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Neunzehntes Kapitel

Als Ernst Hallin am Morgen des Sonntags, an dem die Ordination stattfand, ins Frühstückszimmer trat, war er glatt rasiert und trug zum erstenmal den bis unters Kinn zugeknöpften Pastorenrock. Er fühlte sich verlegen über dies neue Aussehen; und keins von der Familie vermochte ein Lächeln zu unterdrücken, als sie ihn begrüßten.

Er hatte sich bisher noch nie rasiert; und seine Haut unter dem Bart hatte eine feine Blässe, die seinem Gesicht etwas Mädchenhaftes gegeben hätte, wenn nicht die Brille gewesen wäre. Das Gesicht war durch das Fehlen des Bartes kürzer geworden und wäre in der Form rund gewesen, wenn nicht die Hagerkeit es doch hätte länglich erscheinen lassen. Die nervösen Linien um den Mund, die der Bart früher verborgen hatte, traten jetzt deutlich hervor. Der ganze Ausdruck des Gesichts war ein anderer. Wer ihn nicht oft gesehen hatte, hätte ihn kaum wiedererkannt.

Ernst selbst war während des ganzen Frühstücks mit seinem veränderten Aussehen beschäftigt und schämte sich darüber. Der Adjunkt ulkte ihn ab und zu ein bißchen an; und Gustaf lachte über die Späße des Vaters. Aber es lag keine Fröhlichkeit in dem Lachen, eher eine Ironie, die einen starken Anstrich von Ernst zeigte. Selma wurde rot, als er ins Zimmer trat, saß aber nachher stillschweigend da, unberührt von Scherzen und Anspielungen.

Frau Hallin lachte anfänglich mit den andern; später versuchte sie, die Heiterkeit etwas zu dämpfen. Wie sie sich den Sohn so betrachtete, sah sie in ihm nicht nur das Kind, auf das sie stolz war, um das sie gebangt, für das sie gebetet und gelebt hatte, sondern sie sah in ihm den Priester, den Verkünder des Gotteswortes, den Mann, zu dem sie aufsehen konnte, wie sie instinktiv zu allen aufsah, die das heilige schwarze Ornat trugen; das Fremdartige seines Aussehens trug nur dazu bei, in ihr das Gefühl der Ehrfurcht zu verstärken, das sich in ihre Freude, daß der so lang ersehnte Tag nun endlich gekommen war, mischte.

In der Domkirche drängten sich andächtige oder neugierige Scharen um die Plätze heute; man wollte doch den feierlichen Akt sehen, der den heutigen Gottesdienst beschließen sollte. Draußen vor der Kirche strahlte die warme Junisonne; durch die Äste der Ulmen mit ihren kleinen lichten Blättern leuchteten ihre Strahlen heiter auf die Menschenströme herab, die aus allen Teilen der Stadt auf die Kirche zufluteten.

Vornehme Leute kamen, aus dem schönen Villenviertel, wo die Birken in frischem Grün prunkten, aus den stolzen Häusern in der Langen Straße und am Markt, der heute reingefegt und leer sein Pflaster der Sonnenhitze darbot. Neue Frühlingstoiletten, große helle Feder- und Blumenhüte, wie sie die letzte Stockholmer Mode vorschrieb, elegante Mäntel, purpurrote Sonnenschirme, die unter dem lichtgrünen Laub in der Sonne erstrahlten. Aber heute war ein Tag, an dem sogar die Herren zur Kirche gingen. Hellgraue oder braune Hüte, hohe schwarze oder niedere graue Zylinder, gelbe Stöcke mit weißen Elfenbeinkrücken neben einfacheren aus Eiche und Weichselholz – alles sah so neu aus, voll Frühlingsfrische und Sommerahnung. Die Herren selbst, junge und alte, kamen so elastisch daher, wie verjüngt vom Sommer, der seine Wärme über das alte Schweden und Gammelby ergossen hatte. Aber sie unterhielten sich bloß flüsternd, und kein Lachen ward hörbar auf dem Weg zur Kirche.

