Karl Gjellerup
Antigonos
Karl Gjellerup

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Der Dämon und das babylonische Weib

Als Stratonike die Schritte Antigonos' im Atrium und auf dem Flur hörte, eilte sie ihm aus dem schwach erleuchteten Seitenzimmer schnell entgegen.

»Dank den Göttern, daß du kommst, Antigonos! Ich wollte eben nach dir schicken, aber ich wußte ja nicht, wo –«

»Was ist denn geschehen! Ist es schlimmer geworden?«

»Er ist am Sterben,« flüsterte Stratonike.

Im Krankenzimmer hörte man einen heiseren, bisweilen röchelnden Laut; der alte Lagos konnte kaum noch atmen. Der Sohn kniete an seinem Lager hin und küßte seine Hand. Lagos bedeutete ihm, daß er sein Ohr an seinen Mund lege, und raunte ihm dann zu: »Mein Sohn kommt zeitig zurück von der Cäna des Römers ... Das ist gut, denn ich hätte nicht mehr gehofft, dich zu sehen.«

»Sprich nicht davon, lieber Vater. –«

Aber Lagos schüttelte den Kopf: –

»Ich kenne es ja ... Was nützt es auch? Wir können ihr nicht Einhalt tun, der notwendigen Ordnung der Götter. Als der Stern jenes neugeborenen Römers aufging, ging der meinige unter ... Ich fühle mich dem Göttlichen schon näher, und mein Körper ist gleichsam schon geopfert.«

Er gab etwas Schleim von sich und lag eine Zeitlang still und schweigend, während er schwer und mit einem röchelnden Klang atmete. Sonst hörte man nur noch das unterdrückte Schluchzen Stratonikes, die an dem Türpfosten lehnte. Lagos winkte ihr, und als sie sich über ihn beugte und ihn küßte, sagte er:

»Sei lieb gegen das junge Mädchen, sie ist so gut gegen uns beide gewesen.«

Nach einigen Minuten zog er Antigonos wieder an sich heran und flüsterte mit geisterhafter Stimme: »Ich hinterlasse dir alles, was ich habe. Es ist nicht viel, aber es sind Schätze darunter. Den einen kennst du nicht. Unter dem kleinen Steinaltar wirst du eine Schriftrolle finden ... Erhöhe mir das Kissen etwas, dann kann ich besser sprechen ... so ... sie wurde in einem unterirdischen Grabe gefunden ... ein jüdischer Prophet hat sie in elendem Griechisch geschrieben ... aber es ist eine sehr starke Schrift – noch stärker als das ägyptische Todesbuch, – diesem hier widersteht kein Dämon ... lebe wohl! Apollo und Isis, – Ormuzd und Jahve – – seien mit dir überall!«


Nach diesem eklektischen Ausbruch gesellte sich der alte Lagos zu seinen Vätern, die in einer Reihe von Geschlechtern große Priester und Goëten gewesen waren.


Antigonos verweilte eine kurze Zeit in stillem Gebet knieend am Lager des Vaters; dann erhob er sich und schloß ihm die Augen. Er griff mit der Hand unter seinen Chiton und zog ein Schmuckstück aus Blutjaspis, in der Form eines Ovals darunter hervor, von dessen unterstem Rande zwei Endstücke, länglichen Blättern ähnelnd, sich abwärts bogen. Das war das Thet-Amulett, die Blutstropfen der Isis. Er salbte es und hing es um den Hals des Toten.

»Wache nun bei der Leiche des Vaters,« sagte er zu Stratonike. »Ich muß wieder fort.«

»Wie soll ich das verstehen, Antigonos – ›gehst du wieder zum Trinkgelage des Römers, während dein Vater noch warm ist?«

»Die Gattin des Senators wird von einem Dämon geplagt. Es ist ungebührlich, die Lebenden der Toten wegen zu versäumen. – Leb' wohl!« Er nahm ein Säckchen Räucherpulver und einen kleinen Handaltar mit sich, dann noch eine geweihte Marmorplatte, um das Rauchwerk darauf abzubrennen. Danach gedachte er der Worte seines Vaters und beugte sich am Altar herab, um die Papyrusrolle hervorzuziehen. Sie war schmutzig und ihre Kanten waren verwittert, aber die große Schrift war noch leserlich. Er steckte sie unter seinen Kittel, ging hinaus und stieg wieder in den Tragsessel, den die Träger alsbald davontrugen.


