten Anknüpfungspunkt. Er machte eine ironische Handbewegung:

»Sie werden mit Ihrem Scharfblick, meine gnädigste Frau, doch längst erkannt haben, daß für gewöhnliche Sterbliche in der Gnadensonne der Frau Professor seit einigen Tagen kein Platz mehr ist.«

Die drei Damen sahen sich wie auf ein Kommando verständnisvoll an; unwillkürlich beugten sie sich dichter zu ihm hin.

»Ach so – Sie meinen, seit der isländische Doktor aufgetaucht ist! – Nicht?«

Es blitzte in geheimer, boshafter Freude im Auge der Frau Medizinalrat auf.

Görtz nickte lebhaft.

»Natürlich! Es ist ja mehr als auffällig, wie sie ihn auszeichnet.«

»Sehen Sie! Was habe ich Ihnen eben gesagt?« Triumphierend blickte Frau Geoffroy ihre Nachbarin an.

»Wahrhaftig – ich bin doch gewiß nicht prüde,« fuhr der Regierungsrat fort. »Aber die Art, wie sich Frau Söllnitz mit diesem Herrn stellt – diese offenen und heimlichen Intimitäten, und das mit einem Menschen, den sie gerade erst ein paar Tage kennt, das finde ich – unter uns gesagt – mehr als stark!«

»Sehr richtig! Sehr!« stimmten die Frau Medizinalrat und ihre Freundinnen freudig ein. »Sehn Sie, Ihnen als Herrn fällt das selbst auf. Was sollen wir Frauen nun erst dazu sagen?«

Görtz-Schilling zuckte die Achseln. Dann meinte er langsam:

»Wenn ich verheiratet wäre, würde ich unbedingt darauf halten, daß meine Frau – nach dieser Aufführung! – mit Frau Söllnitz nicht mehr verkehrt. Nun,« er nahm sich lächelnd eine Zigarette aus dem Etui: »Die Damen gestatten doch? – Ich bin ja leider noch nicht in der glücklichen Lage, insofern geht mich ja auch schließlich die ganze Geschichte nichts an. Aber es soll mich nicht wundern, wenn sich nächstens die wirklich gute Gesellschaft hier auf dem Schiff von der Frau Professor zurückzieht.«

»Ganz meine Meinung!« pflichtete Frau Geoffroy bei. »Nun, ein Wunder ist's ja freilich nicht: Eine geschiedene Frau – es ist doch immer die alte Geschichte! Ganz umsonst trennt sich doch schließlich kein Mann von seiner Frau. Und der Professor Söllnitz soll ja so ein liebenswürdiger, feiner Mensch sein. Wer erzählte es doch neulich erst? Wer weiß also, was damals schon passiert ist! Übrigens«, sie dämpfte die Stimme und winkte Görtz näher zu sich heran, »habe ich mich schon immer gefragt: Ob sie den Doktor wirklich erst auf Island kennen gelernt hat? Ob das nicht am Ende alles nur eine abgekartete Geschichte ist? Sie kennen sich vielleicht schon lange; um es aber nicht auffällig zu machen, daß sie mit ihm reist, ist er nach Reykjavik vorausgefahren, und nun tun sie so, als ob sie sich zufällig hier kennen gelernt haben! – Was meinen Sie? Diese schnelle Vertraulichkeit spricht doch sehr dafür!«

Der Regierungsrat zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er, gerade er, hätte ja mit einem einzigen Wort sofort diesen Verdacht niederschlagen können – aber da sah er die junge Frau wieder vor seinem Blick vorhin, wie sie ihn kalt-verächtlich stehen ließ, und schnell erwiderte er:

»Wahrhaftig, da haben Sie recht, gnädige Frau! Das ist ein Gedanke! – Das würde ja sofort die ganze Situation erklären und – gründlich aufklären!« setzte er mit einem mephistophelischen Lächeln hinzu. »Ich bewundere wirklich Ihren Scharfsinn.«

Frau Geoffroy lächelte stolz. Eifrig entfuhr es ihr:

»Gott, man hat eben nicht umsonst in der Welt gelebt!« Dann aber schränkte sie rasch diese sie möglicherweise ja selbst mittreffende Bemerkung ein. »Da hat man eben leider um sich herum so viel Schlechtigkeit sehen müssen.« Ihr Ton wurde frömmelnd-jammernd, und die beiden anderen Damen nickten ihr mit gleichfalls schmerzlich verzogenen Mienen lebhaft zu. »Was passiert nicht leider tagtäglich – selbst in den höchsten Kreisen!«

»Freilich, es ist das eben bedauerlicherweise nicht zu verhindern,« stimmte der Regierungsrat ihr zu. Dann aber nahm sein Gesicht einen sehr würdigen Ausdruck voll hohen sittlichen Ernstes an. »Das einzige, was man als Mensch, der auf sich hält, tun kann, ist: Man scheidet sich reinlich von allen zweifelhaften Existenzen!«

So, nun hatte er rasch noch einmal unauffällig die Parole, auch für den vorliegenden Fall, ausgegeben und jetzt konnte er sich ruhig entfernen. Für alles Weitere würden die Damen da sorgen; seine Sache war in den denkbar besten Händen. Höflich zog er die Bordmütze:

»Ich will Sie nun aber nicht länger stören, meine Damen. Empfehl' mich ganz gehorsamst!«

Mit einer äußerlich sehr respektvollen Verbeugung verabschiedete er sich.

 


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