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Ebenso, wie dies bei Künstlern überhaupt leicht zu geschehen pflegt, hatte auch die leicht erregbare Phantasie des jungen Malers Salvatore Rosa sich die Verhältnisse in der Familie Mendoza doch etwas anders vorgestellt, als sie in Wirklichkeit waren. Cornelia fühlte sich kurz nach dem Tode ihrer Mutter zwar sehr unglücklich und einsam, aber sie liebte ihren Vater so sehr, daß ihr niemals ein Gedanke daran kam, sich nicht als die Tochter eines spanischen Edelmanns zufrieden zu fühlen. Allerdings bedauerte sie, daß von nun an auch der letzte Rest von Verkehr mit dem Hause Cortesi, den Angehörigen der verstorbenen Mutter, abgebrochen wurde, aber es kam dabei durchaus kein patriotisches Gefühl in Betracht, dazu war sie noch zu jung und doch auch zu sehr Spanierin. Das Gefühl des 122 Bedauerns hatte vielmehr, ihr selbst unbewußt, darin seinen Grund, daß sie früher dann und wann mit einigen ihrer mütterlichen Verwandten in Berührung gekommen und daß darunter ein junger Mann war, dessen Kommen und Gehen ihr noch halb kindisches Herz stärker klopfen ließ, und von dem sie nun fürchtete, er werde ihr väterliches Haus meiden und jeden Umgang mit ihrem Vater und somit auch mit ihr abbrechen. Dieser junge Mann war Ludovico Cortesi, der als Mitglied des Todesbundes ein gefährliches Spiel wagte, wenn er fortfuhr, mit der Familie Mendoza zu verkehren. Auch in bezug auf den knabenhaften Jüngling, mit welchem Salvatore ingrimmige Blicke gewechselt hatte, war der junge Maler in vollkommenem Irrtum, denn jener Jüngling war kein Spanier, sondern ein Neapolitaner, den der Graf Mendoza vor Jahren in das Haus genommen hatte und seitdem fast wie einen Sohn daselbst hielt. Cornelia hatte nämlich einen zwei Jahre älteren Bruder, Namens Rodrigo, gehabt, und dieser war als etwa zwölfjähriger Knabe von einer tückischen Krankheit plötzlich dahingerafft worden. Die ganze Familie war untröstlich, der Schmerz der Eltern herzzerreißend und Cornelias Thränen flossen unaufhörlich um den verlorenen Bruder. Da wollte es der Zufall, daß der Graf auf der Straße einen halb verhungerten Knaben entdeckte, der offenbar nicht von ganz gemeiner Herkunft, im Äußern sehr wohlgebildet und auch nicht ohne Erziehung war. In Neapel lebten Hunderte und Tausende von Kindern beiderlei Geschlechts ohne Eltern und Angehörige, den Tag über durch kleine Dienste oder auch durch Mildthätigkeit ihre Nahrung findend und des Nachts unter einem Portal, am Hafen zwischen Kisten oder wo sich sonst ein geschützter Ort bot, zum Schlafe gelagert. Wenn solche Kinder sich von ihren Eltern oder Geschwistern getrennt hatten, fügte es sich zuweilen, daß sie diesen in der nächsten Zeit begegneten und sie wiedererkannten, meistens aber verloren sie sich bald ganz aus dem Gesichte und wußten dann später nichts mehr voneinander. Selbstverständlich entstammten diese Kinder meistens der Hefe des Volkes und besaßen die ganze Leichtlebigkeit und Gedankenlosigkeit, welche das neapolitanische Volk kennzeichnet und welcher sich die größte Anspruchslosigkeit, aber auch eine gewisse Geriebenheit zugesellen. Aber es kam doch auch vor, daß unter diesen Kindern einzelne waren, die nicht recht verstanden, ihre Existenz zu finden und dann auf der Straße elend verkommen mußten. Ein solcher Fall würde sich vielleicht mit dem Knaben ereignet haben, über den der Graf Mendoza sich 123 wenige Tage nach dem Tode seines Kindes erbarmte. Er hatte ihn an einer Straßenecke aufgelesen, wo der arme Junge kraftlos hingesunken war. Auf die Fragen nach Namen und Alter war nur die Auskunft erfolgt, daß er Tebaldo heiße und vor einiger Zeit zwölf Jahre alt geworden sei. Es durchzuckte den Grafen, da dies genau das Alter seines verstorbenen Sohnes war, und ein tiefes Mitleid erfaßte ihn mit dem zu Tode ermatteten unglücklichen Knaben. Er ließ einen Diener bei ihm zurück, der ihm sofort Nahrung reichen und ihn in den gräflichen Palast bringen mußte. Dort nahm ihn die sanfte Gräfin in ihren Schutz, und so erholte sich der Findling bald. Da er sich sehr anstellig zeigte und mancherlei Kenntnisse verriet, die auf eine bessere Herkunft schließen ließen, gewann er bald die volle Gunst des gräflichen Paares und wurde der Gespiele und Studiengefährte Corneliens, die ihn Rodrigo nannte und mit welcher ihn bald eine besondere Liebhaberei für Musik innig verband.
Was der Knabe bisher von dieser Kunst erfahren hatte, beschränkte sich auf die volkstümlichen melancholischen Lieder, die man in den Straßen Neapels zu hören bekam, und nur selten hatte er einmal in der Kirche einer größeren Musikaufführung beigewohnt, die aber dann seinem Verständnis zu hoch war und ihn förmlich betäubte. Die Gräfin Mendoza spielte vortrefflich die Laute und sang dazu mit einer weichen melodischen Stimme. Sie hatte ihrem Töchterchen die Anfangsgründe der Musik beigebracht und später unterrichteten treffliche Lehrer das heranblühende Mädchen.
Die kirchliche Musik war damals durch einige Nachfolger des großen Palestrina auf eine sehr hohe Stufe gelangt. Der Ruhm des genannten Meisters überstrahlte vorläufig noch alle neueren Komponisten, bis ein Zögling seiner letzten Lebensjahre, Gregorio Allegri, ein Bruder des Antonio Allegri, der unter dem Namen Correggio als Maler unsterblichen Ruhm erworben hatte, in seine Fußstapfen trat und gleich ihm die Mitwelt begeisterte. Dieser Gregorio Allegri war ursprünglich Sänger in der päpstlichen Kapelle zu Rom und zog dann durch seine Kirchenkompositionen die Aufmerksamkeit der Kunstkenner auf sich.
