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Viertes Kapitel

Am folgenden Tag ging der Adjunkt zehn Minuten früher als sonst zur Schule. Er wollte gern seinen Freund Bruhn sprechen, eh die andern kamen. Von ihm konnte er ganz gewiß die fünfzig Kronen entlehnen. Bruhn war Professor und Junggesell, lebte sehr zurückgezogen und hatte stets Gelder auf der Bank, die er im Winter zusammensparte, um im Sommer reisen zu können.

Aber als der Adjunkt ins Lehrerzimmer kam, war es leer; kein Bruhn war zu sehen.

Es war kühl in dem großen Raum; das kalte Licht der Gasflammen brach sich gegen den flackernden Schein des Kachelofens. Der große Tisch mit den hochlehnigen Sesseln darum erstreckte sich durch die ganze Länge des Zimmers und gab ihm das Aussehen eines Gerichtssaals, während die Karten, die an den Wänden hingen, und die Schränke zwischen den Fenstern bezeugten, daß hier die Götter der Weisheit und Gelehrsamkeit das Szepter führten.

Der Adjunkt trat zum Ofen und wärmte sich die Hände. Dann lauschte er eifrig. Sie fingen doch nicht schon mit Orgelspielen an droben? Dann sangen sie ihren Choral, und die Morgenandacht war aus. Und dann kamen sie, einer nach dem andern, der Rektor, die Professoren, die jungen, unverheirateten Lehrer, die natürlich nicht zu begreifen vermochten, daß ein alter, verheirateter Mensch Sorgen haben konnte! Die Jungens würden nach Karten und physikalischem oder anatomischem Lehrmaterial aus- und einlaufen. Vor der Pause würde er Bruhn dann nicht mehr treffen. Und nachher kam so leicht etwas dazwischen.

Die Tür ging auf; zwei junge Lehrer traten ein. Der eine war ein kleiner, energischer Mann mit funkelnden, hellblauen Augen und einem scharfen Zug um den Mund. Er war stellvertretender Lehrer in Schwedisch und Latein. Der andere hieß Ephraim Simonson. Auch er war klein von Wuchs. Etwas Raubvogelhaftes lag in seinem Gesicht, seine Augen waren klein und beweglich und rasch und liefen eifrig hin und her, als beobachte er stets. Unten an dem spitzigen Kinn hing ein flachsfarbener Bart, und um das ganze Gesicht lief ein Rahmen dünnen Haars von derselben Farbe wie der Bart. Die Nase war schmal und gebogen und wölbte sich über ein paar dünnen Lippen, die, wenn er schwieg, sehr fest zusammengepreßt waren, sich aber, wenn er redete, rasch, mit eigentümlichem kurzem Schnalzen öffneten, während die Augen dann einen scharfen, stechenden Ausdruck erhielten. Er war Theologe und außerordentlicher Lehrer an der Schule; sein Fach war Religion.

Als der Adjunkt die beiden erblickte, bewölkte sich sein Gesicht und er machte eine ungeduldige Bewegung mit den Schultern. Aber Simonson war ein Studienkamerad von Ernst, und den andern mochte er ganz gern wegen seines jugendlichen Wesens und seiner frischen Upsalageschichten. Er konnte nichts anderes machen, als freundlich grüßen. Die Herren schüttelten einander die Hand, und Simonson sagte etwas vom Wetter. Der Adjunkt bemerkte, es sei kalt im Lehrerzimmer, und so sei es gewesen in all den achtzehn Jahren, seit er hier wäre. Der Stellvertretende stand schweigend da und führte ein paarmal die Hand zum Munde, um das Gähnen zu verbergen.

Jetzt kam Bruhn. Er war ein großer, breitschultriger Mann, von einem Äußern, das unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Gesicht war ganz durchfurcht von Linien, er war kahl, aber der nackte Teil seines Kopfes sah aus, als wäre er nur eine Fortsetzung der Stirn, und mitten auf der Stirn war eine große, unförmliche Beule, die im Verein mit den tiefliegenden Augen und starken Augenbrauen dem ganzen Gesicht ein Gepräge kolossaler Gedankenkraft gaben, einer Kraft, die sicher und fest verschlossen war. Das ganze Äußere war höchst ungepflegt, über einer abgetragenen Weste, die bedenklich ins Grüne spielte, hing ein zottiger, graugesprenkelter Bart, in dem sich sehr deutlich Schnupftabaksreste bemerkbar machten. Der Rock war an den Nähten sehr verschossen, ein paar Knöpfe waren, wie es schien, gewaltsam abgerissen, und unten an den Hosen hatten die großen, schiefgetretenen Stiefel einen ganzen Saum von Wollfäden ausgefranst, die um ihn her hingen und schleiften.