Stratonike setzte sich auf das Lager und blickte in das Gesicht des Toten. Der alte Lagos war immer gut gegen sie gewesen. Und weil sie jetzt fühlte, daß Antigonos' Liebe zu ihr abgekühlt war, empfand sie den Verlust doppelt herb. Es war ihr, als habe sie einen Vater verloren. Während große Tränen über ihre Wangen herabfielen, schien es ihr, daß er ihrem eigenen Vater ähnle, den sie in Syrien verlassen hatte. Dieser war ein recht wohlhabender Purpurfärber in Byblos. Stratonike war die jüngste und schönste seiner drei Töchter. Ihr langes goldgelbes Haar, das sie durch Pudern mit Glimmersand noch goldiger färbte, ihre sammetweichen Augen und ihre granatroten, wie Cupidobogen geformten Lippen machten sie begehrenswert und eitel. Die Eltern ersehnten sich einen reichen Schwiegersohn. Als sie fünfzehn Jahre alt war, und ihr Haar für das Adonisfest abgeschnitten werden sollte, versteckte sie sich, und als man sie fand, weigerte sie sich, kratzte, schrie und bat für sich, sie möchten ihr lieber die Augen ausstechen! Warum sollte sie aussehen, wie eine Sklavin oder ein zügelloses Mädchen? Was ginge der Tod Adonis' ihr Haar an? Das war nur eine Erfindung derer, die häßliches Haar hatten – so wie ihre Schwestern – damit diese nicht zurückgesetzt würden. Und ihre Eltern gaben endlich nach. Es würde sie stark entwerten, wenn sie diese Zierde verliere, sie könnten sie ja während des Festes verbergen, später wäre dann keine Gefahr mehr, und bis zum nächsten Male könnte sie verheiratet sein.

Einer ihrer Anbeter aber, der sie überall unter den jungen Mädchen vermißte, überraschte sie am fünften Abend der Adonistrauer in dem kleinen Garten hinter dem Hause ihrer Eltern. Er gestand ihr seine Liebe; aber sie wollte nichts davon wissen. Sie sagte ihm, daß sie seine metallglänzenden Augen und schiefen Beine nicht ausstehen könne, und daß sie lieber eine alte Jungfer werden wolle, als solch eine Schnittwarenelle zum Manne zu haben. Als er jedoch fortfuhr sie zu plagen und ihr versprach, ihr täglich Goldstaub für ihre herrlichen Locken zu schenken, die er jetzt um seine Finger wickelte, schalt sie ihn einen unverschämten Buben und rief die Sklaven, die dann mit Bohnenstangen auf ihn losprügelten, während er über die Mauer kroch. Aus Erbitterung über sie und einen vermeintlichen Nebenbuhler verriet er Stratonike bei den Priestern.

Dann traf sie Antigonos, mit dem sie davonging ohne Abschied zu nehmen, froh darüber, sich nicht entehrt vor ihrer Familie und unter den jungen Mädchen zeigen zu müssen.

Seit dieser Zeit hatte sie nie wieder etwas von ihren Eltern gehört und auch nie Gelegenheit gehabt, ihnen Nachricht von sich zu geben. Aber sie gedachte ihrer oft; besonders in der letzten Zeit. Vielleicht hätte sie ihren Vater auch schon so liegen sehen müssen, wie eben jetzt Lagos, und sie hatte nicht seine letzte Segnung kniend empfangen können; sie hatte ihm nicht die Locken geopfert, die sie einst beim Adonisfest gerettet, und hatte keinen Klageruf angestimmt und kein Sterbelied gesungen!