Eines Abends kurz nach Ostern war ein Verwandter der Gräfin Mendoza nach Neapel aus Rom zurückgekehrt, wo er gleich vielen Tausenden von Fremden die Passionswoche verlebt und die großartigen Festlichkeiten mit angesehen hatte. Im traulichen Familienkreise erzählte er, was er geschaut und gehört hatte und verweilte namentlich bei der Aufführung des 124 Miserere von Allegri in der Sixtinischen Kapelle. Gegen 4 Uhr, so berichtete er, begaben wir uns in die Sixtina und saßen dem jüngsten Gericht des Michelangelo, das von der untergehenden Sonne beleuchtet war, gegenüber, in gespannter Erwartung des berühmten Gesanges der päpstlichen Kapelle. Der für die Damen bestimmte Platz füllte sich nach und nach mit schwarzgekleideten weiblichen Gestalten. Dann kamen die Kardinäle in violetten Gewändern mit ungeheuren Schleppen, und die Schleppenträger hatten viele Mühe, den zusammengerollten Schweif hinterher zu entwickeln und auseinander zu breiten. Nach und nach füllten sich die Sitze mit diesen und andern vornehmen Geistlichen. Die zahlreichen Kerzen wurden darauf angezündet und in feierlicher Stille erwartete man die Ankunft des Papstes. Nachdem er auf seinem vergoldeten Sessel hereingetragen worden und auf dem erhöhten Sitze vor dem Altare Platz genommen hatte, wurde das Zeichen zum Anfang gegeben. Zuerst wurden eine Anzahl Psalmen gesungen und dann begannen die Klagelieder des Propheten. Einige Stimmen klagen über den Tod des göttlichen Sohnes in so wehmutvollen Tönen, daß selbst ein verhärtetes Gemüt in Bangigkeit und Zerknirschung zerfließen mußte. Bei jedem einzelnen Gesange wurde eines der Lichter verlöscht, nur das letzte, vor dem Bilde der schmerzensreichen Madonna brennt endlich noch. Die Sänger einigten nun ihre Stimmen zu dem Miserere, und bei den ersten Tönen erlischt auch die letzte Kerze, so daß alles in Dämmerung versenkt blieb. Nur die Gestalten der Kardinäle und der Prälaten in weißen Gewändern, unbeweglich wie Bildsäulen sitzend, leuchteten durch das Dunkel; alle Sinne vergehen und die Seele lebt nur noch im erhabenen Reiche der Töne. In diesem Augenblick erhebt ein Chor unsichtbarer Sänger kraftvoll und durchdringend seine Stimme: Herr, erbarme dich unser! und nun wurde das Herz der Hörer von der Allgewalt des Allegrischen Werkes hingerissen. Den Anwesenden wurde es in diesem Augenblicke begreiflich, daß ein großer Musikkenner zum Heile seiner Seele nichts sehnlicher wünschte, als in der Stunde des Todes diese himmlischen Töne zu vernehmen, damit seine Seele durch dieselben aufwärts getragen werde zum Throne des Höchsten. Aber auch diese Wunderklänge verhallten endlich, so berichtete der neapolitanische Edelmann, und wir zogen dann zwischen den Hellebarden und Schwertern der päpstlichen Schweizergarden durch die schimmernden Säle des päpstlichen Palastes, über die von Fackeln erleuchtete Königstreppe hinab und durch unendliche Säulengänge in die machtvollen Hallen der Peterskirche.
125 Der begeisterte Erzähler konnte nicht müde werden, von dem zauberischen Eindruck zu berichten, und es entwickelte sich dann ein Gespräch über die Bedeutung der musikalischen Kunst, dem die beiden jungen Leute mit größter Aufmerksamkeit lauschten. In der Familie Cortesi war von jeher der Sinn für die Tonkunst rege gewesen. Die Spanier, welche damals auch in den Niederlanden herrschten, bewirkten eine wohlthätige gegenseitige Einwirkung von nordischen und südlichen Kunstbestrebungen. Schon unter Ferdinand von Aragonien hatte der berühmte Orlando di Lasso in Neapel seine Kunst mit großen Erfolgen ausgeübt, und nachdem er zwei Jahre daselbst gelebt hatte, ging er nach Rom und erhielt die Kapellmeisterstelle an der päpstlichen Kapelle des Lateran. Orlando war kein Italiener, er war im Hennegau geboren und hieß ursprünglich Roland Lattre; als aber sein Vater der Falschmünzerei angeklagt und überwiesen zu der damals gebräuchlichen Ehrenstrafe verurteilt wurde, mit einer Kette von falschen Münzen um den Hals dreimal um das Hochgericht zu gehen, änderte Roland seinen ursprünglichen Namen, verließ sein Vaterland und ging nach Italien. Als er dann päpstlicher Kapellmeister geworden war, erfuhr er, daß sein Vater gestorben sei und seine todkranke Mutter ihn noch einmal vor ihrem Ende zu sehen wünsche. Er eilte nach der Heimat, fand aber die Mutter bereits tot. Da er sich in Italien in seiner Kunst zur höchsten Meisterschaft ausgebildet hatte, drang sein Ruhm bald durch ganz Europa und er erhielt Anträge nach England und Frankreich. Er folgte jedoch einem Rufe des Herzogs von Bayern nach München, wo er nach und nach einen Ruhm erlangte, der durch die ganze zivilisierte Welt ging. Der König von Frankreich, der deutsche Kaiser Maximilian und der Papst überhäuften ihn mit Auszeichnungen und Orlando di Lassos zahlreiche Werke galten als vollendete Muster.
