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Elftes Kapitel

Es war wie ein stummes Übereinkommen zwischen Ernst und dem Vater, daß Frau Hallin nicht zu wissen brauchte, wo Ernst am Abend gewesen war. Das heißt, keinem von beiden wäre es eingefallen, ihr die Sache mitzuteilen. Aber als Ernst morgens zum Frühstück herunterkam, war er doch ein bißchen verlegen, fast, als hätte er etwas Verbotenes getan. Er merkte, daß die Augen der Mutter sich mit einem ängstlichfragenden Ausdruck ihm zuwandten, und er entsann sich plötzlich wieder des Auftritts zwischen ihnen vom Abend zuvor. Er hatte die ganze Nacht gut geschlafen und als er aufwachte, dachte er bloß an das Zusammensein vom gestrigen Abend. Ein angenehmes, heiteres Gefühl erfüllte ihn; und als er aufstand und zum Fenster hinausschaute, schien die Sonne über die Schneewehen auf dem Domplatz und der Himmel lachte so blau zwischen den Zweigen der Ulmen herab. Da ward ihm noch viel leichter ums Herz; er summte ein paar heitere Melodien vor sich hin, während er die Weste zuknöpfte und vor dem Spiegel seine Krawatte band.

Als er jetzt dem Blick der Mutter begegnete, fiel ihm auf einmal der ganze vorhergehende Abend ein. Seine heitere Stimmung verschwand und machte derselben Unruhe und Reizbarkeit Platz, die ihn den ganzen gestrigen Tag über beherrscht hatten. Er dachte wieder an den Unwillen, den er Simonson gegenüber plötzlich empfunden hatte, an seine Heftigkeit gegen die Mutter und wie rasch er dann das alles beim Glase vergessen hatte. Er wich dem Blick der Mutter aus und zwang sich, Gutenmorgen zu sagen, als wäre nichts geschehen. Dann setzte er sich allein zu seinem Frühstück. Man versammelte sich dazu nicht im Hallinschen Haus, sondern jeder kam und ging nach eigenem Belieben.

Schweigend nahm er seine Mahlzeit ein. Als er fertig war, hatte er einen unbestimmten Drang nach Einsamkeit; und mit einem Gefühl der Ungeduld dachte er an sein kleines Zimmer in Upsala, wo er wußte, er konnte immer ungestört sein. Er erhob sich und ging nach der Tür.

»Wo gehst du hin?« hörte er die Mutter aus dem Wohnzimmer rufen.

»Auf Papas Zimmer«, erwiderte er und blieb unschlüssig stehen.

»Willst du nicht vorher zu mir kommen?«

»Doch, gern.«

Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich.

»Ich möchte wohl wissen, wie's mit deiner Probepredigt geht«, sagte Frau Hallin.

Seiner Probepredigt? Herrgott! Sollte das Schreiben und Studieren schon wieder losgehen? Er war ja doch eben erst von Upsala gekommen.

»Es ist ja noch ein voller Monat, bis ich die halten muß«, sagte er widerwillig.

Frau Hallin sah auf ihre Arbeit.

»Aber du wirst doch jedenfalls schon daran gedacht haben. Ich möchte so gern ein bißchen wissen, wie du den Text auslegen willst. Ich habe ihn schon so oft durchgelesen«, fügte sie hinzu. Es lag etwas Bewegliches in ihrer Stimme.

Ernst sah verlegen aus. Ein ungeduldiger Ausdruck flog über sein Gesicht.

»Ich habe schon darüber nachgedacht«, sagte er. »Aber ich kann nicht gut über so was reden, eh' ich's aufs Papier gebracht habe.«

Frau Hallin sah auf und nickte. Etwas Altes kam in ihr Gesicht, das dem Sohn weh tat.

»Ich werde warten, bis du selber davon sprechen magst«, sagte sie einfach.

Mit einem Gefühl der Reue ging Ernst auf des Vaters Stube. Es bedrückte ihn unsagbar, daß er der Mutter nicht hatte anders antworten können.