Die alten Domglocken läuteten mit feierlichem Klang über den Köpfen der Menge den Gottesdienst ein. Sie läuteten alle weltlichen Gedanken hinweg und mahnten mit ihrem Klang all die Menschen mit ihren verschiedenen Trieben und wechselnden Gedanken, sich in Gottes Heiligtum zu versammeln, abzulegen alle eiteln Gedanken an die Welt und was von der Welt ist, zu vergessen den Unterschied zwischen arm und reich, hoch und niedrig, Gerechtem und Ungerechtem, und einzutreten in das kühle, himmelanstrebende Gewölbe, wo die Sonne in langen bunten Streifen ein phantastisches Licht über die hohen Säulenreihen und die Menschen warf, einzutreten als eine einzige große Familie von Brüdern und Schwestern, die für ein paar kurze Stunden in der Woche gemeinschaftlich die Knie beugen und sich gleich fühlen vor Gott, der unser aller Vater ist.

Aber zwischen den feinen Kleidern sah man auch die schwarzen Kopftücher und altmodischen Hüte des Armenviertels. Sachte gingen die Leute ihres Wegs, grüßten demütig ihre »besseren« Brüder im Herrn und nahmen in den hintersten Kirchenstühlen oder im Seitenschiff Platz, in den Stühlen, die den Armen offen standen, wo niemand sich einen Platz oder einen Schlüssel kaufte, um nicht mit groben Kleidern und derbem Geruch in Berührung zu kommen.

Und noch immer läuteten die Glocken hoch über den Köpfen der Menschen, und ihr Klang schwebte in die Weite auf der klaren, blauen Sommerluft.

Vor dem Altar stand der Bischof selbst. Das war eine Seltenheit in Gammelby, die viele in die Kirche lockte. Der Bischof las die Messe ganz ausgezeichnet. Es war eine wahre Lust, seine mächtige Stimme, die alten Choralmelodien singen zu hören, daß die Töne voll und stark durch die hohe Wölbung klangen; jedes seiner Worte war in der entferntesten Ecke des großen Domes zu verstehen.

Der junge Hilfsprediger von Gammelby predigte heute. Er war nicht beliebt als Prediger. Er hatte ein ganz mittelmäßiges Rednertalent, und die Frommen in der Gemeinde hielten ihn nicht für wahrhaft christlich gesinnt. Aber man war auch gar nicht der Predigt wegen in die Kirche gekommen; und stärker als gewöhnlich erklang darum der Seufzer der Befreiung, als ein langgedehntes Amen endlich die glücklicherweise recht kurze Predigt beschloß. Während der Gebete öffneten sich da und dort die Bänke; ein paar der Kühneren schlichen sich sachte vor in den Chor, um sich zeitig einen Platz zu sichern, von wo aus man die feierliche Handlung bequem mit ansehen konnte. Als der Schlußchoral begann, öffneten sich alle Kirchenstühle; alle strebten vor zum Chor, wo das Gedränge schon sehr stark war. Nur ein paar alte Leute, die nicht so lang stehen konnten, blieben zurück und versuchten später, in den spannendsten Augenblicken der Zeremonie, sich auf die Zehen zu stellen, um wenigstens einen Schimmer von dem zu erhaschen, was im Chor vorging.

Vorn gingen die Meßner eifrig und geschäftig umher, trieben die drängenden Volksmassen zurück und stellten sie in geordneten Reihen auf.

»Nicht so nah zum Altar. Platz für die Prozession und den Bischof!«

Dann hängten sie die vier Meßgewänder in geziemenden Zwischenräumen an den Altarschranken auf.

Plötzlich ward es ganz still in der Menge; der Weg zum Altar verbreiterte sich, die Hintenstehenden stellten sich auf die Zehen, um besser zu sehen, und durch die niedere Sakristeitür betrat die kleine Prozession die Kirche.

Zuerst kam der Bischof, hoch und gebieterisch, die goldene dreieckige Mitra auf dem Kopf, den goldenen Stab in der Hand. Um seine mächtige Gestalt hing das weite, in Seide und Gold gestickte und in allen Regenbogenfarben schimmernde Bischofsornat. Am Hals sah das faltige weiße Meßhemd hervor.

Hinter ihm kamen die Hilfsgeistlichen, je zwei und zwei. Vorn der Professor der Theologie Kumlander, neben ihm der Konsistorialnotar. Die Geistlichen im Ornat, der Konsistorialnotar in Frack und weißer Halsbinde. Nach ihnen kamen die vier, die ordiniert werden sollten, voraus Simonson und Ernst Hallin, alle in weißen Meßgewändern, die um die Mitte anschlossen und bis auf die Füße herunterreichten.