Inzwischen war in Italien eine neue Schule entstanden, deren Begründer Palestrina war und die eine Umwälzung in den musikalischen Ansichten bewirkte. Von Palestrinas Schülern war nur Allegri derjenige, welcher das meiste Aufsehen machte, und namentlich sein Miserere versetzte alle Freunde ernster Tonkunst geradezu in Begeisterung. In Rom wurde die Musik durch den päpstlichen Hof sehr unterstützt, und somit konnten auch die großen Kompositionen zu festlichen Gelegenheiten dort am besten zur Aufführung gelangen. In Neapel dagegen fand namentlich die weltliche Musik großen Aufschwung. Der schöne Himmel dieses herrlichen Landstrichs 126 und die reichen Gaben der Natur bewirkten eine Heiterkeit, Beweglichkeit, Schönheit und Sorglosigkeit des Lebens, wie sie für eine besonders gehobene musikalische Stimmung geeignet sind. Das gesamte Dasein daselbst ist eingetaucht in eine poetische Atmosphäre, und es erklärt sich hieraus, wie der weltliche Gesang, namentlich das Madrigal, einen besonders günstigen Boden fand und das durch den strengen Stil der Kirchenmusik etwas zurückgedrängte melodische Element größere Anerkennung erzielte. Das Madrigal war ein für mehrere Stimmen gesetztes Lied und wurde nicht nur selbstständig vorgetragen, sondern auch bei dramatischen Darstellungen sowie bei Festaufführungen und Maskeraden angewendet.
Von Florenz aus war schon vor längerer Zeit durch Vincenzo Galilei, den Vater des berühmten Astronomen, eine neue Art von musikalischer Komposition, nämlich das einfache Lied für eine Singstimme, in Anwendung gekommen, also eine kunstgemäße Veredelung des einfachen Volksliedes, und somit regte sich in Italien überall die musikalische Erfindung: der einstimmige Gesang, der mehrstimmige und der Chorgesang wurden nicht mehr ausschließlich zu Kirchenzwecken, sondern auch zu weltlichen Aufführungen und zur Hausmusik verwendet.
Es war für die musikalischen Bestrebungen in der Familie des Grafen Mendoza ein erwünschter Zuwachs, als der junge Findling, der sich Tebaldo nannte, so große Vorliebe und eine ausgesprochene Begabung für die Tonkunst verriet. Diese Annehmlichkeit steigerte sich, als nach mehreren Jahren seine Stimme sich entwickelte und er ein ungewöhnlich schönes, modulationsfähiges und kräftiges Organ zeigte. Hatte er bisher schon an dem Unterrichte und den musikalischen Übungen Corneliens teilgenommen, so steigerte sich dies nun mehr und mehr. Überdies brachte das Talent und die Stimmbegabung des jungen Mannes diesem auch manche gesellschaftliche Vorteile. Es bestand nämlich im Schlosse des Fürsten Gesualdo di Venosa, der von Jugend auf nur für die Musik lebte und schwärmte, eine Akademie für junge Tonkünstler, und es war ganz begreiflich, daß Tebaldo dort nach und nach nicht nur einer der beliebtesten Schüler wurde, sondern sich auch des intimen Umgangs mit dem Herzog und dessen Familie erfreuen durfte. So zeigte sich auch hier wieder, daß die wahre Liebe zu den Künsten alle Schranken niederreißt und die Menschen gleichsam in einem idealen Reiche zusammenführt, wo nur das größere oder geringere Talent den Ausschlag gibt.
Zwischen Cornelia und Tebaldo hatte sich nach und nach ein inniges 127 geschwisterliches Verhältnis herausgebildet. Es wäre in der Natur der Umstände begründet gewesen, wenn die Empfindung bei dem jungen Manne im Verlaufe der Zeit einen etwas andern Charakter angenommen hätte, aber er hatte längst bemerkt, daß Cornelia sich für ihren Vetter Ludovico Cortesi interessierte, und er bewahrte daher eine Art von ritterlicher Verehrung für das heranblühende Mädchen. Zu damaliger Zeit war das Gefühl des Standesunterschiedes viel schärfer ausgeprägt, und man empfand die Schranke ohne Bitterkeit. Überdies ließ der Graf Mendoza keine Gelegenheit vorübergehen, um, wo es geschehen konnte, ohne Tebaldo zu verletzen, diesen daran zu erinnern, daß Cornelia die Tochter aus einem der vornehmsten spanischen Häuser und zu einer ebenbürtigen Heirat bestimmt sei, während er sich eine Zukunft durch sein Talent und seine Begabung gründen müsse, wobei ihn der Graf dann nach Kräften unterstützen werde. Mehr noch als sonst hatte Tebaldo seit dem Tode von Cornelias Mutter sich in die Rolle des uneigennützigen Genossen seiner Pflegeschwester hineingedacht, er war gleichsam ihr Page, und auf diese Weise erklärten sich auch die entrüsteten Blicke, welche er damals mit Salvatore Rosa wechselte, als dieser mit seinen Augen das junge Mädchen fast durchbohren zu wollen schien.
Bisher hatte Ludovico sich Tebaldo gegenüber von einer Art freundlichen Wohlwollens gezeigt, wie es die sämtlichen Familienmitglieder thaten, da sie sahen, daß der Graf und die Gräfin den Findling als ihren Pflegesohn betrachteten und dieser selbst sich in den Grenzen bescheidener Zurückhaltung bewegte. Nun aber hielt es der junge Edelmann für zweckmäßig, sich mit seinem Landsmann auf einen etwas vertraulicheren Fuß zu stellen, um durch ihn einen unverfänglichen Vorwand zum öfteren Besuche des Palastes zu finden. Tebaldo war klug genug, diesen Grund zu durchschauen, aber sein Gefühl für Cornelia war durchaus uneigennütziger Art und er ging daher auf die Annäherung Ludovicos ein. Letzterer war nicht nur ein stattlicher und schöner, sondern auch ein kluger Mann, kenntnisreich und dabei geübt in allen ritterlichen Fertigkeiten. Sein Umgang konnte nur günstig auf den talentvollen Findling wirken, der gern jede Gelegenheit ergriff, um sich in allem Wissenswerten zu vervollkommnen. So befolgte jeder von ihnen seine besonderen Zwecke: Ludovico, indem er sich den Anschein gab, als verkehre er in dem spanischen Hause mit dem jungen Neapolitaner, und Tebaldo, indem er die weltmännischen Manieren des Edelmanns sich anzueignen suchte.
