Karl Gjellerup
Antigonos
Karl Gjellerup

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Langsames Erwachen

Ein dunkles schwüles Zimmer und eine blendende Flamme, die ihm in die schlaftrunkenen, starrenden Augen schnitt. Die Flamme knisterte und zitterte auf einem kleinen Steinaltar dicht an seinem Bette, von ihrer blauen Spitze aus schlängelte sich eine duftende, blaugraue Spirale nach der Deckenlyra hinauf, durch welche die Sterne blinkten. Der rote Flammenschein fiel auf das Gesicht seines Vaters und wurde von der Stirne und dem Scheitel wie von einem blanken Schirm zurückgestrahlt. Er mußte wohl auf den Knien hinter dem Altar liegen, denn sein Kopf erhob sich gerade darüber, und die große herabhängende Unterlippe bewegte sich ununterbrochen auf und ab, als ob sie etwas von der Steinkante aufschlürfe. Auf dieser lag eine Papyrusrolle, die zu beiden Seiten des Altars wie eine bunte Schlange herunterhing, und schleppte ihre hieroglyphischen Füchse, Kücken, Eulen und Meerkatzen weithin über den einfachen Mosaikboden aus gebrannten Ziegeln. Neben Lagos kauerten zwei verhüllte Gestalten, den Mantelzipfel über den Kopf gezogen.

In den vorwärtsgestreckten Händen hielten sie die Stangen eines halbaufgerollten Papyrus, der ihre Gesichter verbarg. Alle drei lasen sie in einem singenden, einförmigen Ton, wie ein ruhig rieselnder Fluß, voll von klangvollen, gurgelnden Kehllauten. Als der äußere Eindruck sich etwas geklärt hatte, fühlte Antigonos einen Druck und stechenden Schmerz in der einen Seite und im Arme und Unruhe im Kopf, den eine weibliche mit Wein getränkte Kopfbedeckung einhüllte. Ein zweites solches Tuch war mit sieben geheimnisvollen Knoten um seine rechte Hand gebunden, und ein drittes schnürte wie eine Mumienbinde seine Beine zusammen. Der eine der Vermummten sang auf chaldäisch:

Es sind ihrer sieben, es sind ihrer sieben,
In der Tiefe des Ozeans sind es sieben –
In des Himmels Königshalle sind es sieben.

Der andre antwortete:

In den Strömen des Ozeans wurden sie in einem Palast geboren.

Aber Lagos sang auf ägyptisch:

O, göttliche Seele!
O, göttliche Seele!
Ich bin Anubis Sapti, Nephtys Sohn!

Und während er das viermal wiederholte, sangen die anderen:

Herrscher haben sie nicht,
Regierung kennen sie nicht,
Gebete hören sie nicht!
Sie sind sieben, und sie sind sieben!
Rechts, rechts!
Links, links!

»Ich bin Anubis Sapti, Sohn der Ra!« rief Lagos zum zweitenmal.

Eine Neige Wasser, die Antigonos ins Gesicht fiel, brachte ihn mehr zum Bewußtsein. Ein Knabe, der hinter seinem Kopfende stand, hatte ihn mit Weihwasser besprengt, indem er rief: »Davkina soll ihn beschirmen!«

»Der Gott Davkina soll ihm zur Seite stehn, er soll die sieben Geister verjagen und sie aus seinem Körper vertreiben,« rief der eine.

Isis rief laut: »Kein Krokodil!« Und sie führte die Handlung der Erlösung aus. »O komm, Handlung der Erlösung!« sang Lagos.

Und die sieben dürfen nie zu dem Kranken zurückkehren!

»Wasser! Wasser!« stammelte Antigonos, den ein brennender Durst quälte.

