Johann Wolfgang von Goethe
Gedichte. Ausgabe letzter Hand
Johann Wolfgang von Goethe

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Der Gott und die Bajadere

Indische Legende

    Mahadöh, der Herr der Erde,
    Kommt herab zum sechsten Mal,
    Daß er unsersgleichen werde,
    Mit zu fühlen Freud und Qual.
    Er bequemt sich, hier zu wohnen,
    Läßt sich alles selbst geschehn.
    Soll er strafen oder schonen,
    Muß er Menschen menschlich sehn.
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
Verläßt er sie abends, um weiter zu gehn.

    Als er nun hinausgegangen,
    Wo die letzten Häuser sind,
    Sieht er, mit gemalten Wangen,
    Ein verlornes schönes Kind.
    Grüß dich, Jungfrau! – Dank der Ehre!
    Wart, ich komme gleich hinaus –
    Und wer bist du? – Bajadere,
    Und dies ist der Liebe Haus.
Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen,
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich, und reicht ihm den Strauß.

    Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
    Lebhaft ihn ins Haus hinein.
    Schöner Fremdling, lampenhelle
    Soll sogleich die Hütte sein.
    Bist du müd, ich will dich laben,
    Lindern deiner Füße Schmerz.
    Was du willst, das sollst du haben,
    Ruhe, Freuden oder Scherz.
Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

    Und er fordert Sklavendienste;
    Immer heitrer wird sie nur,
    Und des Mädchens frühe Künste
    Werden nach und nach Natur.
    Und so stellet auf die Blüte
    Bald und bald die Frucht sich ein;
    Ist Gehorsam im Gemüte,
    Wird nicht fern die Liebe sein.
Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

    Und er küßt die bunten Wangen,
    Und sie fühlt: der Liebe Qual,
    Und das Mädchen steht gefangen,
    Und sie weint zum erstenmal;
    Sinkt zu seinen Füßen nieder,
    Nicht um Wollust noch Gewinst,
    Ach! und die gelenken Glieder,
    Sie versagen allen Dienst.
Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.

    Spät entschlummert unter Scherzen,
    Früh erwacht nach kurzer Rast,
    Findet sie an ihrem Herzen
    Tot den vielgeliebten Gast.
    Schreiend stürzt sie auf ihn nieder,
    Aber nicht erweckt sie ihn;
    Und man trägt die starren Glieder
    Bald zur Flammengrube hin.
Sie höret die Priester, die Totengesänge,
Sie raset und rennet und teilet die Menge.
Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?

    Bei der Bahre stürzt sie nieder,
    Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
    Meinen Gatten will ich wieder!
    Und ich such ihn in der Gruft.
    Soll zu Asche mir zerfallen
    Dieser Glieder Götterpracht?
    Mein! er war es, mein vor allen!
    Ach, nur Eine süße Nacht!
Es singen die Priester: Wir tragen die Alten,
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
Wir tragen die Jugend, noch eh sies gedacht.

    Höre deiner Priester Lehre:
    Dieser war dein Gatte nicht.
    Lebst du doch als Bajadere,
    Und so hast du keine Pflicht.
    Nur dem Körper folgt der Schatten
    In das stille Totenreich;
    Nur die Gattin folgt dem Gatten:
    Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
O nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
O nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!

    So das Chor, das ohn Erbarmen
    Mehret ihres Herzens Not;
    Und mit ausgestreckten Armen
    Springt sie in den heißen Tod.
    Doch der Götter-Jüngling hebet
    Aus der Flamme sich empor,
    Und in seinen Armen schwebet
    Die Geliebte mit hervor.
Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

 


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