Unter den Klängen der Orgel schritten sie leise durch die Volksmenge und stellten sich um den Altar auf. Die vier Kandidaten in ihren weißen Gewändern beugten das Knie.

Als der letzte Akkord des Chorals verklang, wandte sich der Bischof der versammelten Menge zu. In der einen Hand hielt er das Meßbuch, in der andern ein langes feines Battisttaschentuch.

»Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!« begann er.

Über der großen Menschenmenge lag vollkommenes Schweigen. Nicht ein Flüstern war hörbar, nicht ein Laut. Die jungen Kandidaten hatten sich erhoben und standen aufrecht in einem Halbkreis um den Altar.

Der Bischof begann mit seiner Rede, die er von einem Papier ablas, das er im Meßbuch vor sich hatte. Mit kraftvoller Stimme sprach er die einleitenden Worte der Schrift: »Und Jesus sprach zu Petrus: Simon Jona, liebst du mich mehr, denn mich diese lieben? Petrus antwortete: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Sprach er zu ihm: Weide meine Lämmer!«

Es war kein Zufall, daß der Bischof grade diesen Text gewählt hatte, über den Ernst Hallin vor zwei Monaten seine Probepredigt gehalten hatte. Im Gegenteil – schon damals war dem Bischof der Gedanke gekommen, gerade diesen Text zu wählen, der sich so gut eignete für die jungen Leute, die das schwere Amt eines Geistlichen antreten wollten. Er wollte über diesen Text sprechen, daß er zu einem ernsten Wort der Erweckung, aber auch zu einem Wort der Milde und Versöhnung ward, einem Wort, das die Schwachen tröstete und die Widersetzlichen beruhigte. Denn welchem wenig gegeben ist, von dem soll man nicht viel fordern. Und der Herr fordert heutzutage weit weniger von seinen Dienern, als er dereinst von Petrus forderte.

Ernst Hallin hatte den ganzen Tag über in sich eine Ruhe gefühlt, die ihn fast froh machte. Denn er hatte diese Ruhe, die ihm so Wohltat, als Zeichen angesehen, daß der innere Friede, auf den er geharrt, um den er gebetet hatte, ihm endlich zuteil geworden war. Als er sich in der Sakristei in das weiße Meßgewand kleidete, war ihm, als lege er damit alles weltliche Wesen, alle aufrührerischen Gedanken ab und kleide sich in die reine Rüstung, die ihn zu einem wahren Streiter des Herrn machen sollte.

Aber als diese Textworte ihm entgegenklangen, kehrten alle seine alten Gedanken zurück. Die Erinnerung an den Tag, an dem er Eva Baumann gebeichtet hatte, erwachte mit doppelter Stärke in ihm; und wieder hörte er ihre Worte: »Es ist eine Feigheit, die Sie begehen wollen …« Die Worte des Bischofs klangen leer an seinem Ohr vorüber. Er stand wie in einem Nebel, durch den die Laute nur dumpf hindurchklangen, durch den er die ganze Umgebung nur in unbestimmten Umrissen erblickte. Er wußte kaum, träumte er oder wachte er. Er war wie in einer Halluzination – sein ganzer Körper glühte im Fieber.

Seine Augen schweiften durch den Chor; die Sonne fiel durch die gemalten Fenster und bildete einen bunten Strahlenweg über dem Haupt des Erlösers, der mit dem Kelch in der Hand auf dem Altar stand, bis hinab auf den Fußboden. Die Strahlen funkelten auf den Goldstickereien am Ornat des Bischofs; der Stab, der in der Ecke lehnte, glitzerte und blinkte wie ein strahlenvoller, wärmender Quell des Lichts.

Es war seine Kirche, seine alte Kirche; und er dachte der Frühlingsabende, an denen er hier gestanden und gesehen hatte, wie die Sonne durch die gemalten Glasscheiben über Pfeiler und Fußboden flutete.

Der Bischof redete weiter; die Leute, die sich um den Chor drängten, warfen neugierige Blicke auf die vier jungen Männer, die im Halbkreis vor dem Altar standen.