»Jetzt ist es genug!« sagte der Knabe, indem er Antigonos einen Holzbecher reichte, »der Dämon hat ihn verlassen.« »Weißt du das sicher?« fragte Lagos, indem er den Kopf erhob und mit der Lesung einhielt. »Bei Davkina! ich sah es mit eigenen Augen. Er fuhr ihm beim ersten vernünftigen Worte zum Munde heraus. Er war schwarz wie Rauch und sprang in die Räucherflamme hinein. Hörtest du es nicht sprühen?«

»Ja, ich sagte ja schon, daß nichts daraus würde, bevor nicht ägyptisch gelesen würde; denn es war ein starker Geist.«

»Ja, oder chaldäisch, Lagos!« sagte der eine der Vermummten.

»Nein Timokles«, antwortete Lagos in überlegenem Ton, denn er konnte nicht chaldäisch, »die Chaldäer sind brauchbar, wenn es den Äther und die Sterne gilt, aber bei der Luft und den Dämonen, sage ich: die Ägypter müssen daran. Außerdem glaube ich, daß es der Dämon Baba war –« Das letzte Argument machte dem Gemurmel der anderen ein Ende, und Lagos setzte triumphierend fort: »Hermes Trismegistos mit dem Habichtstab, der ibisköpfige Thot und der Beller Anubis – –«

Antigonos konnte auch jetzt nur noch ein verwirrtes Gemurmel hören; Chaldäer in langen bunten Talaren, mit spitzigen Mützen und viereckigen, gelockten Bärten standen um das Lager herum; sie hielten Sterne in den Händen, deren Strahlen ihn blendeten und brannten. Zwei vermummte Gestalten am Kopfende, mit Ibisköpfen, wollten ihm die Augen auspicken und ein dickbäuchiges, dünnbeiniges Ungeheuer mit langgestrecktem Hundekopf beschwerte ihn auf der Brust wie ein Berg, bohrte sein spitzes Knie in seine Seite und biß ihn in den Arm. Nach und nach verschwanden diese Gestalten, und er sah wieder nur die wohlbekannte Stube mit dem Mosaikfußboden, den rohen Wandgemälden und dem Steinaltar, über dem stets eine kleine bläuliche Flamme zitterte; er sah die Lyra, durch die abwechselnd das Licht der Sonne, des Mondes oder der Sterne fiel, und seinen Vater, der fortdauernd um ihn beschäftigt war, ihm Verbände umlegte und Getränke bereitete, die oft aus zauberkräftigen stärkenden Kräutern bestanden. Auch las er und betete und schlachtete die Hälfte der Hähne Larissas zum Opfer für Asklepios. Aber jener phantastische Eindruck war der erste, worauf er zurückzukommen vermochte; hinter diesem, getrennt durch eine tiefe dunkle Kluft, lag nur das ruhige, lächelnde Land der Kindheitserinnerungen. Die Schmerzen in der Seite, im Arm und Kopf dauerten an, obschon jetzt nur geschwächt; jedoch wußte er gar nicht, wann er sie sich zugezogen hatte, oder wie er in diesen Zustand gekommen war. Oft versuchte er es, sich darüber klar zu werden, aber er konnte nicht durchdringen, auch war er zu ermattet, um zu fragen.

Endlich tat er es. Lagos erzählte ihm dann, daß eines Morgens, als Eukrates in Tempe auf die Jagd ging, ihn am Ufer des Peneus auf einem Stein liegend gefunden hatte, auf den er wohl von dem Pfad hinabgefallen sein müsse, der oben am Saume des Felsens hinlief. Der Helm und die Eisenschienen des Kollers an seiner Seite hatten den Stoß abgeschwächt, aber sein Arm war gebrochen und zwei Rippen eingestoßen worden; er war bewußtlos und von einem Dämon besessen gewesen; ohne Zweifel derselbe, der ihn vom Wege hinabgestoßen hatte. Er besann sich nun dunkel – als ob er ein anderer wäre –, daß er einst in der Nacht an einer wilden, öden Stelle in Tempe gestanden und in die schäumenden Wirbel des Peneus hinuntergestarrt hatte – verzweifelt und betäubt – ohne zu wissen, warum. »Wer hatte mich gefunden?« fragte er endlich matt. »Der junge Eukrates. Du kennst ihn ja ... ein Sohn des reichen Thrasykles, der das große Landgut bei Tempe hat.«

Er besann sich nun, daß er spät abends vor dem Hofe gestanden und mit einer Sklavin gesprochen hatte, und daß er dann wie ein wildes Tier nach dem Tempetal zurückgelaufen war.