128 Eigentümlich war es, wenn sich im Gespräche der beiden jungen Männer die Ansichten über die gegenwärtigen Zustände Neapels begegneten, wie sie sich dann den Zwiespalt zu erklären suchten, der sich ihnen unwillkürlich aufdrängte. Tebaldo war ganz erfüllt von Verehrung und Bewunderung für seinen väterlichen Wohlthäter, den Grafen Mendoza; auch Ludovico ließ demselben Gerechtigkeit widerfahren und erkannte in ihm einen charaktervollen Mann von vielseitigen Interessen. Ebenso war ihr Urteil über den Fürsten Venosa und viele vornehme Spanier, welche in Neapel die höchsten Stellen bekleideten, was diese persönlich betraf, ein durchaus günstiges, und dennoch erschien in den Augen Ludovicos das ganze System der Regierung beklagenswert, ja empörend, wenn man berücksichtigte, daß die höchsten und einträglichsten Stellen im Lande an Fremdlinge übertragen waren und daß die Regierung selbst nicht das Geringste für die Hebung des öffentlichen Wohlseins that.
Ludovico und Tebaldo machten zuweilen gemeinschaftliche Ausflüge zu Pferde in der Umgegend, und hierbei bot sich ihnen die beste Gelegenheit, ihr Lieblingsthema zu besprechen.
Eines Tages schlugen sie den wundervollen Weg am Posilipp vorüber ein, den leuchtenden Golf zur Seite, die herrlichen Inseln Capri und Ischia fortwährend in Sicht. Sie dehnten ihren Ritt bis Bajä aus. Dieses Luxusbad der alten Römer bleibt für immer ein anziehender Punkt in Neapels Umgegend. Eine Art unheimlichen Gefühls ergriff sie, als sie an dem Monte Nuovo vorüberritten, der erst vor noch nicht hundert Jahren plötzlich durch vulkanischen Einfluß aus der Ebene emporgestiegen war und dessen Gipfel kahl in die Luft ragte. Man dachte noch immer, er könne jeden Augenblick wieder in die Erde versinken und dafür ein Abgrund an seiner Stelle gähnen. In Bajä hatten sie die Absicht, die Ruinen der alten Tempel und Kaiserpaläste zu besichtigen, worüber gegenwärtig das mächtige Kastell emporragte, welches der Herzog von Toledo dort oben errichtet hatte, um den ganzen Golf zu beherrschen. Tebaldo hatte in seiner Kindheit zu oft die harten Urteile des niederen neapolitanischen Pöbels über den Vizekönig Don Peter Toledo hören müssen, um sich nicht auch jetzt noch eine Art von grausamem Ungeheuer unter demselben vorzustellen, aber Ludovico war gerechter und gab zu, daß die Energie und rasche Entschlossenheit Toledos Neapel seiner Zeit vor den Türken gerettet habe. Nun war es ja sicher, daß ein so leichtlebiges, den sinnlichen Freuden in 129 hohem Maße ergebenes Völkchen wie die Neapolitaner sich am Ende auch unter türkischer Herrschaft ihre Freude am Lebensgenuß nicht hätten stören lassen, aber der Gedanke, daß eine christliche Bevölkerung unter dem Zeichen des Halbmondes regiert werden solle, war doch für einen Bekenner der Lehre des Kreuzes undenkbar. Es war im Jahre 1532, als Sultan Soliman in Ungarn einfiel und seine Flotte Unteritalien bedrohte. Damals stand der Herzog von Toledo so sehr in Gunst bei Kaiser Karl V., daß dieser ihn als Reisebegleiter mitnahm und mit einer reichen und hochgebornen Erbin verheiratete. Der kaiserliche Hof befand sich gerade in Regensburg, als die Türkengefahr alle Kräfte forderte, und Karl trennte sich von dem jungen Toledo, der wegen seiner Lust und Geschicklichkeit zu Ritterspielen Turnierkönig genannt wurde, und sandte ihn sofort aus Deutschland nach Neapel, damit er dort Maßregeln treffe, um das Reich zu retten.
Nun fand Toledo allerdings in Neapel ärgerliche Zustände. Der Adel nahm sich die unerhörtesten Freiheiten heraus und unter dem Volke trieb sich haufenweise schlechtes und liederliches Gesindel umher. Da galt es vor allen Dingen, aufzuräumen und einigermaßen Ordnung in die inneren Verhältnisse zu bringen. Es war aber keine Zeit zu verlieren und deshalb mußte mit unerbittlicher Strenge verfahren werden, die das Volk dann für Grausamkeit nahm.
Rasch mußten Anstalten getroffen werden, um das Land gegen den andringenden Feind verteidigen zu können. Die vorhandenen Kastelle wurden in besseren Stand gesetzt und längs der ganzen Küste eine Kette von Wachttürmen erbaut. Das Kastell St. Elmo wurde derart ausgerüstet, daß es für unüberwindlich gelten konnte. Zweimal kam die türkische Flotte vor Neapel in Sicht und die weniger geschützten Küstenorte mußten hart unter der Plünderung leiden. Waren seither die Landwege sämtlich durch die Briganten unsicher gemacht, so wurde es nun an den Küsten von seiten der türkischen Seeräuber noch schlimmer. Die Bewohner mußten ungeheure Summen aufbringen, um die weggeschleppten Verwandten und Mitbürger wieder loszukaufen. Endlich sahen die Türken die Erfolglosigkeit ihrer Versuche ein, und es war offenbar Toledos Verdienst, daß sie vom Lande abließen.
Nun begann der Vizekönig die Stadt selbst völlig umzuschaffen und in kurzer Zeit hatte er so viel für die Hebung des Verkehrs, die Gesundheit der Stadt und die Sicherheit der Bewohner gethan, daß die Bevölkerung 130 sich verdoppelte und Neapel in die erste Reihe der Großstädte trat. Sein Beispiel bewirkte Wunder. Bei einem vulkanischen Ausbruche, zu derselben Zeit, als der Monte Nuovo plötzlich durch unterirdische Kräfte aufstieg, wurde das nahegelegene Puzzuoli bis an die Dächer unter vulkanischer Asche begraben und alle Einwohner flüchteten, so daß der Ort zu veröden drohte. Da ließ sich Toledo daselbst einen Palast bauen, schenkte den rückkehrenden Flüchtigen Abgabenfreiheit und wohnte so lange unter ihnen, bis sie sich beruhigt hatten und die Stadt wieder bevölkert war.
