Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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VI.

Am hinteren Ende des langen Promenadendecks stand Frau Söllnitz, ganz allein. Die übrigen Reisenden drängten sich alle vorn auf der Back, wo eben die schwere Ankerkette aufgewunden werden sollte. Die »Hamburg« stand im Begriff, Island zu verlassen.

Die junge Frau war eben erst aus ihrer Kabine heraufgekommen, wo sie fast den ganzen heutigen Tag zugebracht hatte. Sie fühlte sich nicht wohl. Ein dumpfer Kopfschmerz hatte sie wieder einmal befallen. Außerdem hatte es sie auch nicht mehr gereizt, an Land zu gehen, wo heute den deutschen Besuchern von der freundlichen Bevölkerung Reykjaviks Pferderennen, Ringkämpfe und andere Sportschaustellungen dargeboten worden waren, die allerdings unter dem schlechten Wetter sehr gelitten hatten.

Auch jetzt strömte der Regen hernieder auf das regungslose glatte Meer, das grau und trübselig vor ihr lag, wie drüben die Küste Islands, das nach dem Innern zu durch dichte Nebelmassen dem Blick entzogen war.

Mit matten Augen sah Eva Söllnitz hinüber zum Land. Zum letztenmal schaute sie auf das Bild, das ihr im Laufe der Tage hier vertraut geworden war, trotz seiner Herbheit und Eintönigkeit. Nie wieder würde sie es sehen, und mit diesem entlegenen Gestade nie wieder auch ihn, den sie hier kennen gelernt, an den sich ihre haltbedürftige Seele so schnell gewöhnt hatte, und den sie mit wirklichem Schmerz entbehren würde – sie fühlte es nur zu gut.

Wozu erst dieses grausame Spiel des Zufalls, das Menschen zusammenwarf, um sie im nächsten Augenblick, gerad' daß sie sich erfaßt, wieder auseinander zu treiben – in alle Winde?

In schmerzliches Grübeln versunken, achtete die junge Frau nicht darauf, wie ein leises Zittern durch den Riesenleib des Schiffes lief, von der Maschine her durch die lange Welle hinten zur Schraube hin, die nun mit langsamen schweren Flügelschlägen schaumwirbelnd das Wasser aufpeitschte und ganz unmerklich das noch vom Anker gehaltene Schiff im Kreise zu drehen begann.

Erst laute Hurrarufe von vorn her, wo mehrere Boote vom Land, Abschied nehmend, am Bug der »Hamburg« lagen, und nun der dumpfe, markerschütternde Baß der Dampfpfeife, der ihr unvermittelt in die Ohren dröhnte, schreckten Eva Söllnitz aus ihrer Verlorenheit auf. Dreimal scholl das ohrenzerreißende Signal, fauchend und prustend mit furchtbarer Kraft, wie der Wutschrei einer gigantischen Bestie, und nun zeigte ihr ein Blick aufs Wasser, daß sie bereits dahinglitten – es war vorbei! Wenn noch in irgend einem dunkeln Winkelchen ihres Herzens etwas wie eine törichte Hoffnung sich versteckt hatte, er könne es sich etwa anders überlegt haben und doch noch im letzten Augenblick an Bord kommen, so war das jetzt aus. Jeder Atemzug brachte eine neue Entfernung zwischen sie und das graue Land dort – es war vorbei! Und das törichte Herz mußte sich eben auch an diese neue Enttäuschung gewöhnen lernen, wie an so vieles schon.

Eva Söllnitz raffte sich auf. Sie hörte die Schiffsgenossen, die lachend und laut schwatzend in kleinen Trupps den Gang heraufkamen. Sie trat dicht an die Reling und blickte so, den Nahenden den Rücken kehrend, hinaus, der Küste zu, die immer mehr im Nebel untertauchte.

»Guten Abend, gnädigste Frau.« Die unsympathische, geziert-vornehme Stimme des Regierungsrates klang da plötzlich neben ihr. »Endlich einmal wieder den Vorzug! Gnädigste sind ja ganz unsichtbar geworden.« Und er trat, die Mütze ziehend, zu ihr.

»Mir war nicht ganz wohl,« antwortete sie leichthin, seinen Gruß nur flüchtig erwidernd.

»Leider ja! Ich hörte es schon von Ihrer Stewardeß, da sie ja nicht zu den Mahlzeiten erschienen. Gnädigste Frau haben sich gewiß bei dem Parforceritt gestern etwas übernommen.«

Sie blickte unverwandt in die Ferne, aber sie hörte hinter dem anscheinend bedauernden Ton die geheime Bosheit heraus. Natürlich war ihr Ritt mit Amthor bereits wieder Schiffsgeschwätz. Aber mochten sie doch! Unwillkürlich warf sie den feinen Nacken ein wenig zurück, und ein leis ironischer Blick streifte ihn.

»Seien Sie ganz ohne Sorge. Der Ritt ist mir ganz ausgezeichnet bekommen.«

Er verneigte sich ein wenig gegen sie: »Schließlich auch begreiflich – unter so vorzüglicher Führung!«

Sie sah ihm ruhig ins Gesicht.

