Johann Wolfgang von Goethe
Gedichte. Ausgabe letzter Hand
Johann Wolfgang von Goethe

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Antepirrhema

So schauet mit bescheidnem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein hinüber herüber schießen,
Die Fäden sich begegnend fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt!
Das hat sie nicht zusammengebettelt,
Sie hats von Ewigkeit angezettelt;
Damit der ewige Meistermann
Getrost den Einschlag werfen kann.

*

Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute,
    Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
    Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.

Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten,
    Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen,
    Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.

Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen,
    Fragt niemand mehr, und zierlich tätge Glieder,
    Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.

Ihr Müden also lagt vergebens nieder,
    Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben
    Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,

Und niemand kann die dürre Schale lieben,
    Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte.
    Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben,

Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte,
    Als ich inmitten solcher starren Menge
    Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte,

Daß in des Raumes Moderkält und Enge
    Ich frei und wärmefühlend mich erquickte,
    Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge.

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
    Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
    Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,

Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
    Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
    Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?

Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
    Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
    Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
    Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
    Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
    Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.

 


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