Er verstand ja, daß sie seit Tagen, seit Wochen darauf wartete, daß er etwas über die Sache sagen sollte. Seit der Tag für die Predigt bestimmt war, dachte die Mutter unaufhörlich an ihn, das wußte er, und machte sich vielleicht große Vorstellungen von dem reichen geistigen Leben, das solch ein wichtiger Entschluß in ihm wecken müßte. Sie hatte kaum an etwas anderes gedacht, hatte den Text für sich durchgelesen, hatte versucht, sich auszudenken, wie er, so wie sie ihn kannte, diesen Text auffassen würde. Sie sah in ihm nur noch den zukünftigen Verkünder der Heiligen Schrift; sie erwartete von ihm, er müsse ein Streiter für die Sache Gottes werden, ein gewaltiger Erwecker, der die Gemüter bewegen und die Seelen für Gottes Reich gewinnen würde. Und es hatte sie danach verlangt, daß er von selber kommen und mit ihr reden würde, so stark danach verlangt, daß sie es nicht lassen konnte, ihn zu fragen, obwohl sie begriff, daß ihm das unangenehm sein mußte.

Er sah das alles, ganz deutlich, als ob sie selbst es ihm erzählt hätte, und trotzdem konnte er seine Unlust, daß sie ihn hatte ausfragen wollen, nicht überwinden. Er war so daran gewöhnt, einsam, nur mit seinen Gedanken, zu leben, daß er jeden Versuch, in ihn einzudringen, fürchtete.

Was hätte er ihr auch sagen sollen?

Ungeduldig ging er im Zimmer auf und ab.

Was sollte er sagen?

Er hatte ja die ganze Zeit her gar nicht an derartiges gedacht; und das beunruhigte ihn jetzt. An alle möglichen gleichgültigen Dinge dachte er. Alles, was er sah, interessierte ihn, fremde Menschen, mit denen er bekannt wurde, die Geschwister daheim, die Eltern, die Menschen in Gammelby, das Wetter, das Leben auf den Straßen, die Umgebung der Stadt, in der er täglich seinen Spaziergang machte. Alles interessierte ihn. Alles, bloß nicht Bücher.

Es war, als könne er sich überhaupt nicht dazu zwingen, ein Buch zu öffnen. Ganz sonderbar fremd fühlte er sich, wenn er nur etwas Gedrucktes sah. Er hatte auch lang genug studiert und gelesen. In der Schule schon hatte er seine freien Stunden zum Lesen benützt.

Und dann auf der Universität!

Bei der Tante in Upsala hatte er ja ungefähr so gelebt, wie in den letzten Jahren seiner Schulzeit. Seine einzige Zerstreuung im Lauf des Tages hatte in den zwei regelmäßigen Spaziergängen bestanden: der eine auf der Flusterpromenade nach dem Frühstück, der andere nachmittags auf den Karolinenhügel. Nun er endlich mit Studieren fertig war, da war's, als dränge alles, was er früher in sich verschlossen, zum Schweigen gebracht hatte, hervor und wolle sich Gehör erzwingen. Durch alle Bücher hindurch, ihnen zum Trotz!

Er blieb am Fenster stehen. Draußen funkelte die Sonne auf dem Schnee, der dick über dem weiten Platz lag und um die Stämme der Ulmen runde Vertiefungen bildete. Auf das Dach brannte sie so stark, daß der Schnee, der dortlag, zu schmelzen begann und sachte an den Eiszapfen, die an den Rinnen hingen, herabtropfte.

Ohne weiteres Besinnen griff Ernst Hallin zu seinem gewöhnlichen Mittel, wenn er seine Gedanken verscheuchen wollte. Er beschloß, einen Spaziergang zu machen, und nahm sich fest vor, dabei an seine Predigt zu denken.

Er schlug den Weg ein, der am Villenviertel vorbei die Anhöhe hinaufführte, die sich von Norden her nach Gammelby heruntersenkt. Rasch schritt er aus; im Sonnenschein, der ihm warm entgegenglitzerte, verschwanden seine zweifelnden Gedanken; er vergaß alles, außer dem, was grade vor ihm lag.