»Er ist der Vater der hübschen Erinna, die mit dem reichen Römer verheiratet wurde,« fügte der Vater hinzu.

Jetzt besann sich Antigonos plötzlich auf alles: ihre Liebe und Begegnungen, den Kriegszug, die Heimkehr und die fürchterliche Nachricht, – da wendete er das Gesicht gegen die Wand und weinte.


Nur langsam erholte er sich. Um das Gefühl der erdrückenden Leere auszufüllen und seinen Verlust zu vergessen, stürzte er sich in philosophische Studien, bei denen er durch den Gebrauch seiner Fähigkeiten und verschärfte, angestrengte Arbeit eine glänzende Begabung zeigte.

Infolge der eigentümlichen Beschäftigungen seines ganzen Geschlechtes waren Nerven und Gehirn durch eine Reihe von Generationen abnorm und exzentrisch entwickelt worden. Diese Zustände führten seinen Vater stets an die Grenze der Halluzinationen, der Epilepsie und der Extase. Mit einem Minimum von Verstand verband der alte Lagos einen hohen Grad von Frömmigkeit und Mystizismus. Ein Brudersohn von ihm war so stark von Manie besessen, daß er, in einer weltlichen Familie geboren, zu einem Beschwörer geführt worden wäre. Jetzt raste er, – abergläubisch verehrt –, in einen Apollotempel eingesperrt, und verkündete die dunkelsten Orakel.

Antigonos' Verstand aber war bis zur Genialität entwickelt. Jedoch interessierte die Logik ihn nur wenig, und Aristoteles war nicht sein Mann. Auch Platos Dialektik behagte ihm keineswegs, obschon sie ihm keine Schwierigkeiten verursachte. An der Grenze der Ideenwelt, wo die Mythe die Dialektik ablöst, atmete er mit Wohlbehagen seine heimische Luft; in diesem reinen Äther war es, daß seine Gedanken und Gefühle recht eigentlich die Flucht ergriffen. Und das, was er an Sokrates am meisten bewunderte, war sein Dämon. Die Philosophie bedeutete für ihn nur eine niedrige Stufe im Vergleich zu den großen religiösen Mysterien, in welche er eingeweiht wurde. Wenn das geheimnisvolle Dunkel des Tempels um ihn her von dem plötzlichen Lichte durchströmt wurde, und die tiefe Stille von fürchterlichen Klängen erscholl, da erzitterte ihm jeder Nerv in leisem, wollüstigem Reiz, wie die Saiten eines Instrumentes, das mit dem Ton antwortet, auf den es gestimmt ist. Wenn dann zuletzt auf den elysischen Gefilden die heiligen Chortänze und Hymnen seine Seele erhoben, ruhte er aus in einer seligen Extase, mit dem Göttlichen vereint.


Da er seinen larissischen Lehrer bald überflogen hatte, kam er in das Haus eines angesehenen Neu-Pythagoräers in Athen, eines Schülers des Apollonius von Tyana. Dieser heidnische Messias wurde sein Ideal. So, wie Apollonius, die Macht über Dämonen und Umgang mit Asklepios und Apollo zu erreichen, war das Ziel seines ehrgeizigen Mystizismus.

Beim Lesen von Apollonius' Erlebnissen ergriff ihn eine unbändige Reiselust, und als nach einigen Jahren sein Lehrer nach Ägypten reiste, nahm er den entzückten Antigonos mit in das Land der Isis und der Sphinxe. Um diese Zeit war Antigonos durch die Mysterien in Berührung mit einem anderen geheimen Bündnis getreten, das ihn noch mehr als jene in Anspruch nahm. In Eleusis hatte er nämlich oft Männer aller Stände und Altersstufen bemerkt, die, obschon unter die Menge verstreut, in mystischem Einverständnis miteinander zu stehen schienen, die einander an wunderlichen kleinen Gebärden erkannten und trotz ihres Schweigens die bedeutsamsten Gespräche zu führen schienen. Sie bildeten ein Mysterium im Mysterium.