Ernst hörte die Worte des Bischofs gar nicht mehr. Er stand wieder als Knabe in seiner alten Kirche, an eine Bank unter der Empore gelehnt, und träumte wundersame Träume, während sich sein Blick auf das Spitzgewölbe heftete, das sich gleich betenden Riesen Händen nach dem lebendigen Gott emporstreckte. Die Menschenmenge war fort. Die Kirche war leer. Nur des klaren Himmels Sonnenstrahlen spielten durch die Fenster.

Sie glitten an den grauen Wänden entlang, schmiegten sich weich und bunt um die mächtigen Pfeiler und lagen in schimmernder Ruhe auf den verwitterten Grabsteinen des Fußbodens. Ein Zittern war in ihrem Spiel, als arbeiteten sie, und es war, als schwankten die Steine, wo ihr strahlender Weg sich Bahn brach.

Aber droben unter der hohen Wölbung ruhte die Dämmerung. Es war, als wage kein Sonnenstrahl das heilige, tausendjährige Dunkel zu stören.

Ernst schaute und schaute. Er wußte nicht, was er dachte, wußte nicht, was er wollte. Er sah bloß den mächtigen Dom, der sich um ihn wölbte und badete in einem Meer von regenbogenfarbig schimmernden Sonnenstrahlen.

Da war ihm plötzlich, als bräche ein ganzes Bündel Sonnenstrahlen sich einen Weg durch die oberste Wölbung. Er wußte gleich, daß das nur eine Phantasie war. Aber die Phantasie war so mächtig in ihm, daß er es sah wie etwas Wirkliches. Die Strahlen funkelten durch das tausendjährige Dunkel, funkelten in einem Glanz, der das dunkle Gewölbe droben mit tausendfach stärkerem Licht erleuchtete als die ganze übrige Kirche. Dann ward der Glanz matter, bis er nur noch war wie alles Sonnenlicht in der Kirche, und Ernst sah jetzt deutlich, daß die Decke droben geborsten war und das klare Tageslicht durch die dämmerige Wölbung der Domkirche hereinleuchtete.

Und während er sich über das, was er erblickte, wunderte, sah er, wie der Spalt sich weitete und das Licht droben breiter ward. Und doch erschrak er nicht. Er fürchtete auch nicht, daß herabstürzende Steine ihn zerschmettern könnten. Denn sie fielen gar nicht herab, sie schmolzen nur gleichsam hinweg, Stück für Stück, vor der siegenden Kraft der Sonne. Er fühlte sich so ruhig und froh; ihm war, als habe er bisher gar nicht gewußt, was es heißt, zu atmen!

Durch einen seltsamen Gedankensprung dachte er plötzlich, was wohl der Bischof sagen würde, wenn er sähe, daß seine Kirche zerstört war. Denn niemand konnte ja mehr darin sein, wenn das Dach weg war und der Regen jederzeit eindringen und das Heiligtum im Wasser ertränken konnte.

Aber er sollte nicht erfahren, was der Bischof dazu sagen würde.

Er vernahm ein Getöse, als wäre die Erde geborsten, und als er sich umschaute, waren die Wände fort, der Altar mit dem Christusbild und dem Abendmahlskelch versank vor ihm, zu seinen Füßen sproßten Blumen und Gras, als ob nie Steinplatten dagewesen wären, um sein Gesicht spielten frische Lüfte und über sich hörte er den Gesang der spielenden Sonnenstrahlen:

»Es ist vollbracht. Die Arbeit von Jahrtausenden ist vollbracht. Das Leben zieht ein und erobert die Welt. Die Sonne hat gesiegt.«

Er seufzte tief auf und ward plötzlich aus seinen Gedanken durch einen Puff in die Seite aufgerüttelt.

Es war Simonson, der mit undurchdringlich ernster Miene ihn darauf aufmerksam machte, daß jetzt der Notar vortrat, um die Glaubensartikel vorzusprechen.

Ernst Hallin wiederholte die Worte, wie sie ihm in den Mund gelegt wurden.