Als er auf dem Gipfel des Abhangs angelangt war, erblickte er einen zugefrorenen See, auf dem aufrechtstehende Tannenzweige einen Fahrweg bezeichneten, der fern hinter einer Landzunge verschwand. Frischgewaschen vom Schnee, der von den Zweigen abgetropft war, mit Eiszapfen, die da und dort durch die dunkelgrünen Nadeln in der Sonne funkelten, standen die Tannen und Fichten auf den Hängen, den kleinen Inseln und Landzungen, die auf allen Seiten vorsprangen und das weiße Schneefeld des Sees unterbrachen. Ganz hinten, in der Ferne, blickte man in eine endlose Perspektive von Ufer und Wald, die im Schatten lag, während das große offene Schneefeld in den glitzernden Strahlen der Sonne glänzte.

Im Wald, auf der andern Seite der Straße, sah er ein paar Dompfaffen, die mit ihren roten Brüstchen lustig durch den Schnee flatterten; über einen hohen Stein huschte eben ein graugesprenkeltes Eichhörnchen und verschwand zwischen den dämmerigen Tannen.

Es kam ihm der Gedanke, wie ganz anders als andere Menschen er doch eigentlich sein müsse. Andere Menschen bekamen ihre Arbeit zugeteilt, griffen zu, ohne weiteres Besinnen, mit beiden Händen, und taten ihre Pflicht. Und damit war's fertig.

Und er? Er lief herum, wochenlang, grübelte über seine Arbeit nach, bis er halb krank war, und konnte doch zu keinem Entschluß kommen. War es denn um seine Arbeit etwas so Besonderes? Predigten hatte er schon öfter geschrieben und auch selbst gepredigt. Und hatte sich dabei doch nicht so aufgewühlt, so unruhig, so zerrissen gefühlt. Er hatte sogar ganz gut gepredigt, wenn er erst in Aug gekommen war. Das wußte er.

Und daß seine Auffassung der Dogmen, der Dreieinigkeit und Versöhnung, mehr zu der Waldenströms als zu der der Kirche neigte – was tat das? Das wußte er ja schon längst. Dies bißchen Freidenkertum war eine Seelenarbeit, die ihn in einsamen Stunden stets beschäftigt hatte. Es war ein Geheimnis, auf das er fast stolz war. Er hatte es »Entwicklung« genannt, hatte es als einen großen, ernsten Gärungsprozeß empfunden. Aber Waldenström selber war ja doch im Dienst der Kirche geblieben. Sollte er da nicht auch eintreten können?

Aber der Eid? Der Priestereid? Er schwor ja doch auf die Symbole und auf das Augsburger Bekenntnis. Bah! War es sein Fehler, daß kein Mensch Gottes Wort verkünden durfte, ohne diesen Eid zu schwören? Sollte sein Gewissen denn so viel empfindlicher sein als das der anderen? Wie oft hatte er das nicht mit Simonson besprochen, und Simonson hatte so gute Gründe angeführt, so überzeugende, klare, unwiderlegliche Gründe.

Zum Beispiel, Gottes Wort könne man ja wohl verkünden, aber man könne davon nicht leben, wenn man keine Anstellung habe. So sagte Simonson. Was für ein Mensch war das eigentlich, Simonson?

Er blieb unten am Abhang, wo eine Brücke über einen breiten Graben führt, stehen. Auf beiden Seilen des Grabens standen ein paar alte Tannen; der Graben war so tief, wie ein schmaler Bach. Dünne Eisschollen wuchsen zu beiden Seiten der Grabenränder; auf den Steinen unter der Brücke lag Schnee. Aber unter der Eisdecke murmelte und sprudelte Wasser, das sich Bahn brechen wollte, und da, wo das Eis Löcher hatte, sah man die lehmgelbe Flut unter dem Eis durcheilen; in der Mitte war eine lange Rinne, durch die das Wasser aufsprudelte und mit dem geschmolzenen Schnee einen großen schwarzen Fleck bildete.