Einmal ließ er sich zu einem erbitterten Ausbruch gegen Cäsar und die Römer hinreißen. Augenblicklich erfaßte ihn ein Jüngling am Arme und führte ihn diesen Männern zu. Sie offenbarten sich als die Mitglieder der heimlichen, bei Todesstrafe verbotenen politischen Brüderschaften, die wie ein weit ausgespanntes Netz von Minengängen die Herrschaft Roms über Hellas untergraben sollten. Er schloß sich voller Begeisterung an sie an und fand bei ihren Zusammenkünften Ruhe und Nahrung für seine stärkste Leidenschaft. Denn seine unbefriedigte Liebe hatte empfangen und den Haß geboren: einen erhöhten, glühenden, hannibalschen Römerhaß. Es schien ihm, daß er nur das allgemeine Schicksal geteilt hatte, da sein Glück ihm durch einen Römer entrissen worden war.

Ging denn nicht eines jeden Glück und Freiheit zugrunde, nachdem man in den Maschen des ungeheuren Eisennetzes sich müde gezappelt hatte, das die Adlerspinne auf den sieben Hügeln über die Welt spann, um das Blut der Völker auszusaugen? Hatte er nicht selbst gefühlt, wie er ertrank und unterging, sobald er unter diese fürchterliche Macht getreten war – als er begann, seinen Blick auf ihre Silberadler und sein Ohr auf ihre Tuben zu richten? Er war ausgezogen mit dem stolzen Hoffen auf persönliche Taten und Auszeichnungen, und noch ehe er aus Thessalien hinauskam, war er nur ein Stein zwischen anderen Steinen, die auf dem ungeheuren Schachbrett von der sichtbaren Hand des unsichtbaren Cäsar – Julius Severus – hin und her geschoben wurden, – oder eigentlich von den stahlberingten Fingern dieser Hand, den Tribunen und Centurionen.

Daß er sich an der blutigen Unterdrückung des letzten Freiheitskampfes eines uralten Volkes beteiligt hatte, blieb ein steter Stachel in seiner Seele, und er sagte es sich selbst, daß Erinnas Verlust eine wohlverdiente Strafe dafür sei. Mit Entsetzen und Bewunderung sah er sie immer wieder vor sich, diese letzten Kämpfer für Jahveh, in durchlöcherten, blutbesudelten Rüstungen, ihre schartigen und stumpfen Schwerter schwingend, bis einer nach dem anderen in die Blutlache hinunterglitt, während über ihnen auf einer offenen Anhöhe die weißbärtigen Rabbiner knieten, singend und mit emporgehobenen Armen betend. Oder sie zeigten sich ihm nackt, knochendürr, gestreift von den alten Narben der Schwerter und den frischen Schwielen der Geißeln, ausgespannt an den Kreuzen, die wie eine gewaltige Palisadenreihe die Höhen um das Römerlager krönten, während eine schwarze Wolke von Adlern und Aasgeiern über ihnen hin und her wogte. Und er war nahe daran, die anzubeten, bei deren Tod er Mitschuldiger gewesen war.

Ununterbrochen forschte er in den Sternen nach dem Schicksal des Reiches und dem Tode Cäsars. Dies Unterfangen war nicht allein Verbrechen, sondern auch von den größten Mathematikern für töricht erklärt, weil Cäsar nicht wie die Sterblichen unter dem Einfluß der Sterne stand. Aber seine Leidenschaft kannte weder Furcht noch Vernunftgründe. Während seine Liebe zu Erinna zu verblassen begann, glühte im Gegensatz sein Haß gegen Rom stärker denn je. Er wuchs und breitete sich aus auf der Ruine seiner Liebe, wie Unkraut auf einem zerbröckelnden Gräberturm.


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