Sie erhob sich, ergriff ein Messer und ließ es durch das dicke Nackenhaar gleiten, daß es in großen Massen zu Boden fiel und wie goldenes Seidengespinst an ihrem Kleide hing. Warum sollte sie nicht Lagos diese Ehre erweisen? Zudem – Antigonos würde es nicht mehr vermissen. Stratonike raffte das Haar zusammen, setzte sich wieder auf die Kante des Lagers und fing an es zu flechten. Sie wollte eine Kette für das Thet-Amulett flechten, statt des einfachen Bandes, an dem es jetzt hing. Und während sie flocht, kam ihr eine einförmige Melodie, eine assyrische Totenhymne in Erinnerung, die ihre Mutter, eine Assyrierin, sie gelehrt hatte:

Führe den kranken Mann zum Himmel, denn von der
Erde reißt es ihn weg,
Und die Kraft des Starken ist gebrochen! –
Sein Kleid sei strahlend weiß, wie reines Silber,
Seine Seele lodre wie Kupfer! –
Sie fliege, wie ein Vogel, an einen hohen Ort,
Sie steige in die heiligen Hände ihres Gottes! – –

Quartus erwartete Antigonos im Atrium.

»Der Dämon hat sie eben geschüttelt, jetzt liegt sie ganz entkräftet,« sagte er. »Wenn du bereit bist, führe ich dich hinein.«

»Ich bin bereit. Aber ich muß allein sein mit dem Dämon, und niemand darf uns stören, bevor ich selbst rufe.«

Quartus nickte, ging voran und öffnete eine Tür. Er winkte; – eine Sklavin, die am Krankenlager gewacht hatte, eilte hinaus. Antigonos verschloß die Tür und war jetzt allein mit Quartus' Gemahlin.

Sie lag ausgestreckt auf einem breiten, aus Zederholz geschnitzten Bett mit einer Purpurdecke über sich gebreitet. Hinter dem Kopfende stand ein hoher Kandelaber, dessen eine Lampe einen matten Schein auf ihr Gesicht warf, das gegen die Wand gekehrt war. Am Mundwinkel sah man etwas Schaum; dies und eine starke Blässe waren die einzigen Kennzeichen des Anfalles. Das Haar, noch ebenso lang, aber dunkler als früher, lag ausgebreitet auf dem Kissen. Antigonos' Herz klopfte heftig bei diesem Anblick, und das Blut stieg ihm zu Kopf. Er entzündete einige Kalmusstengel auf der Marmorplatte und warf arabisches Räucherpulver in die Flamme. Während diese prasselnd und knisternd einen dichten blauen Rauch zur Decke schickte, kniete er nieder. Als er sich wieder erhob, hatte sich der Rauch zu einer dünnen Schicht über dem Lager gesammelt. Er richtete einen finsteren Blick auf die schöne Erinna und rief mit barscher Stimme: »Du, der Finsternis verdammter Geist, der du ungerechterweise diesen schönen Körper in Besitz genommen hast, verlasse dieses Weib und fahre an deinen Abgrundsort.«

Zu seinem großen Schrecken ließ sich der Dämon keineswegs herbei, für sich zu bitten oder zu jammern. Erinna verblieb unbeweglich.

Ein Schwindel überfiel Antigonos. Totenstille war um ihn her; nur die Räucherung knisterte leise; und draußen verursachte der Wind einen einförmig schnurrenden Laut, als ob eine ungeheure Katze säße und spänne.

Antigonos zog die Schriftrolle hervor, warf wiederholt eine Handvoll Räucherwerk ins Feuer und las bei dem blauen flackernden Schein der Flammen die Stelle, die er zufällig aufschlug:

»Und es kam einer der sieben Engel, die sieben Schalen hatten, und er sprach zu mir: Komm, ich will dir das Urteil über das große sündige Weib zeigen, das über den vielen Wassern sitzet – mit dem die Könige auf der Erde gebuhlt haben. Und er führte mich an eine Wüste im Geiste, und ich sah ein Weib, auf einem scharlachroten Tiere sitzend, voll von Namen des Hohnes, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern. Und das Weib war in Purpur und Scharlach gehüllt, geschmückt mit Gold, Edelsteinen und Perlen, und sie hielt einen Goldbecher in ihrer Hand, der war mit Greueln ihrer Unreinheit gefüllt.

