Karl Gjellerup
Antigonos
Karl Gjellerup

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Der Apostat

Des Tages blutiges Schauspiel war beendet. Die zerrissenen Leichen wurden ins Spoliarium hinausgeschleift, und die erfreuten Bürger fingen an, wie ein summender Bienenschwarm aus seinem Korbe, aus dem Zirkus zu strömen. Ein großer, in einen griechischen Mantel gehüllter Mann, mit kurzgeschnittenem braunem Bart und edlen Gesichtszügen, die wohl den vierziger Jahren angehören konnten, drängte sich barsch durch die Menge hindurch und ging mit hastigen Schritten am Cybeletempel vorüber durch den Homerischen Säulengang nach dem Palast des Prokonsuls, an dessen blinder Vorderseite zwei Legionärsoldaten hin- und herwanderten, – steif und ernst, wie ein paar dädalische Bildsäulen.

Er klopfte mit dem Türhammer, und der Pförtner ließ ihn ein. In der Vorhalle öffnete sich ihm ein schöner, unbegrenzter Fernblick mit wechselndem Spiel von Licht und Schatten, mit dem geräumigen Vorhof als Vordergrund, und im Hintergrund geschlossen, wo über den grünen Kuppeln der Platanen und den Obelisken der Pappeln die hermäeutische Bucht ihre blaue Fläche wie eine Mauer aus Saphirsteinen erhob. Er näherte sich schnell dem Atrium, einer prächtigen Halle, deren getäfelte Decke von sechzehn schlanken korinthischen Säulen getragen wurde; unregelmäßig gruppiert, glichen sie einem dem Mosaikboden entwachsenden Wäldchen aus Marmor. Durch die große Lyra der Decke strömte das helle Tageslicht in den Saal. Mitten im stärksten Lichtglanz neben dem Regenfang, aus dessen Marmorbecken ein Springbrunnen seinen dünnen Wasserstrahl bis hinauf zur Deckenlyra schickte, saß eine Frau, in deren Schoß ein zwölfjähriger Knabe seinen Kopf barg. Eine unten mit einem goldenen Rand umsäumte Stola aus violetter Seide umhüllte mit ihrem faltenreichen Glanz ihre Gestalt bis an die Spitzen der weißen Schuhe. Eine hohe Goldspange krönte den vordersten Rand des künstlich gekräuselten, blankbraunen Haares, das im Nacken von einem goldenen Netz umschlossen wurde. Ihre Züge ließen erkennen, daß sie nicht mehr jung war, aber sie hatten sich noch ihre plastische Schönheit bewahrt: die gerade Linie der Stirn und Nase verrieten die Griechin.

Als sie Schritte hörte, erhob sie sich schnell und ging dem Kommenden entgegen.

»Ist alles vorüber, Eukrates?«

»Für heute Schwester – ja.«

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf:

»Sind denn noch mehrere übrig?«

»Noch! Die Verfolgung wird vorläufig nicht unterbrochen; sie frißt um sich wie der Krebs. Der Pöbel hat Geschmack am Blut bekommen, du hättest sie müssen rufen hören; besonders als der Knabe Germanicus selbst den Löwen reizte. Einer schrie: ›Hinweg mit den Gottlosen; Polykarpos heraus!‹ Und dann erhob sich ein Gebrüll durch den ganzen Zirkus, das wohl eine halbe Stunde währte; es klang als ob die Zuschauer selbst die Tiere wären; und dein Mann, Erinna – gibt nach.«

Während Erinna den Bruder anhörte, lag ein schmerzlich zuckender Ausdruck um ihre Lippen, und die zusammengepreßten Hände ringend, starrte sie in den Regenfang hinab, als zähle sie die Kreise, die durch die herabfallenden Tropfen der Fontäne gebildet wurden.

»Mutter, darf ich dann?« fragte der Knabe, indem er sie leise an der Stola zupfte.

»Was ist's denn? wieder hinaus? – Du kommst ja gerade von draußen.«

»Ja, aber es war so hübsch auf dem Markte; die Leute schrien und riefen.«

»Was riefen sie denn, Cajus?« fragte sie gedankenlos, indem sie die mit Ringen übersäten Finger durch sein kurzes, schwarzgelocktes Haar gleiten ließ.

»Ach, die riefen so vieles; aber besonders riefen sie nach Polykarpos und nach dem Bekenner Theophilos.«

Erinnas ruhiges Antlitz zuckte zusammen; ihre Hand stieß den Knaben von sich.