Nachdem er ins Zimmer getreten war, zog er mit einer eckigen Bewegung den Überzieher aus und hängte – oder schmiß – ihn auf den Kleiderständer, warf dann den Hut mit einem Klatsch auf einen Sessel und nickte den Anwesenden zu, ohne ihnen die Hand zu geben. Pastor Simonson machte eine Grimasse, sobald er den Professor erblickte. Der Ankömmling ging zum Ofen, spreizte die Beine und stellte sich mit dem Rücken gegen das Feuer. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt; den einen Rockschoß hielt er unterm Arm. Als er eine Weile so dagestanden hatte, zog er eine silberne Schnupftabaksdose heraus und schnupfte geräuschvoll, daß der Tabak in langen Streifen über Bart und Weste rann. Worauf er wieder seine Lieblingsstellung einnahm.

»Hat jemand von den Herren gestern die Zeitung gelesen?« bemerkte er schließlich. »Ich möchte wohl wissen, ob's in Rußland irgendwas Neues gibt!«

Der Stellvertretende hatte die Zeitung gelesen und belehrte ihn, daß nichts darin stünde.

»So, also lebt er noch!« sagte der Professor und wechselte die Füße vor dem Feuer. »Es interessiert mich, das Land!« Eine Weile war es still im Zimmer. Niemand schien so früh am Morgen Sinn für Politik zu haben.

Plötzlich hörte man vom Oberstock her den singenden, eintönigen Laut der Orgel; er ward stärker und stärker, spann sich zum Akkord, zu kunstvollen Läufen aus und endete in einem Choral, in den die schrillen Stimmen der Kleinen bis zu den rauhen Mutationsstimmen der Großen energisch einstimmten.

Professor Bruhn machte eine sonderbare Bewegung mit Körper und Gesicht, die aussah wie eine einzige große Grimasse.

»Satansmusik!« äußerte er.

Der Adjunkt Hallin warf dem Kollegen – der beiden jungen Lehrer wegen – einen warnenden Blick zu. Pastor Simonson mißbilligte durch seine ganze Haltung, seinen ganzen Gesichtsausdruck die unpassende Äußerung; der andere Lehrer schien es komisch zu finden; man sah es seinem Gesicht an, wie er sich über den wunderlichen Kauz am Kachelofen amüsierte.

Professor Bruhn kümmerte sich keineswegs um die Warnung, die im Blick des Adjunkten lag; ruhig fuhr er in seinen Bemerkungen fort.

»Eine Satansmusik! sag ich! Ist's etwa ein Verbrechen, wenn man das sagt? Ist vielleicht die Orgel, die da droben in dem alten Saal steht, und vor der Petterson sitzt und aus Haeffners Choralbuch spielt, so was ganz besonders Heiliges? Spielt man vielleicht jetzt Gottes Wort? Und wird es etwa heiliger darum, daß die Jungens hinter ihren Choralbüchern dazu grinsen?«

Pastor Simonsons Nasenflügel bebten. Er hegte eine Antipathie gegen Bruhn; denn er ahnte instinktiv in ihm den Gegner und hielt ihn außerdem für roh und ungeschliffen. Auch führte er lieber selber das Wort.

»Für mich«, sagte er, »hat der Ton der Orgel immer etwas Ehrwürdiges, auch wenn man sich – in künstlerischer Hinsicht – eine vollendetere Ausführung vorstellen könnte.«

Professor Bruhn schneuzte sich.

»O!« sagte er ruhig. »Das ist ja eine sehr interessante Erklärung!«

Der junge Lehrer lachte laut auf, und Pastor Simonson sah aus, als ertrage er mit christlicher Geduld eine unerhörte Verunglimpfung.

Plötzlich verstummte die Orgel oben. Eine kleine Weile herrschte Schweigen.

»Glauben Sie, daß die Jungens jetzt beten, Herr Pastor? Wenn sie auch ihre Choralbücher unter der Nase haben?« fragte Professor Bruhn und nahm eine gewaltige Prise.

»Ja«, erwiderte der junge Pastor mit einer Stimme, die vor Verdruß bebte. »Ich möchte es zum mindesten glauben.«

»Ach so«! sagte Professor Bruhn. »Na – ich nicht!«

Inzwischen hörte man von droben das Scharren von Bänken, die zur Seite geschoben, das Trampeln von Füßen, die ungeduldig ausgestreckt wurden und den Boden stampften. Man hörte, wie die großen Doppeltüren aufgerissen wurden, hörte den taktfesten Schritt der kleinen Füße der unteren Klassen, der immer ungeregelter wird. Eine heitere Knabenstimme drang ab und zu ins Lehrerzimmer, ein helles Lachen, das durch den Korridor klang und ein Echo weckte. Mehr wurden es, immer mehr, und als sich schließlich noch der feste Schritt der älteren Jungens mit dem der Kleinen mischte, da ging bald alles über in ein unordentliches, wirres Geräusch von Stimmen, Trampeln, Lachen, Schreien, Gedränge, Gepuffe, Türzuwerfen. Als die Schar am Lehrerzimmer vorbeikam, ward es stiller, aber als sie an der gefahrvollen Stelle vorüber waren, nahm der Lärm wieder zu. Und durch all das Unwesen hörte man die Stimme des Religionslehrers, der an der Treppe mit seinem Stock aufs Geländer schlug und rief: »Wollt ihr wohl Ordnung halten, ihr da drunten!«

Und während all des Unwesens stand der Professor Bruhn und lachte in sich hinein, ein glucksendes, sarkastisches Lachen, als wollte er sagen: jetzt nehmen sie wieder Schaden an ihrer Seele – nach all dem Gebet und Choralsingen!