»Und an ihrer Stirn war ein Name geschrieben: Geheimnis. Das große Babylon, die Mutter der Greuel auf der Erde.

»Und ich sah das Weib trunken vom Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu.«

Bei diesem Namen fühlte er gleichsam einen Stoß. Das war zum dritten Male an dem Tage, daß ihm dies Gefühl begegnete, zum ersten Male zwischen den Schriftrollen in der Badebibliothek, später bei den vollen Bechern und Schüsseln, und schließlich an diesem einsamen Krankenlager. Es schien als suche der mächtige Name ihn und als könne er ihm nicht entfliehen. Würde der vielleicht den Dämon besiegen? Und während derlei Gedanken und Gefühle ihn durchströmten, las er weiter vom Geheimnis des Weibes:

»Hierzu ist eine Gesinnung erforderlich, die Weisheit besitzt. Die sieben Köpfe sind sieben Berge, auf denen das Weib sitzt.«

Sieben Berge! Wer war denn das Weib, wenn nicht das siebenhügelige Rom? Es waren also göttliche Worte, die er las – von Roms Fall und Zerstörung. – Worte, von denen er jahrelang geträumt hatte, während er vergebens nach einer zertrümmernden Macht ausgespäht hatte. Oder auch hörte er diese Worte? Denn bisweilen schien es ihm, daß er die Worte, die er hersagte, nicht sähe, sondern daß eine Stimme sie hinter ihm herrufe. Er wurde von Jubel und mystischem Entsetzen erfüllt. Seine Gestalt wurde mächtiger, seine geballte Hand erhob sich; mit seiner Stimme donnerte er den dunklen Fluch hervor gegen das Tier und das Weib, »die große Stadt, die die Herrschaft hat über die Könige der Erde.«

Erinna war noch immer regungslos. Sie war sich bewußt, daß jemand in das Zimmer getreten war, aber es ließ sie ganz gleichgültig, wer es sein könnte. Seine Stimme, die mit unnatürlichem Klange die Beschwörung aussprach, erkannte sie nicht. Sie fühlte die Beschwörung machtlos dem Dämon gegenüber, der sie ihres Willens beraubt und ihre Glieder erstarrt hatte. Als Antigonos aber anfing zu lesen, und seine Stimme aus der ersten murmelnden Eintönigkeit herauswuchs, volltönend durch die Ekstase, anschwellend wie ein Segel im Sturm, und die orientalische Bilderpracht des Apokalyptikers hochtragend, – da erkannte sie ihn, und gleichsam zu ihm hingezaubert, wendete sie ihr Angesicht ihm zu, die Augen öffneten sich weit, und sie sah ihn, als er mit lauter Stimme rief: »Es ist gestürzt, es ist gestürzt, das große Babylon!«

Antigonos erschien ihr mächtig und leuchtend, wie der Engel, dessen Worte er im Munde führte. Das Blut stieg ihr zu Kopf, das Herz schlug; eine Kraftwoge durchströmte die gelähmten Glieder. Sie fühlte sich von der dämonischen Macht befreit.

Und als er die letzten Worte des Verses herausschleuderte, stand sie plötzlich aufgerichtet vor ihm mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen, das Haar über die Schultern herabfließend, in eine lilienweiße, fußlange Tunika gekleidet, die nackten Füße in das Pantherfell gedrückt, das vor ihrem Lager ausgebreitet war.

In seiner Ekstase vergaß Antigonos vollständig wo er war und damit auch Erinna. Bei diesem unerwarteten Anblick meinte er, den Engel zu sehen, und in unwillkürlichem Schrecken trat er einen Schritt zurück. Plötzlich ward er in Finsternis gehüllt, und hörte den dröhnenden Klang des umgestürzten Kandelabers, von dem ein Bronzearm zerbrach. Aber die Räucherflamme flackerte noch und beleuchtete Erinna.