»Geh!«

»Darf ich?«

»Nein. Geh' zum Pädagogen ... Hörst du?« brach es mit einer plötzlichen Heftigkeit aus ihr hervor, als er Einwendungen machen wollte, und er eilte hinweg, sein verwundertes Kindergesicht nach ihr umwendend.

»Eukrates,« sagte sie, als der Knabe gegangen war, und dicht an den Bruder herantretend, ergriff sie ihn am Arm, daß er das starke Zittern ihres Leibes fühlen mußte. »Eukrates! hast du's gehört?.. Den Bekenner Theophilos ... sie dürfen ihn nicht erfassen ... Er darf nicht gesund werden, bevor alles vorüber ist ... Er darf nicht einmal zum Bewußtsein kommen, sonst könnte er wohl selbst – – Schwöre mir's bei Asklepios!«

»Meine Kunst steht zu deinen Diensten .... Aber, was fehlt dir, Erinna? Du bist ja blaß – du zitterst.«

»Weil ich ihn kenne und weil er der erste Mann ist, den ich gekannt habe. Aber du wirst ihn nicht wiedererkennen! Das ist so lange her.«

»Was meinst du?«

Sie blickte scheu um sich; dann, als fürchtete sie, daß sich jemand hinter den Säulen verborgen halte, flüsterte sie ihm schnell zu:

»Antigonos, der Sohn des Zauberpriesters Lagos aus Larissa.«

»Antigonos?« rief Eukrates. Arme Erinna! ... Der Sohn des Goeten ein galiläischer Asket! Wahnsinn zeugt Wahnsinn. ... Aber zittre nicht, liebe Schwester – er soll nicht mit fortgerissen werden bei der Verfolgung, dafür hafte ich dir....

Komm, wir wollen nach ihm sehen.« Er legte seinen Arm um sie, und sie gingen langsam durch das Atrium die Treppe hinauf zum oberen Stockwerk. Als die Reiterschar mit ihrer Beute nach Smyrna kam, war Antigonos noch bewußtlos und von starkem Fieber ergriffen.

Statius Quartus war im Kerker. Da er die Verfolgung gesetzmäßig, von Amts wegen, ohne Grausamkeit vollführte, war es sein Wunsch, den Leidenden zu retten, um so mehr, als er erfuhr, daß er der während der Hungersnot vom Pöbel gepeinigte Bekenner Theophilos sei. Auch ließ er es durchgehen, daß Polykarpos auf der Gemeinde Fürbitten hin sich in seiner Villa verberge, bis er in das Haus eines seiner Untergebenen gebracht würde.

Als er nach Hause kam, besprach er die Sache mit Erinna.

Beim Namen Theophilos überlief sie ein starkes Erröten, und sie ging sofort zu ihm. Obschon die verflossenen zwanzig Jahre und das starke Fieber sein Haar und seinen langen, filzigen Bart gebleicht, sein Antlitz gefurcht und abgezehrt hatten, erkannte sie doch sofort die geliebten Züge.


Als ihr Mann erfuhr, daß der Kranke Antigonos von Larissa sei, der ihr das Leben gerettet hatte, wurde er tief ergriffen.

Erfreut darüber, ihm seine Wohltaten vergelten zu können, schlug er selbst vor, ihn in sein Haus überführen und ihn pflegen zu lassen und auf jede mögliche Weise dafür zu sorgen, daß er der Verfolgung entginge. Nur, wenn er gesunde und selbst verlange, das Los seiner Glaubensgenossen zu teilen, könne er ihn nicht daran hindern. Denn das Gesetz vor allem! Aber die Kranken bekämpfe es nicht.

Eukrates und Erinna standen still vor einer Tür. Hinter ihr hörten sie gedämpfte Töne. Der Kranke war es, der sang. Sie meinten, es seien Psalmen, und wechselten bedeutsame Blicke miteinander.

»Das ist ein bedenkliches Zeichen,« sagte Eukrates.

Sie öffneten die Tür. Das Zimmer bestand aus zwei gleichgroßen Vierecken, die in einem rechten Winkel aneinander stießen, wie die Ecken eines Ganges. Ein Fenster der Tür gegenüber gab beiden Hälften Licht. Da das Lager Antigonos' in der anderen Hälfte stand, konnten sie ihn beim Eintritt noch nicht sehen. Aber sie hörten deutlich die Worte:

»Einst lacht' ich seiner Pfeile,
doch süß der letzte schmerzte –
weit flog ich, ihn im Herzen,
hin, nach Elysiums Ruhe!«

Erinna blieb wie festgewurzelt stehen; ein Lächeln huschte über ihre Züge. Sie erkannte das Lied von der Zeit ihrer Zusammenkünfte im Tempetale wieder. Daß er es aber jetzt sang!