Ich glaube an Gott Vater den Allmächtigen …«

»Ich glaube an Jesum Christum …«

»Ich glaube an den Heiligen Geist …«

Er war blaß vor Gemütsbewegung; kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. »Die Sonne hat gesiegt!« klang es in ihm. Was waren das für sonderbare Gedanken, die manchmal in ihm erwachten und ihn nicht einmal jetzt in Ruhe ließen! Was waren das für Gedanken?

Mit schwacher Stimme und niedergeschlagenen Augen beantwortete er des Bischofs Fragen; und als das Gelübde abgelegt werden mußte, das entsetzliche Gelübde, vor dem er sich so lang gefürchtet hatte, sprach er es ganz gedankenlos, ohne daß die Worte ihm einen tieferen Eindruck machten als jede beliebigen andern Worte:

»Ich, Ernst Hallin, schwöre bei Gott und seinem heiligen Evangelium, zu dessen Verkündigung ich hiermit berufen und ausersehen werde, daß ich stets bei der reinen evangelischen Lehre verbleiben will, so wie sie im Worte Gottes, den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments offenbart und durch das Augsburgische Glaubensbekenntnis und den Beschluß des Konzils zu Upsala im Jahre 1593 angenommen und verkündigt worden ist, also daß ich dawiderstreitende Lehren weder offenbarlich verkünden noch heimlich fördern will.«

Klar bewußt, was eigentlich vor sich ging, ward er sich erst, als der Bischof nach Ablegung des Gelübdes mit starker und gebieterischer Stimme die Worte sprach:

»Kraft der Vollmacht, die mir aus Gottes Gnaden von seiner Gemeinde anvertraut ist, erteile ich euch hiermit das Predigeramt, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Als diese Worte gesprochen waren, wandte Ernst Hallin sich hastig um und blickte über die Kirche hin. Er hatte das Bedürfnis, hinaufzuschauen in das Gewölbe, um mit eigenen Augen zu sehen, daß da oben noch immer Dunkel lag. Als er sich davon überzeugt hatte, daß alles war wie zuvor, fühlte er sich etwas ruhiger. Zugleich aber hatte er das Gefühl, daß seine alte Kirche ihn gerichtet hatte.

Und mechanisch beugte er die Knie, während die Töne der Orgel über sein Haupt hinbrausten. Das gestickte Meßgewand, das neben ihm lag, ward ihm über die Schultern gehängt, eine Hand legte sich auf sein Haupt und er vernahm die Stimme des Bischofs, die das Vaterunser sprach.

Eine Weile darauf schritten der Bischof und die Hilfsgeistlichen in die Sakristei zurück, gefolgt von den vier jungen Männern, auf deren Schultern zum erstenmal die silbergestickten Meßgewänder hingen.

Unter denen, die zuvorderst standen, war Gustaf Hallin. Mit gespannter Aufmerksamkeit war er der Zeremonie gefolgt. Das Ganze hatte ihm einen fast unheimlichen Eindruck gemacht; so oft es ihm möglich war, hatte er des Bruders Gesicht beobachtet. Zuerst, als er hereinkam, in das weiße Meßhemd gekleidet, glattrasiert, blaß, verlegen unter all den Blicken, die auf ihn gerichtet waren. Dann als er sich umwandte und an die Decke hinaufblickte. Schließlich, als er in vollem priesterlichem Ornat mit seinen Amtsbrüdern wieder hinausging.

Gustaf kannte seinen Bruder nicht, kannte keinen einzigen von den Gedanken, die Ernst beschäftigten; dennoch verurteilte er ihn mit der ganzen Raschheit der Jugend, als wäre er Schritt für Schritt mit ihm gegangen. Sein Instinkt sagte ihm, daß etwas hier nicht stimmte; und ihm war, als habe er dem Bruder für immer Lebewohl gesagt.

Sein gewöhnlich so sorgloses Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck. Die Nasenflügel bebten, und nur mit Mühe vermochte er die Tränen zurückzuhalten.

Als alles aus war, bahnte er sich hastig einen Weg durch die Menge und ging schnurstracks nach Hause, ohne irgendeinen von den vielen Bekannten zu begrüßen, die er unter den Zuschauern sah.

Draußen schien die Sonne, vom Turm klangen fröhlich die Glocken zum Zeichen, daß die Feier zu Ende war, und Scharen von Menschen strömten auf den Platz mit den Ulmen heraus. Sie plauderten heiter miteinander; alle hatten es sehr eilig. Es hatte heute lang gedauert, und Punkt 2 Uhr wartete daheim das Mittagessen.