»Bist du noch in ihr, du böser Geist, dann gebiete ich dir, entweiche, im Namen dessen, der das siebenhügelige Babylon zerstörte.«

»Antigonos!«

Er hielt sie in seinen Armen. Ein krampfhaftes, unbezwingbares Schluchzen schüttelte ihren Körper. Der Tränenstrom durchrieselte die Brustfalten seiner Tunika. Nach und nach ermattete und erlosch ihr Zittern gleich der züngelnden Altarflamme. Er sah sie nicht, aber sein Arm legte sich um ihre ruhig und langsam atmende Brust; still ruhte ihr Kopf an seiner Schulter, und ihr Atem fächelte regelmäßig seine glühende Wange.


Er schob den Riegel zurück und rief hinaus. Ein Licht bewegte sich durch das dunkle Atrium. Eine Stimme rief; Quartus antwortete. Gleich danach kam er selbst, von zwei Sklaven mit Fackeln begleitet, deren roter Schein die gespannten Gesichtszüge des Senators beleuchtete. – »Deine Gattin ist geheilt; ich übergebe sie deiner Fürsorge,« sagte Antigonos.

Erinna, die noch immer seine Hand hielt, reichte Quartus die linke. Er küßte sie und kniete vor Antigonos nieder.

»Kniee vor den Göttern und dem galiläischen Propheten,« sagte dieser. »Ihr bedürft jetzt meiner nicht mehr, und ich gehe nun zu mir selbst.«

Quartus wollte sprechen; jedoch Antigonos hatte schon das Zimmer verlassen, und seine Schritte verhallten auf den Marmorfliesen des Atriums. Ein Sklave lief ihm nach, um zu leuchten und rief die Träger an; aber Antigonos winkte ihnen abwehrend zu und trat eilig vor die Tür.

Mit den bittersten Gefühlen verließ er das Haus, nachdem er seine Jugendliebe ihrem Gemahl übergeben hatte. Indem er aber seinen Mantel enger um sich zog, weil ihm der Nachtwind rauhkalt entgegenschlug, fiel etwas zur Erde und rollte vor ihm her. Er bückte sich, um es aufzuheben. Es war jene merkwürdige Schriftrolle. In einem plötzlichen Freudegefühl erhob er den Kopf. Es dünkte ihm, daß er in seiner Hand einen Hebel halte, der den Eckstein im Palaste des Weltreiches lockern könne, einen geistigen Feldherrenstab, auf dessen Wink die heimlichen Legionen warteten, jene Christen, »die neue Dinge im Schilde führten«. – Stolz überschritt er das Palatium, wo die Häuser der Patrizier sich dunkel im Morgengrauen abhoben, während er zwischen den Zähnen murmelte: »Es ist gefallen, es ist gefallen, das große Babylon.« – Als er sein Haus erreichte, war es schon lichter Morgen. Er rollte das Buch vor sich aus und begann, es von Anfang an zu lesen. Stratonike brachte ihm seine Frühkost; aber er rührte sie kaum an, wies auch ihre Liebkosungen zurück und hörte es nicht, daß sie im Nebenzimmer weinte. Seine Schüler suchten ihn auf, aber er entschuldigte sich vor ihnen mit Unwohlsein. Die Abenddämmerung senkte sich herab, er saß noch immer an derselben Stelle, unbeweglich, mit der durchlesenen Schrift auf seinen Knien, berauscht durch die Zornesschalen des Apokalyptikers. Als es ganz dunkel wurde, zündete er die Lampe an und las wiederholt die mächtigsten Stellen durch, bis er sie auswendig konnte.

Endlich überredete ihn Stratonike, zu Bett zu gehen; aber erst spät in der Nacht schlief er ein. Im Traum hatte er wieder dieselben Erscheinungen. Da war des Menschen Sohn zwischen den sieben Leuchtern, die Ältesten, die Tiere und das Lamm; Posaunen, Donnerschläge und Weherufe; der große Drache, das babylonische Sündenweib und das Halleluja der Engel über ihre Erniedrigung; der gekrönte Christus auf dem weißen Pferd; da waren das ewige Jerusalem, schimmernd von Edelsteinen und Perlen, und Engel, die es an goldenen Ketten vom Himmel herunterließen.


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