»Das klingt ja recht wenig beängstend,« flüsterte Eukrates lachend.

Sie winkte der Sklavin, die nahe bei der Tür über einem Kohlenbecken einen Heiltrank zubereitete. Diese entfernte sich.

Als sie um die Ecke bogen, sahen sie Antigonos aufrecht im Bett sitzen. Seine Wangen waren blaß, seine Augen klar und ohne Fieberbrand. Ein schönes Lächeln kräuselte seine Lippen.

»Ach, ich wußte wohl, daß du kämest, Erinna,« rief er, indem er die Arme ihr entgegenstreckte. Während die Flammen des Fiebers mich brannten und blendeten, fühlte ich ein Weib an mir vorüberstreifen, und das Rauschen ihrer Seide war mir wie das Rieseln des Peneus; sie beugte sich über mich, und ein milder Atem kühlte meine Stirne, als ob ich Zephirs mit Weihrauch gesalbte Flügel vernähme, so wie er zur Abendzeit in Platanen und Lauren rauschend, durch Tempe flog, – und mir ahnte dann, daß du es seiest. – Bei Endymion! ich wußte es, daß wir einander sehen würden.«

»Antigonos! Du kennst mich noch – nach Verlauf so vieler Jahre?« flüsterte Erinna, die an seinem Lager hingesunken war und ihre Lippen auf seine kalten Hände drückte.

»Ja, es ist lange, lange her. Besinnst du dich noch, als ich zuletzt dieses Lied sang, da kamst du, um Abschied von mir zu nehmen. Damals war ich jung, voller Leben und stolz wie Apollo, wenn ich mit meiner Leier auf dem Felsen saß. Jetzt ist dein Geliebter grau und gefurcht, und um meinen gebrochenen Leib flattert die Seele nur matt und dunkel, wie die Flamme auf einem verlassenen Altar. Und jetzt müssen wir voneinander scheiden; aber der Abschied ist nicht so bitter. Damals zog ich in den Krieg nach Osten, jetzt wandre ich gen Westen, dem ewigen Frieden zu, zum alleräußersten Westen, außerhalb der Säulen Herakles', dorthin wo der Untergang der Sonne und der Seele ist, nach den Inseln der Seligen. – Du aber folgst mir bald.«

Erinna blickte ihn verwundert an; sie wollte ihren Ohren kaum glauben. Denn der christliche Bekenner sprach heidnisch, ohne verwirrt oder vom Fieber benommen zu sein. Seine Stimme war ruhig und klar, aber sehr matt. Eine wehmütige Verklärung schien über seine feinen Züge ausgebreitet zu sein, wie die Abendröte über einer Landschaft. Und sein Gedächtnis zeigte sich ungewöhnlich scharf, denn er begann, sie an die geringsten Einzelheiten ihrer Erlebnisse vor dreißig Jahren zu erinnern, die sie schon längst vergessen hatte. Mit sichrer Hand pflückte er die zartesten Blumen, die sich unter dem welken Laub eines Menschenalters verbargen. Eukrates ergriff ihre Hand und führte sie etwas seitwärts.

»Die Wellen des Fiebers haben den ganzen späteren Aufbau der Erinnerungen weggespült und den Untergrund entblößt. Hüte dich, ihn zu jenen zurückzuführen. Sprich mit Antigonos und wecke nicht Theophilos,« flüsterte er ihr zu.

Sie sah ihn an und nickte, ohne recht zu begreifen, was er meinte.