In Neapel hatten damals auch reformatorische Schriften Eingang gefunden und die Lehre Luthers fand hier und da Anhänger. Dies veranlaßte den Kaiser, Toledo zur Einführung der Inquisition zu bestimmen, aber damit war seine Geltung beim Volke von Neapel verloren, und da er unter dem einheimischen Adel genug Feinde hatte, so vereinigte sich das Volk mit diesen, um gegen ihn zu wirken. Die Unterdrückung jeden wissenschaftlichen Aufschwungs, welche mit der Einführung der Inquisition gleichbedeutend war, brachte das Volk von Neapel in Aufruhr und Empörung, und obgleich Toledo nur mit Mäßigung gegen die ketzerischen Schriften vorging und alle öffentlichen Zusammenkünfte überwachen ließ, ohne eine strenge Inquisition einzuführen, kam es doch wiederholt zu Tumulten. Einmal entstand ein großer Volksaufstand, bei dem ein Fischer aus Sorrent, Namens Masaniello, vom Volke zum Anführer gewählt wurde. Der Aufstand wurde besiegt, aber es gelang dem Vizekönig nie wieder, das gute Einvernehmen mit den Bewohnern Neapels herzustellen.
Wie damals, so war auch später der eingeborne Neapolitaner überall der freisinnigen Richtung zugethan geblieben; einmal liegt es in der Natur der Sache, daß unterdrückte Nationen ihre eigne Befreiung vom Joche anstreben, und außerdem rief jede gesetzliche Bestimmung, welche von Spanien ausging, erbitterten Widerstand hervor. Somit fand auch die Inquisition stets in Neapel die haßerfülltesten Gegner, und ebenso wurden die Jesuiten, deren Stifter ein Spanier war, mit leidenschaftlicher Wut vom Volke gehaßt.
Als Ludovico und Tebaldo bei ihrem heutigen Ausfluge die Reste der kostbaren antiken Bauwerke zu Bajä in Augenschein nahmen, machte sich der Groll des jungen neapolitanischen Edelmanns wieder in mancherlei Betrachtungen Luft.
»Weshalb«, sagte er, »wendet die Regierung diesen Zeugnissen ehemaliger Herrlichkeit nicht größere Aufmerksamkeit zu? Unsre ganze Umgebung 131 birgt unermeßliche Schätze an Altertümern und am jenseitigen Ufer des Golfs, zu Füßen des Vesuvs, liegen ganze Städte unter Asche und Lava begraben. Was könnte da an Kostbarkeiten und wertvollen Kunstwerken zu Tage gefördert werden, was könnte geschehen, um dem Studium des Altertums zu Hilfe zu kommen? Aber für solche Unternehmungen hat man kein Geld, oder vielmehr, um die Sache beim rechten Namen zu nennen, man hat kein Verständnis, kein Herz dafür, man denkt und sinnt nicht darüber nach, wie man der Umgebung Neapels neue Reize verleihen und zu den Wundern der Natur die Schätze der alten Kunst fügen könnte, um dieses Stück Erde noch unvergleichlicher zu machen: man denkt und grübelt nur Tag und Nacht darüber, wie man das Land nutzbar machen und seinen Bewohnern den letzten Rest von Wohlstand durch übermäßige Abgaben abpressen kann. Aber ich sehe«, unterbrach sich Ludovico, als er den schmerzlichen Zug um den Mund des stumm zu Boden blickenden Tebaldo gewahrte, »daß meine Betrachtungen Euch nicht gefallen, obgleich Ihr selbst kein Spanier seid. Laßt es gut sein; ich will Euch nicht länger mit meinen Aussprüchen peinigen.«
Tebaldo blickte ihm traurig in die Augen. »Was soll ich Euch erwidern«, entgegnete er mit leiser, wehmütiger Stimme, »ich, der ich vielleicht längst nicht mehr am Leben wäre, wenn der Graf Mendoza sich nicht über mich erbarmt hätte? Mein Vater besaß ein kleines Landgut, und wenn wir auch in äußerster Dürftigkeit lebten, waren wir doch zufrieden und glücklich und auch in unsrer Familie lebte die Abneigung gegen die fremden Herrscher in diesem Lande. Mein Vater starb und wir waren ohne alle Mittel; meine Mutter fand bei einer Verwandten Unterkunft, eine erwachsene Schwester heiratete einen alten widerwärtigen Mann, der sie schon früher zur Frau begehrt und den sie wiederholt abgewiesen hatte, ein älterer Bruder kam zu einem andern Verwandten, ich und ein noch jüngerer Knabe sollten in der großen Stadt Neapel unser Brot suchen. Bald kamen wir auseinander und jeder ging seinen eignen Weg, bis ich endlich im Elend umgekommen wäre, wenn Graf Mendoza mir nicht seine hilfreiche Hand gereicht hätte. So groß war die Not meiner Kindheit, daß ich mich niemals um meine Angehörigen bekümmern konnte, die gleichfalls nach mir nicht weiter fragten. Mein Leben war durch den Grafen gerettet und unter dem Schutze seiner edlen Familie durfte ich nach und nach mich wieder meiner Menschenwürde erinnern, aber glaubt nicht, daß mein Gemüt seiner ursprünglichen Heimat abtrünnig geworden ist. Solange die Gräfin lebte, 132 bestand ein so stillschweigendes Einvernehmen zwischen der edlen Frau und mir, dem armen Knaben, denn wie bei ihr die unwiderstehliche Liebe mit der Anhänglichkeit an die Heimat im Zwiespalt lag, so kämpfte bei mir die Pflicht der Dankbarkeit mit der Erinnerung an die Grundsätze, welche ich in meiner frühsten Kindheit eingesogen hatte. Glaubt mir, es ist viel leichter, sich dem Gefühle der Liebe oder des Hasses ganz und ungeteilt hingeben zu dürfen, als genötigt zu sein, zwischen Pflicht und Pflicht zu schwanken, ohne sich mit voller Hingebung für eine Richtung entscheiden zu können. Schont daher mein ohnehin schwer belastetes Gemüt und laßt uns nie wieder in der Unterhaltung ein Gebiet betreten, auf welchem wir nur Mißverständnisse und Verstimmung finden können.«
Diese einfache Aufrichtigkeit des Jünglings fand im Herzen Ludovicos Anklang, denn der junge Edelmann sah ein, daß er seine Stellung jenem gegenüber mißbrauchen würde, wollte er ihm widersprechen. Auch wäre es in seiner Lage nicht klug gewesen, denn er selbst befand sich in einer Art von Konflikt zwischen der Liebe zu Cornelien und dem beschworenen Hasse gegen die spanischen Machthaber. Im Tone ungetrübten Wohlwollens sagte er daher: »Glücklicherweise gibt es ja andre Gebiete, auf denen wir unbesorgt gleichen Schritt halten können: die Kunst und die Wissenschaft. Und auf beiden herrscht gegenwärtig ein reges Leben. Habt Ihr schon vernommen, daß der Mathematiker Galilei, der Sohn des berühmten Musikers, in Rom angelangt ist, um sich vor der Inquisition zu verantworten? Er steht im Verdacht, allerlei Teufelskünste zu üben und vor allen Dingen mancherlei Lehren zu verbreiten, die sich mit der unantastbaren Heiligkeit der Kirche, will sagen des päpstlichen Stuhles, nicht recht vertragen sollen. Aber da fällt mir ein, daß wir hier in der Nähe von Cumä mit seinen Grotten und Höhlungen uns befinden, wo einstens die unheimliche Sibylle ihr Wesen getrieben haben soll. Ob wohl einmal eine Zeit kommen wird, in welcher die Menschen von allem Aberglauben erlöst sein werden?«