»Allerdings – Herr Doktor Amthor ist ein ausgezeichneter Führer, und,« sie betonte es mit voller Absicht, »der Ritt mit ihm war sehr genußreich.«

»Zweifle nicht daran,« erwiderte er mit seinem versteckten malitiösen Lächeln, dessentwegen allein sie ihn schon hassen konnte. Am liebsten hätte sie ihm verächtlich den Rücken zugekehrt, aber sie mußte ja nun doch einmal, hier auf das Schiff gebannt, gewisse Gebote der Lebensklugheit beachten. So fuhr sie denn, wie in natürlicher Erläuterung ihrer letzten Worte, fort:

»Ich habe unter Herrn Doktor Amthors Führung interessante Einblicke in Land und Leute Islands tun können, die Ihnen allen versagt waren. Ich freue mich daher sehr, daß der Zufall mich diese Bekanntschaft hat machen lassen. – Ah, guten Abend, Herr Kapitän!« wandte sie sich dann aber schnell an den gerade mit einem anderen Herrn vorübergehenden guten Bekannten, der – da er sie im Gespräch sah – nur liebenswürdig grüßend vorübergehen wollte.

»Pardon, lieber Professor, Sie entschuldigen mich wohl!« machte sich der galante alte Offizier alsbald von seinem Begleiter frei und trat ritterlich zu ihr. »Nun, Gott sei Dank, daß Sie wieder wohl sind, meine gnädigste Frau! Wir waren schon ganz unglücklich bei Tisch – nicht, Herr Regierungsrat?« Und artig küßte er ihre ihm gereichte Hand.

»Sollte Sie die Witwe Cliquot nicht schnell getröstet haben?« neckte sie ihn, auf sein regelmäßiges Tafelgetränk anspielend.

»Aber Gnädigste – wie können Sie glauben!« machte er gekränkt, was ihn aber nicht hinderte, mit den an Bord stets behandschuhten Händen nach seinem Zigarettenetui zu greifen. »Wir waren untröstlich – wahrhaftig untröstlich! –« er gab sich Feuer – »allerdings haben wir, ich will es nicht leugnen, aus dem Gefühl unserer Vereinsamung heraus eine zweite Carte blanche getrunken – aber nur aus Trauer! verlassen Sie sich darauf, gnädigste Frau.«

»Nun, es ist wirklich gut, daß ich wieder erscheinen kann – in Ihrem eigensten Interesse!« scherzte sie. »Daß Sie nicht noch tiefer in Ihre Junggesellengewohnheiten verfallen.« Sie drohte dem weinfrohen alten Seemann lächelnd zu.

»Küss' die Hand, gnä' Frau!« bekannte aber der Unverbesserliche. »In Ihrer Gesellschaft schmeckt's auch viel besser.«

Er lachte nach seiner Art vergnügt vor sich hin und ließ den jugendlich lebhaften Blick über die fast schon verschwundene Küste drüben gleiten. »Na, Island haben wir ja nun glücklich überstanden. Zum Abschied just das rechte Wetter!« er nickte ironisch zu dem herniedergleitenden Regen draußen vorm Schiff hin. »Ist auch nicht weiter schade drum. Aber wir haben 'nen nettes Souvenir mitbekommen, vom deutschen Konsul, einen jungen, niedlichen Blaufuchs – haben Sie ihn schon gesehen? Sein Käfig steht oben vorm Kartenhaus – und – ja, was sagen Sie dazu? – einen ausgewachsenen Isländer!«

»Was? Einen Isländer?« staunte der Regierungsrat. »Einen Pony meinen Sie?«

»Nee, nee – einen richtig gehenden, zweibeinigen Isländer!« versicherte Neidhardt, sich an ihrem Irrtum ergötzend.

»Ja aber – wie denn? Etwa als Wärter zu dem Blaufuchs?«

»I wo – als Passagier.«

»Wie?« Die Hand der jungen Frau legte sich plötzlich dem Kapitän auf den Arm, ohne daß sie es wußte. »Ein Passagier, der die Reise mit uns machen will?«

Der Kapitän nickte, harmlos vergnügt, daß seine Neuigkeit so viel Effekt machte. »Ja gewiß! Er ist noch kurz vor Tores Schluß an Bord gekommen, wie ich vorhin vom wachthabenden Offizier hörte.«

Eva Söllnitz durchfuhr es im Innern: Also doch er! Es konnte ja kein anderer sein. – Aber um sich Gewißheit zu verschaffen, wandte sie sich weiter, anscheinend unbefangen, an den Kapitän:

»Ach nein, was Sie sagen! Ein wirklicher Isländer? – Was ist er denn?«

Der Kapitän zuckte die Achseln: »Es soll ein Doktor sein – wie er heißt, weiß ich nicht.«

Die junge Frau frohlockte innerlich. Aber sie sah den heimlich lauernden Blick des Regierungsrats und so spielte sie die ihr aufgezwungene Rolle der Unbefangenen weiter.

»Aber das ist ja wirklich interessant. Das muß ich doch gleich Mrs. Sanderham erzählen!« Sie meinte eine Dame des engeren Verkehrszirkels, die kurz vorher vorübergegangen war.

So verließ sie die Herren, aber in Wahrheit nur, um Amthor zu suchen, dessen Anwesenheit an Bord für sie ja nun nicht mehr zweifelhaft war.

 


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