Dann setzte sie sich an sein Bett, nahm seine Hand in die ihre und nannte ihn bei den liebreichsten Namen aus den ersten Tagen ihrer Liebe. Auch erweckte sie diese und jene Szene. Da war ihre erste Begegnung, als sie sich beim Mondenschein im Peneus gebadet hatte und er meinte, eine Nymphe zu sehen, während sie gefürchtet hatte, in ihm einen Faun zu erblicken. Unter hundert kleinen ersonnenen Vorwänden und Ränken hatten sie sich ihre Stelldichein errungen. Die eine Erinnerung rief die andere wach, und die von ihr vergessenen tauchten in Antigonos' verschärftem Gedächtnis auf. Nie waren es jedoch jene festlichen Tage im Palatiner Garten zu Rom, zwischen den Säulengangen, den Springbrunnen, Bildsäulen und Laubhütten, wo einst ihre vollentfaltete Liebe geblüht hatte, die sie anzog. Es war jene wunderbare Dämmerung, in der die zarte Liebe noch träumt, weil sie eben im Begriff steht zu erwachen – nicht mehr bewußtlos, – jedoch ohne Selbsterkennen; – wenn ihre frischen Lippen anfangen, die Brust des Verlangens zu fassen, ohne vom Schaum der Leidenschaft genippt oder ihre Hefe eingesogen zu haben. Es war das Kind Eros, das zwischen ihnen saß und wie ein Chorführer alle Götter des Olymps den christlichen Bekenner umgeben ließ.

»Ach, wie süß!« murmelte er, den Duft der Nardussalbe einatmend, als sie sich über ihn beugte; »wie süß, Erinna! ... Besinnst du dich, so duftete es in Tempe, um die Stunde, wenn wir uns treffen sollten und die Weihrauchaltäre für Helios zu rauchen anfingen?« – und indem er wie in seligem Rausch die Augen schloß, stammelte er: »Helios! purpurumflossener, goldgekrönter Gott!... Nimm mich mit, laß meine Seele dir in Hephaistos' Goldschale auf den Wogen des Ozeans gen Westen folgen! Laß dein Licht in meinem Herzen sein, auf daß es nicht die Finsternis der Todesnacht fürchte! Laß deinen Diener furchtlos sterben, wie dein eigenes Volk, das sich singend und bekränzt hineinstürzte in das stille Meer, das nie Boreas' Flügel benetzt hat, – jene frommen Hyperboreer, über denen die glückbringenden Plejaden zur Musik der Sphären den strahlenden Himmelstanz schreiten und in den immergrünen Olivenwäldern vor deinen duftenden Altären knien, – vor jenen Altären, die du in deinem nie erlöschenden Tageslicht erstrahlen läßt . . Helios, Helios!«

Eukrates saß stumm vor sich hin blickend in einigem Abstand von ihnen. Die flüsternde eintönige Unterredung in der schweren Luft des dunkelnden Zimmers wirkte einschläfernd auf ihn. Er erhob sich gähnend und untersuchte Antigonos' Puls, der sich nur ganz matt bewegte. Dann ging er hinunter und befahl einer Sklavin, ein stärkendes Getränk für den Kranken hinaufzubringen, obschon er wußte, daß das langsame Verrinnen der Lebenskraft sich nicht mehr aufhalten lasse.

Im Triclinium traf er Quartus. Er lag in einer offenen Tunika auf dem Speiselager. Die Toga faltete sich über dem Fußende und schleppte am Boden hin, der Gürtel war hinabgeglitten; ein langhaariger, spitzköpfiger Hund zerrte ihn herum. Von einem baumförmigen silbernen Kandelaber, mit neun Alabasterlampen behängt, beleuchteten nur drei derselben den Tisch, auf dem die Reste eines Kapauns, Chierwein und eine Schale mit Früchten standen. Schrägüber vom Prokonsul, auf einer anderen Ruhebank, saß ein langlockiger lydischer Sklave im goldgestickten purpurnen Kittel, die Beine gekreuzt, und spielte auf einer Doppelflöte. »Guten Tag, Eukrates! das freut mich, daß du mir Gesellschaft leisten willst. . . Da ist Kapaun. Die Krammetsvögel und Rindsnieren sind ganz gewiß schon abgetragen, aber die können ja alsbald –«

»Durchaus nicht nötig. Hier ist genug.«

»Puh! wie ermüdend diese Mittagsstunden im Amphitheater wirken.«

»Ja gewiß! Ich bekomme immer Kopfweh.«

»Und morgen muß ich schon wieder daran glauben!«

»Was wird denn aus Polykarpos?«

»Ich habe den Irenarchen Herodes hinausgeschickt, daß er ihn morgen ins Theater hole ... Ja, was war sonst zu tun? Ich mußte natürlich Flaminius mit etlichen Soldaten die Villa durchsuchen lassen; sie fanden ihn aber nicht. Flaminius wußte ja wohl, daß ich ihn schonen wollte. Aber die verfluchten Juden haben nach ihm geschnobert wie Spürhunde und deshalb einige seiner Sklaven so lange gepeinigt, bis sie ihn verraten haben.«