»Dann müßten sie alles klar erkennen und wissen«, versetzte Tebaldo, »denn solange die Natur noch irgend ein Geheimnis bewahrt, wird der menschliche Geist dies zu ergründen suchen und in diesem Bestreben auf mancherlei Abwege geraten.«
Die beiden Reiter bogen in diesem Augenblicke um eine Ecke, da sie die Absicht hatten, das große Wasserreservoir, die sogenannte piscina mirabilis, zu besichtigen, welches nahe am Kap Miseno vom Kaiser Augustus angelegt 133 war, um für die Flotte auf längere Zeit gutes Trinkwasser aufzubewahren. Dieses wunderbare Bauwerk, das aus großen Hallen, von achtundvierzig Pfeilern getragen, besteht, die zu ihrer Zeit stets mit frischem Trinkwasser gefüllt sein mußten, ist noch jetzt in seinen Resten ein merkwürdiger Beweis für die Energie und Thatkraft der alten Römer.
Beim Umreiten der Ecke hatten die Pferde zwei Fußgänger erschreckt, die von einer andern Seite gekommen sein mochten und die Reiter offenbar nicht früher bemerkt hatten. Es war ein älterer Mann in Begleitung eines jungen Mädchens. Letztere schrie vor Schrecken laut auf und zog in ängstlicher Hast den Mann beiseite, der nun erst aus seiner nachsinnenden Haltung emporfuhr und gleichfalls die Gefahr bemerkte. Die beiden Reiter riefen den Wanderern ein Wort bedauernder Entschuldigung zu und setzten dann ihren Weg fort. Ein Blick hatte genügt, um ihnen zu zeigen, daß der alte Mann mit langem schwarzen Rocke und schwarzem Barett auf den grauen Haaren eine Art Gelehrter sein mußte, während das junge Mädchen in etwas abenteuerlicher Kleidung, zart und schmächtig von Gestalt, mit blassen schmalen Wangen, aber großen, ausdrucksvoll schönen Augen, für seine Tochter gelten mußte. Die beiden zogen langsam ihres Weges weiter, da jedoch die Reiter bald Halt machen und ihre Pferde einem Bauernburschen zur Bewachung übergeben mußten, weil das antike Bauwerk sich in einer Thalmulde befand, die nur zu Fuße betreten werden konnte, so traf es sich, daß die Fußgänger ihnen abermals begegneten. Nun hielt es Ludovico für angemessen, nochmals einige Worte der Entschuldigung wegen des verursachten Schreckens zu sagen, worauf der Alte geziemend antwortete, während das Mädchen unter dem forschenden Blicke Tebaldos errötete. Dieser betrachtete sie anfangs mit einer Art kindischer Neugierde und Verwunderung, weil sie das Haar kurzgeschnitten trug wie ein Knabe, als er aber in ihre tiefschwarzen melancholischen Augen geblickt hatte, durchrieselte ihn ein seltsam neues Gefühl. Zwischen Ludovico und dem Alten gab ein Wort das andre und letzterer erwies sich als genauer Kenner der Gegend. Wie er sagte, machte er fast täglich diesen Weg, nicht des alten Bauwerks wegen, sondern weil ziemlich in der Nähe sich von einem Vorsprunge des Kaps eine ganz entzückende Aussicht auf das Meer und die nahen Inseln eröffne. Diesen herrlichen Blick wollten sich die beiden jungen Männer nicht entgehen lassen, und sie fragten daher um die Erlaubnis, sich dem Alten und seiner Begleiterin anschließen zu dürfen. Die Piscina 134 wollten sie dann später besichtigen und die Pferde konnten unterdessen etwas Futter bekommen. Mit Freuden erfolgte die Gewährung, und bald zeigte sich der Alte von einer sehr gesprächigen Seite, denn er erklärte die Aussichtspunkte und legte dabei nicht nur eine genaue Kenntnis der Örtlichkeit an den Tag, sondern er verstand auch in sehr fesselnder Weise die mannigfaltigen geschichtlichen Erinnerungen zu beleben, welche sich an alle diese Küsten, Inseln und Ruinen knüpften. Das Gespräch wurde vorzugsweise zwischen dem Alten und Ludovico geführt, da Tebaldos schweigsame Natur ihn nur zuweilen eine Bemerkung einschieben ließ und das junge Mädchen zwar mit den Augen den Erörterungen genau folgte, aber kein Wort dazu sprach. Die Redseligkeit des Alten brachte ihn dazu, mancherlei eigne Ansichten einfließen zu lassen, und da er von den Heilkräften der Thermen zu Bajä, welche die alten Römer schon hochpriesen, von den geheimen Zauberkünsten der Sibylle und bei der Gelegenheit des Serapistempels zu Puzzuoli auch von den Mysterien der ägyptischen Priester sprach, konnte nicht verborgen bleiben, daß er viel von unerforschten Kräften der Natur und ihrer Einwirkung auf die Menschenseele hielt. Im Verlauf sollte sich dies noch weiter zu erkennen geben. Es machte sich fast von selbst, daß der alte Mann die beiden jungen Leute auch zu der Besichtigung des kolossalen Reservoirs begleitete, und es geschah dann wie zufällig, daß er unterwegs einige Kräuter abpflückte und sich über deren heilsame Eigenschaften ausließ. So kam es ganz ohne Neugier von seiten Ludovicos zu einer Erklärung, bei welcher der alte redselige Mann sich als Arzt und Naturforscher zu erkennen gab und mancherlei mysteriöse Andeutungen über seine Versuche auf dem Gebiete der Alchimie machte. Da es nun sehr verschiedene Klassen von Heilkünstlern in Italien gab, vom herumziehenden Marktschreier angefangen bis zum hoch angesehenen Doktor und fürstlichen Leibarzt, so erweckte natürlich das Geständnis des Alten das Interesse seiner neuen Bekannten und das Gespräch wurde immer lebhafter von beiden Seiten. Tebaldo verhielt sich nach wie vor mehr zuhörend als mitredend, denn offenbar zog ihn der Blick aus den großen seelenvollen Augen des jungen Mädchens ebenso sehr an, wie ihres Begleiters wissenschaftliches Gespräch. Ihr zarter Wuchs und das farblose Gesicht weckten sein Mitleid, aber so oft ihr schüchternes Auge dem seinigen begegnete, durchzuckte ihn ein ungekanntes Gefühl tieferer Teilnahme, und da er selbst durch Leiden erzogen war, so ahnte seine Seele hier ein verwandtes Schicksal.