Gustaf ging, ohne nach rechts oder links zu blicken, nach Hause und hinauf in sein Zimmer. Es war eine kleine Dachstube, kaum größer als ein Kämmerchen, das nur Platz hatte für ein Bett, eine Kommode, einen Tisch, einen Bucherständer und zwei Stühle. Das Waschbecken stand auf einem Stuhl hinter der Tür.

Es war ein kleines Zimmerchen, aber es war ein Zimmer, und er wußte, hier war er ungestört. Nachdenklich setzte er sich ans Fenster und sah auf den kleinen Garten hinunter, der grade unter seinem Fenster lag.

Es war ihm so seltsam zumut – so einsam. Es war das erste Mal, daß er jemand von den Seinen im Verdacht hatte, eine schlechte Handlung begangen zu haben, eine jener häßlichen Handlungen, die dem ganzen Leben ihr Brandmal aufdrücken. In ihm selbst brannte und schmerzte es von all der Empfindlichkeit und Unversöhnlichkeit der Jugend. Und in die Gedanken an den Bruder mischten sich unruhige Gedanken an sein eigenes Leben, das ihn dereinst auch auf einen Weg führen würde, von dem er nicht mehr zurück konnte.

So saß er, bis er zum Essen gerufen wurde.

Eine feierliche Stimmung lag über der ganzen Familie. Der Gedanke, daß Ernst nun bald wegreisen würde, mischte sich mit den Eindrücken der Ordination. Niemand redete viel. Alle waren in ihre eigenen stillen Gedanken versunken. Und in allen war eine Bewegtheit, die keins auf andere Art hätte ausdrücken können, als durch Tränen, Freudentränen bei den einen, bei den andern Tränen ganz anderer Art. Aber Tränen paßten nicht zu diesem festlichen Tag. Darum schwieg man, um sie nicht hervorzurufen.

Ruhig und still verging der Nachmittag. Jedes war in seiner Weise vom Tag erschüttert; so war es natürlich, daß man jetzt ruhte.

Ernst quälte es nur, daß er der Mutter nichts zu sagen wußte. Er sah, wie ihre Augen ihm folgten, wie sie sich hie und da abwandte, um die Tränen zu verbergen, die sie allein nicht zurückzuhalten vermochte. Er wußte, sie erlebte heute den Tag, zu dem ihr ganzes Leben nur eine Vorbereitung gewesen war, den Tag, für den sie gelebt hatte, seit er überhaupt geboren war. Aber er fand kein Wort für sie. Und damit dieser Tag ihr doch nicht zum Schmerz werden möchte statt der Freude, bezwang er sich, ging zu ihr hin, schlang den Arm um ihren Hals, beugte sich zu ihr nieder und küßte sie auf die Stirn.

Sie drückte ihm dankbar die Hand. Den ganzen Nachmittag hatte sie sich über des Sohnes Schweigsamkeit und Verschlossenheit gewundert. Sie fand, der Tag war so ganz anders, als sie sich ihn oft vorgestellt hatte, so alltäglich, so trocken.

Aber jetzt war alles wieder gut. Alles Große, was sie sich von diesem Tag erträumt hatte, war zu dieser einzigen kleinen unbedeutenden Handlung zusammengeschrumpft. Und dennoch war sie zufrieden und sagte sich, es wäre alles so, wie es sein sollte. Sie wußte ja, hätte der Sohn sie nicht mit gutem Gewissen küssen können, so hätte er es nicht getan. Und herzlich nickte sie ihrem Mann zu, der ihr gegenüber im Schaukelstuhl saß, und dankte in ihrem Herzen Gott, daß er ihr Kind behütet hatte. Freilich war sie ein bißchen traurig, als Ernst später am Nachmittag sagte, er wolle eine Weile ausgehen, um mit seinen Gedanken allein zu sein; aber sie ließ sich nichts anmerken und ließ ihn ohne eine Frage gehen.

Noch einmal wollte er seinen alten Abendspaziergang um die Domkirche machen.

Zwei Tage darauf reiste Pastor Hallin ab, sein Amt in Sollösa anzutreten.


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