»Soll er den Tieren vorgeworfen werden?«

»Das geschieht ja mit den anderen.«

»Du hast auch einige verbrennen lassen.«

»Ja. Ist das besser?«

»Da kannst du dafür sorgen, daß die Scheite feucht sind, dann wird er vom Rauch erstickt. Das ist ein leichter Tod.«

»Ja, das ist wahr! Bei Cäsars Genius! das will ich tun. Denn der alte Starrkopf läßt sich wohl nicht dazu bewegen, zu opfern. Und übrigens – kann auch das fehlschlagen; denn wenn das Feuer nicht brennen will, sagen die Christen, daß seinetwegen ein Wunder geschah, und werden nur noch verrückter ... Na, ich will darüber nachdenken, ob es sich nicht dennoch machen läßt ... Wo ist Erinna?«

»Oben beim Bekenner.«

»Na. Wie steht es mit ihm? Ich müßte wohl auch selbst –«

»Ach nein, – laß es nur, Titus,« sagte Eukrates ruhig, während er sich einen Pfirsich schälte, »er liegt in Fieberphantasien, und redet eine Menge schreckliches Zeug. Außerdem ist es ihm nicht gut, fremde Gesichter zu sehen.«

»Ja, ja, mir ist es auch besser, mich auszuruhen.«


Am späten Abend ging Eukrates wieder ins Krankenzimmer hinauf. Er fand beide noch wie er sie verlassen. Antigonos hatte nichts trinken wollen; auch die Speisen, die für Erinna hinaufgeschickt worden waren, standen noch unberührt da. Sie sprachen nicht mehr, aber sie hielt noch immer seine Hand in der ihrigen. Er lag ganz still, und nur dann und wann, während er sie anblickte, glitt ein seliges Lächeln über seine Lippen. Hinter dem Kopfende des Bettes erhob sich ein prächtiger Bronzekandelaber, an dessen gelötetem Arm eine spärliche Flamme brannte; ihr Strahl beleuchtete wie ein kleiner Stern das bleiche Antlitz Antigonos'. Eukrates fragte ihn, ob er leide. Er verneinte es.

»Ist es dein Bruder?« fragte er, als Eukrates, der sich entfernen wollte, Erinna auf die Stirn küßte.

»Ja.«

»Eukrates! wie deutlich entsinne ich mich deiner, Du warst ein wilder rotbäckiger Junge, der immer von großen Hunden umgeben war und nie einen Pfeil daneben schoß... Du hast jetzt das Bessere erwählt: das Leben zu schirmen, anstatt es zu vernichten ... Aber wie war es doch, Erinna, hast du mir nicht einmal gesagt, daß er nicht an die Götter glaube? ... doch! – ich besinne mich nur nicht mehr wann, – aber mir scheint, daß es in einem Garten war, das Laub lispelte, die Springbrunnen plätscherten, es war nicht in Thessalien ... Ach, das ist töricht, nicht an die Götter zu glauben, die unsere Väter verehrten und vor denen wir als Kinder knieten ... Ich glaube, mich zu besinnen, daß es eine Zeit gab, da auch ich nicht an sie glaubte ... Du warst es, Erinna, die mich bekehrte ... War es nicht in demselben Garten? Ich weiß es noch, daß du von Zeus sprachst, der oben auf Olymp säße mit der Schicksalswage in der Hand ... Olympos! .. Wie gern möchten nicht meine Augen, ehe sie sich auf immer schließen, den heiligen Berg sehen, nicht wie ich ihn jetzt in der Erinnerung sehe, sondern im vollen, strahlenden Tageslicht! Um ihn her liegen die welligen Berglinien – von den grünen Wäldern begrenzt – vor seinem Fuß ausgestreckt, wie eine Anbetung; aber er selbst erhebt seine mächtige Zinne, mit den großen reinen Linien wie die hellenischen Tempel, weiß, wie die Kristallwohnungen der Götter, die er hoch, hoch hinauf in den blauen Äther trägt, dort hinauf, wohin nur Zeus' Adler fliegen kann ... Als Knabe wollte ich da hinaufklimmen, weil ich eifersüchtig war auf Ganymedes. Und als ich mich ein paar Stunden lang angestrengt hatte, fiel ich müde und verwundet unter einem Myrthenstrauch in tiefen Schlaf. – Ist dies nicht gleichsam ein Vorbild fürs Leben? – Sollte nicht das Leben aller edlen Geister ein solches Aufwärtssteigen sein, höher und höher, – – dem Göttlichen entgegen, bis sie vor Mattigkeit unter dem Schlaf des Todes zusammen sinken? .. Und du,« unterbrach er sich, indem er Eukrates erblickte, »du solltest wirklich dieses Sehnen gar nicht kennen? Du solltest noch immer in den nebligen Talschluchten jagen? – Du bist doch Arzt; – verehrst du denn nicht Asklepios?«