Es war, als wecke ihn dies Sprudeln aus seinen Gedanken. Seine Nasenflügel weiteten sich, seine Brust schwoll, mit blitzenden Augen blieb er stehen und lauschte auf dies kleine Zeichen von Leben, das sich da durch das Schweigen des Waldes vorwärtsarbeitete. Er lehnte sich ans Brückengeländer und blickte hinab auf den dunkeln Streifen Wasser, der sich immer weiter in den Schnee hineinsaugte. Eine Lust überkam ihn, zu helfen, und mit ganz ungewohnter Lebhaftigkeit sprang er den Abhang hinunter und begann mit seinem Stock Löcher in das Eis zu hauen, damit das dunkle Wasser unbehindert aufschwellen könnte. Er arbeitete, daß er schwitzte; die helle Röte stieg ihm ins Gesicht. Er hieb Löcher um große Stücke Eis, drückte sie dann ins Wasser hinunter, brach mit den Händen große Klumpen los und warf sie ans Ufer, und fühlte die ganze Zeit über ein solches Interesse an der Sache, als beschäftige er sich mit der allerernsthaftesten und nützlichsten Arbeit. Eben wollte er einen großen Stein aufheben und ihn mitten in die Eisrinne werfen, wohin er mit dem Stock nicht reichte, als er plötzlich von der Brücke oben einen Laut vernahm; er fuhr zusammen und blickte auf.

Droben stand ein junges Mädchen und sah ihm bei seiner Arbeit zu. Als der junge Mann sie erblickte, errötete sie und schickte sich zum Gehen an. Dann besann sie sich und brach in ein helles, klingendes Lachen aus.

»Entschuldigen Sie!« sagte sie. »Aber ich kann nicht anders! Sie haben zu komisch ausgesehen!«

Und wieder lachte sie, daß zwei kleine Grübchen in ihren Wangen sichtbar wurden; ihre Augen glänzten schalkhaft und klar, und die Zähne blitzten verführerisch zwischen den roten Lippen.

Ernst Hallin fühlte sich recht beschämt. Es war Eva Baumann, eine Freundin seiner Schwester, die er seit seiner Heimkehr noch nicht wiedergesehen hatte. Ohne ein Wort herauszubringen stand er da und sah sie an. Wie hübsch und lieb sie aussah, wie sie sich so über das Brückengeländer beugte! Die kurze Jacke umschloß eng ihre schlanke Gestalt, an der rechten Hand, die sie aus dem Muff gezogen hatte, trug sie einen schwarzen Handschuh, und zwischen dem und dem Ärmel guckte ein rundes kleines Handgelenk hervor.

Verwirrt zog er endlich den Hut und grüßte. Das junge Mädchen neigte den Kopf und lächelte wieder. Dann richtete sie sich aus ihrer gebückten Stellung auf und steckte die Hand in den Muff.

»Adieu, Herr Hallin!« sagte sie. »Pastor Hallin müßte ich eigentlich sagen.«

Seine Verlegenheit war plötzlich verschwunden. Sie sah so unwiderstehlich lieblich aus, wie sie dastand und die Sonnenstrahlen in den ungebärdigen Nackenlöckchen spielten.

»Warten Sie doch, daß ich Sie begrüßen kann!« rief er und kletterte den Rain hinauf. Er trat zu ihr hin und faßte ihre Hand.

Daß er das früher gar nicht bemerkt hatte, wie hübsch sie war mit ihrem frischen Lächeln und den tiefen, warmen Augen!

»Ich gehe immer diesen Weg«, sagte sie wie zur Erklärung. »Natürlich könnt' ich ja nicht denken, daß ich Sie hier treffen würde. Willkommen wieder daheim!« fügte sie dann hinzu.

»Danke!«

»Was machten Sie denn eigentlich da drunten?« fuhr sie fröhlich fort.

»Nichts«, erwiderte er, indem er neben ihr herschritt. Eine Weile schwiegen sie beide. Ernst sah zu, wie sie mit kleinen, raschen, gleitenden Schritten neben ihm herging.

»Das Frühlingswetter hat mich zum Narren gehalten!« sagte er.

»Finden Sie, daß es Frühlingswetter ist?« Sie lachte, ein kurzes, lustiges Lachen. »Wir sind doch erst im Februar.« »Freilich ist Frühlingswetter«, sagte er. »Merken Sie es denn nicht an der Luft? Es ist so warm in der Sonne, daß einem der Rock zu heiß wird!«

Er knöpfte den Überzieher auf und nahm den Hut ab, während er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.