135 Ludovico war inzwischen mit dem Alten soweit gekommen, daß dieser die beiden jungen Herren aufforderte, mit ihm seine Wohnung zu betreten und sich sein Laboratorium anzusehen. Dem jungen Edelmann war eine solche Gelegenheit noch nicht geboten worden, und da ein von ihm an Tebaldo gerichtetes fragendes Wort zustimmend beantwortet wurde, so war die Sache bald in Ordnung gebracht. Der Bauernbursche, der die Pferde hielt, kannte des Doktors Wohnung. Er wurde nun beauftragt, nachdem die Tiere ihr Futter verzehrt hatten, dieselben vor das Haus des alten Gelehrten zu führen, um die Herren dort zu erwarten.
Diese begaben sich erwartungsvoll mit dem seltsamen Arzte und seiner Tochter nach dessen Hause, welches mit einigen kleinen Nebengebäuden, einem Stall und einer Remise inmitten eines Gartens stand und offenbar von niemand außer ihm und dem Mädchen bewohnt wurde, denn als sie dort anlangten, zog er bedächtig einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die wohlverwahrte Hausthür.
Nachdem sie eingetreten waren, erwartete die beiden jungen Männer eine Überraschung nach der andern. Das Mädchen mochte vielleicht eine abgesonderte Kammer für sich haben, sonst aber waren alle Räume des Hauses angefüllt mit alten Büchern und Pergamenten, die auf Regalen an den Wänden umherstanden, während auf zahlreichen Tischen und Gestellen Tiegel und Phiolen, Gläser und allerlei Werkzeuge umherlagen und standen. Auf dem Boden sah man überall ausgestopfte Tiere; seltsame Zeichnungen und Bilder hingen an den Wänden und selbst von den Decken herab baumelten mißförmige getrocknete Fische und Amphibien. In mehreren der Räume befanden sich Kochherde, auf denen wiederum allerlei seltsames Geschirr zum Gebrauche stand. Mit großer Lebhaftigkeit erklärte der alte Mann jeden einzelnen Gegenstand. Er nannte sich Scaratuli und begann nun auch mancherlei aus seinem Leben zu berichten. Er wollte die Arzneimittel aller Länder genau kennen, behauptete, Medizin studiert zu haben, nebenbei aber habe er sich mit den erhabenen Wissenschaften der Negromantie und Astrologie beschäftigt und sei endlich zu der Überzeugung gekommen, daß es ihm gelingen müsse, den Stein der Weisen zu entdecken. Er forderte seine Gäste auf, sich niederzulassen, und das junge Mädchen, welches von dem Alten Serpa genannt wurde, machte drei Stühle von den darauf liegenden Gegenständen frei und stellte sie in die Nähe eines Tisches. Auf einen Wink des Alten entfernte sie sich darauf geräuschlos. Dann brachte 136 dieser ein schön verziertes Kästchen zum Vorschein, schloß dieses auf und entnahm demselben drei aus weißem Thon geformte Tabakspfeifen, welche er mit dem gleichfalls im Kästchen befindlichen Tabak füllte und den jungen Männern darbot. Diese kannten zwar den Tabak bereits, aber das Rauchen war ihnen doch noch eine sehr ungewohnte Sache, und da überdies die Meinung über die Wirkung des neuen Genußmittels sehr geteilt war, so dankten sie ablehnend, baten aber zugleich ihren seltsamen Wirt, sich nicht vom Rauchen abhalten zu lassen. Ludovico setzte scherzhaft hinzu, das Rauchen sei bei den Amerikanern ein Zeichen friedlicher Gesinnung und solle deshalb auch hier als solches angesehen werden.
Darauf zündete der Alte den Tabak in seiner Pfeife an, zog behaglich an dem langen Rohre, welches aus dem kleinen Thonköpfchen hervorragte, und es währte nicht lange, so zogen die blauen Rauchwolken durch das Gemach und hüllten die nächsten Gegenstände in einen geheimnisvollen Schimmer.
Es machte einen eigentümlichen Eindruck, als bald darauf die zarte Hand des jungen Mädchens den Vorhang vor der einen Thür zurückschlug, worauf sie geräuschlos eintrat, in der andern Hand einen glänzenden Metallteller tragend, auf welchem sich eine mit Wein gefüllte, bunt bemalte Flasche und drei dazu gehörige Gläser befanden. Schweigend setzte sie den Teller auf den Tisch, aber nachdem dies geschehen war, schlug sie ihre großen tiefen Augen zu Tebaldo auf. Der Vater gebot ihr, den Gästen nach dem Wein auch Kaffee anzubieten, welchen sie sofort bereiten solle. Sie nickte und entfernte sich dann errötend, lautlos, wie sie gekommen war. Es schien fast, als sei ihre Gestalt aus einer Wolke hervorgetreten und wieder in einer solchen verschwunden.