Eukrates lächelte. Es schien ihm ein törichtes Beginnen, mit einem sterbenden Schwärmer zu rechten. Doch teils aus Ehrlichkeit, und auch weil er glaubte, daß er vielleicht die heidnische Begeisterung Antigonos' erhöhen könne, antwortete er ruhig:

»Ich pflege der Wissenschaft und der Arzneikunde.«

»Ach, menschliches Wissen und Kunst reichen nicht weit. Womit kannst du mir jetzt helfen? Du vermagst jetzt nicht, mein Leben zu retten, wie damals, als du mich aus der Schlucht heraufholtest. Und doch werde ich gerade jetzt geheilt. Sagte nicht Sokrates zu seinen Schülern: ›Freunde, ich bin Asklepios einen Hahn schuldig.‹ Keine blutigen Opfer, sondern nur Räucher- und Dankopfer dürft ihr den Göttern bringen, wenn ich nun bald vom Körper und der Sünde geheilt sein werde.«

Eukrates ging hinaus. »Er sprach ja sehr erbaulich für alle, die nicht so verstockt sind wie ich,« dachte er bei sich, »übrigens ist es eine eigentümliche Tatsache, daß Aberglaube doch nie so verderblich ist, als daß er nicht irgendwie zu verwenden wäre. Vielleicht würde es auf einige der Christen, die noch vor etlichen Tagen sich lieber von den wilden Tieren zerfleischen ließen, anstatt den Göttern zu opfern, Eindruck machen, wenn sie hörten, wie herrlich ihr verehrter Bekenner sich zu ihnen bekehrt hat. Ich möchte doch mit Quartus darüber sprechen.«

Erinna aber pries die Götter von ganzem Herzen für ihre Macht und Gnade, durch die sie Antigonos zu ihr und sich selbst zurückgeführt hatten. Noch nie meinte sie, weder im Tempetal noch im Garten auf dem Palatinerberge, so selige und so von Lebensfülle überströmende Stunden verlebt zu haben, wie diese. Und sie betete zu Apollo und Artemis, sie beide gleichzeitig mit ihren milden Pfeilen durchbohren zu wollen, ehe die Wogen des Schicksals sie wieder voneinander rissen.

Aber dennoch erblaßte sie, als im Lichte der Morgendämmerung seine langen, weißen Finger begannen, sich über das Laken hinzubewegen – tastend –, als ob der Sterbende versuche, sich in sein Leichentuch einzuhüllen. Seine Lippen bewegten sich.

»Agathos – mein Sohn,« murmelte er.

Bei diesen Worten stockte ihr das Blut in den Adern, und ihr mütterliches Herz begann gewaltsam zu klopfen:

»Wen meinst du? sprich Antigonos; ich beschwöre dich bei den Göttern!«

»Wie, Erinna? – Kennst du unseren Sohn nicht? .. Nein, nein – ich besinne mich jetzt. – Ihr wurdet ja getrennt ... Errette ihn! ihm droht Gefahr ... Ach, ich weiß nichts mehr; alles liegt in tiefem Nebel ... Ah, jetzt wird mir's klar: – ich sah ihn, als wär's im Traum, mit Soldaten ringen, – sie warfen ihn an die Erde, – es war in einer Höhle, – sie schleppten ihn weg – sie wollen ihn ermorden. Erinna ... ach, er ist noch zu jung; er steht noch in der Morgenröte des Lebens – er kann mir noch nicht zur – Abendröte folgen – zum fernen Westen – zu den Inseln der Seligen – wohin die Götter –«

Seine Stimme war schwächer und schwächer geworden, – – sie schien aus weiter Ferne zu kommen. Erinna legte ihr Ohr an seinen Mund; aber es war vergeblich, sie kam der Stimme nicht näher; es war ja nicht mehr der Körper, sondern die Seele, die sprach, während sie sich auf ihrer ewigen Wanderung, die schon begonnen hatte, mehr und mehr entfernte. Noch gleichsam ein leiser Seufzer, und dann nichts, – nein nichts mehr. Der Abstand war schon zu groß, die Seele war schon zu weit nach dem fernen Westen entflohen, – hin zu den Inseln der Seligen. ...


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