Sie sah ihn ganz erschrocken an.

»Nehmen Sie sich in acht. Sie werden sich erkälten«, meinte sie. »Sie sind doch nicht besonders kräftig.«

Er sah sehr verwundert aus.

»Wollen Sie mich auch ermahnen?« fragte er fast ein bißchen ärgerlich. »Alle tun es. Aber woher wissen Sie das denn eigentlich?«

»Selma und ich haben so oft von Ihnen gesprochen,« sagte sie; sie errötete dabei und wandte das Gesicht ab.

Zusammen gingen sie zur Stadt zurück und schwatzten dabei von allem möglichen, von gemeinsamen Bekannten, von alten Zeiten, als sie sich noch auf Kinderbällen und Kindergesellschaften getroffen hatten. Sie hatte immer gefunden, Ernst wäre so sonderbar, und hatte immer Angst vor ihm gehabt, weil er so ernst war, so schrecklich ernst. Heute freilich hatte sie ihn von einer ganz anderen Seite kennen gelernt.

»Wie lustig, daß Sie so närrisch sein können, wenn Sie allein sind! Jetzt hab' ich auch gar keine Angst mehr vor Ihnen!« Sie beugte sich vor und blickte ihm lächelnd ins Gesicht, als wäre sie jetzt erst dahintergekommen, daß auch er ein junger Mensch von Fleisch und Blut war, wie sie.

»Sind Sie denn nie unvernünftig?« fragte Ernst. Er war ganz erstaunt über seine eigene Stimme; er kannte sie kaum wieder, so heiter und stark klang sie.

»Ich!«

Sie warf mit einem kleinen Ruck den Kopf in den Nacken und fing an, im Schnee herumzutrippeln, als habe sie die größte Lust, zu tanzen.

»Wissen Sie, wenn ich so allein daheim bin, und Tante in der Küche draußen kocht – Sie wissen doch, ich wohne bei der Tante, wenn ich in der Stadt bin, und sie hat Schuljungens in Pension – ah – was die gräßlichen Jungens einen mit ihren Unarten plagen können! – da weiß ich wahrhaftig manchmal nicht, was ich anfangen soll! Ganz verrücktes Zeug fällt einem da oft ein! Wir Mädchen haben ja doch nichts Rechtes zu tun. Und manchmal ist mir alles so zuwider, daß ich am liebsten weinen möchte. Aber manchmal bin ich so ausgelassen und wild, daß ich wollte, ich könnte auf einem so recht tollen Pferd einmal weit fortreiten. So schnell, daß ich gar nichts mehr sähe vor mir! Hüpfen und schreien könnt' ich aus lauter Übermut, in den Wald laufen und die Abhänge herunterrollen, oder im Sommer im See baden und ins Wasser schlagen, bis ich so müd wär, daß ich gar nicht mehr könnte! Aber das ist ja alles dummes Zeug!«

Sie waren jetzt in die Stadt gekommen, und an einer Querstraße blieb sie stehen.

»Jetzt darf ich nicht weiter mit Ihnen gehen«, sagte sie. »Adieu!«

Und sie streckte ihm die behandschuhte kleine Hand entgegen. Er nahm sie und blickte ihr in die klaren Augen.

»Kommen Sie denn jetzt gar nicht mehr zu Selma?« fragte er. Er begriff selber nicht, wo er den Mut dazu hernahm.

»Ich weiß nicht, ob ich darf, wenn ein junger Herr im Haus ist!« erwiderte sie.

Er sah so hilflos niedergeschlagen aus, daß sie lachen mußte.

»Es kann schon sein, daß ich doch komme!« sagte sie ermutigend.

Dann zog sie ihre Hand aus der seinen und nickte ihm kurz zu, bog in die Querstraße ein und entfernte sich mit kleinen, munteren, trippelnden Schritten.

Er stand und sah ihr nach. Es war, als höre man Musik, wenn man sie gehen sah. Alles ward so ruhig in einem.

Und Ernst ging schnurstracks heim und schrieb bis zum Mittagessen an seiner Predigt.


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