Der Alte füllte die Gläser und forderte seine Gäste zum Trinken auf. Es war der feurige Wein des Vesuvs, wie sie ihn schon öfter getrunken hatten, aber die eigentümlichen Umstände bewirkten, daß er ihnen würziger erschien und ihr Blut mehr erregte als sonst. Je mehr der Alte die stark duftenden Tabakswolken aus Mund und Nase stieß, um so behaglicher fühlte er sich und um so gesprächiger wurde er. Er erzählte, wie er in früherer Zeit lange Jahre hindurch die Welt als Quacksalber und Charlatan durchzogen und viel Geld aus der Dummheit der Menschen geschöpft habe. Auch jetzt noch mache er alljährlich mehrmals seine Reisen, und nebenan in den Seitengebäuden befanden sich der Wagen und das Maultier, deren er sich dabei bediente. Er hätte sich längst zur Ruhe setzen können, sagte er, aber 137 er durfte dies nicht wagen, damit das dumme Volk umher nicht von seinem Reichtum erführe und zugleich eine Erklärung für sein fortwährendes Schaffen und Arbeiten im Laboratorium hatte. Er behauptete zwar, daß er seine Patienten stets nur durch wirkliche Arzneimittel zu kurieren suche, aber die ganze gebildete Welt wußte ja, was es mit diesen Tränklein, Pillen und Pulvern auf sich hatte. Ludovico und Tebaldo sahen hinlänglich ein, daß der alte Scaratuli sofort in den Verdacht der Zauberei kommen würde, wenn das Volk erführe, daß er nach dem Stein der Weisen und dem Lebenselixir suche und dabei ganze Kasten voll Geld besitze. Ohne Zweifel würden die Nachbarn ihn längst als Hexenmeister umgebracht und sich in seine Schätze geteilt haben. Nun aber glaubten sie, er koche und braue nichts weiter als Heiltränklein für verschiedene Krankheiten und lebe dabei in Armut und Bedürfnislosigkeit.
Inzwischen erschien die blasse Serpa wieder und brachte drei kleine Schalen voll dampfenden Kaffees. Auch dies war ein ungewöhnlicher Genuß, den die Gäste nicht ausschlugen, obgleich der Trank sie sehr erhitzte.
Der Alte erzählte noch mancherlei von seinen Reisen und seinen zahlreichen Experimenten, um Wunderelixire hervorzubringen. Seinen beiden Zuhörern erstarben nach und nach die Fragen und Einwendungen im Munde, so eifrig spann er selbst den Faden seiner Rede weiter, ohne sich zu unterbrechen. Offenbar übte der starke Tabaksgenuß eine aufregende und alle seine Lebensnerven zu höherer Thätigkeit treibende Wirkung auf ihn, während die schwüle Luft, der Kaffee und das Einatmen des Rauches seine Zuhörer betäubte und in einen ungewohnten Zustand von Reizbarkeit versetzte. Und als nun der Alte weiter erzählte, wie es ihm einmal beinahe gelungen sei, den Stein der Weisen zu erzeugen, durch dessen Besitz man nicht nur unedle Metalle in Gold verwandeln, sondern auch das Lebenselixir gegen Tod und Krankheiten bereiten, sich unsichtbar machen und verborgene Schätze im Innern der Erde entdecken könne, da bemächtigte sich nach und nach der jungen Männer ein Zustand unheimlicher Trunkenheit des Geistes; es schien ihnen, als bewegten sich die Tiergestalten, welche von den Gestellen und von der Decke herabdräuten, der hin und her ziehende Rauch bewirkte seltsame Verschiebungen der Gerätschaften, und es wurde beiden zuletzt so unheimlich, daß Ludovico sich endlich ermannte, und ohne darauf zu achten, daß der Alte in gehobenem Tone noch immer weiter sprach, von seinem Sitze aufsprang, seinen Gefährten an der Schulter faßte und ihm zurief, 138 es sei Zeit, sich zu entfernen. Auch Tebaldo erhob sich ganz verwirrt, und beide erklärten nun dem alten Scaratuli, so interessant sie seine Mitteilungen fänden, ihre Zeit sei um und sie müßten sich eilig auf den Heimweg begeben.
Scaratuli entschuldigte sich, daß er sich habe hinreißen lassen, sein Gespräch zu weit auszudehnen, und sprach die Hoffnung aus, die Herren gelegentlich einmal wiederzusehen. Wie es schien, befürchtete er, in seinen Mitteilungen vielleicht zu weit gegangen zu sein, und er schloß nun mit der Bemerkung, er sei ein einfacher Heilkünstler, der bei seinem Forschen nach den Arzneimitteln gegen allerlei Gebresten des Leibes auch zuweilen einmal einen Seitensprung auf das Gebiet der Alchimie und Astrologie mache. Dabei sei im Grunde nichts Übles, aber das gewöhnliche Volk dürfe davon nichts bemerken, sonst sei seine Sicherheit dahin.
Er begleitete seine Gäste darauf bis vor das Haus, wo der Bauernbursche mit den Pferden bereits lange wartete. Vergeblich hatte Tebaldo gehofft, das junge Mädchen noch einmal zu erblicken, sie war nicht mehr sichtbar geworden. Bald saßen die beiden jungen Männer zu Pferde und ritten nach Neapel zurück. Sie sprachen wenig zusammen, denn jeder hatte damit zu thun, die empfangenen Eindrücke sich zurecht zu legen, aber sowohl Ludovico wie Tebaldo empfanden die erfrischende Wirkung der vom Meere herkommenden Luft sehr wohlthuend für die Kopfnerven. Die erste Bemerkung, welche Ludovico machte, bezog sich auf diese angenehme Empfindung, und obgleich er dem Genuß des Tabaks nicht entgegen war, meinte er doch, daß der alte Scaratuli demselben in übermäßiger Weise fröne. Tebaldo stimmte ihm darin bei und setzte mit ziemlicher Entrüstung hinzu, es sei kein Wunder, wenn das arme Kind des wunderlichen Magiers unter der Einwirkung solcher giftigen Dünste blaß und kränklich aussehe. Offenbar fühlte Ludovico weniger Mitgefühl für das kränkliche junge Geschöpf, denn er erwiderte ziemlich gleichgültig, das sei wohl glaublich, und es bleibe nur zu hoffen, daß der Alte in möglichst kurzer Zeit sein Lebenselixir wirklich zustande bringe, sonst werde die bleiche Kleine bald ausgehen wie ein Licht in solcher ungesunden Atmosphäre. Tebaldo schwieg und sie sprachen wenig mehr zusammen, bis sie sich bei der Ankunft in Neapel voneinander trennten. 139