Pastor Simonson, merkte das freilich nicht. Er hatte Professor Bruhn den Rücken zugewandt und redete mit ein paar älteren Lehrern, die inzwischen gekommen waren.

Es war mittlerweile fünf Minuten über Sieben geworden; alle machten sich fertig, in ihre Klassenzimmer zu gehen. Der Religionslehrer kam pustend vor Zufriedenheit ins Lehrerzimmer. Fünf Schüler aus den obersten Klassen hatte er entdeckt, die beim Beten gefehlt hatten. Derartige Beweise von Scharfsinn bildeten seinen Stolz und seine Freude im Leben. Er wußte die ganze Liste auswendig, und während einer von den älteren Schülern das Gebet las, stand er, den Hut vor den Augen, und rechnete die ganze Zeit über nach, ob auch alle da wären. Da es in der Schule etwa zweihundert Schüler gab, mußte er wohl oder übel eine gewisse Fertigkeit im Rechnen entwickeln. Er lernte auch täglich seine Aufgabe besser, und es war sein höchster Ehrgeiz, daß er die ganze Schule, die Kleinsten mitinbegriffen, inspizieren konnte, eh das Frühgebet zu Ende war. Die Abwesenden behielt er treulich im Gedächtnis, und nach beendeter Andacht ging er stets in die Klassenzimmer, aus denen ein Unglücksvogel gefehlt hatte, schnüffelte mit seiner langen Nase herum und fragte den Delinquenten wohlwollend: »Wo warst du denn heute?« Der Angeredete versuchte dann immer, beschämt auszusehen; aber es glückte nur selten. Denn die ganze Schule wußte, welch einen Genuß diese Inquisitionsbesuche dem Professor Kumlander bereiteten. Heute war er ganz besonders zufrieden. Er hatte fünfe erwischt, von denen einer bis jetzt noch nie zu spät gekommen war, und mit dem alten Norbeck in der Tasche schlurfte er zufrieden und krummbucklig davon, um in der Siebenten seine Stunde zu geben.

Adjunkt Hallin war der einzige, der es nicht besonders eilig hatte. Sonst war er immer einer von den ersten, die in ihre Klasse gingen. Heute aber saß er ganz eigensinnig da und guckte in ein Exemplar des Cavallinschen Lexikons. Er wartete darauf, daß Professor Bruhn sich auf den Weg machen sollte, damit er eine Gelegenheit erwischte, mit ihm zu reden. Aber der Professor hatte es auch gar nicht eilig; er stand noch immer vor dem Ofen und wärmte sich; und Adjunkt Hallin wurde nachgerade nervös. Denn der Rektor war keineswegs liebenswürdig, wenn er merkte, daß die Lehrer die Zeit für die Stunden nicht pünktlich einhielten.

Dennoch – er mußte sich die Geschichte vom Hals schaffen. Er seufzte tief auf und sah einen Augenblick lang aus, wie ein ganz alter, lebensmüder Mann. Aber er blieb sitzen und wartete, bis die letzten fort waren. Und noch immer stand der Professor in derselben Stellung am Kachelofen. »Daß er sich auch hat mit dem verwünschten Pastor zanken müssen!« dachte der Adjunkt. »Jetzt ist er natürlich schlechter Laune!«

»Gehst du nicht in deine Klasse?« sagte er laut. Es wurde ihm immer schwer, eine derartige Angelegenheit einzuleiten.

»Meine verdammte Lauffrau hat mich eine Stunde zu früh geweckt! Schließlich kann ich ja grad so gut hier philosophieren, wie anderswo!« lautete die Antwort.

Und Bruhn machte eine ungeduldige Bewegung mit den Achseln und warf den Kopf herum.

Adjunkt Hallin saß eine Weile ganz still da und blätterte im Cavallin. Es wurde doch mit jedem Jahre schwerer, um Geld zu bitten, wenn auch manche behaupteten, der Anfang wäre das schlimmste. Schließlich legte er das Buch weg, erhob sich und sagte mit gedämpfter Stimme, als wolle er eine lange Einleitung machen: »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Professor Bruhn ließ den Rockschoß fallen und holte die Schnupftabaksdose heraus, die er von nun an unaufhörlich zwischen den Fingern drehte.

»So!« sagte er. »Und was denn?«

»Weihnachten hat recht viel gekostet heuer … Und in ein paar Tagen kommt Ernst heim … Am ersten habe ich die Miete bezahlen müssen … Ich hätt' mich ja ganz gut einrichten können … aber es kamen unerwartete Ausgaben … könntest du mir fünfzig Kronen leihen bis zum nächsten Quartal?«

Der erste Teil der Rede ward langsam, in eigentümlich scharfem Ton, leise und mit beinah zitternder Stimme gesprochen. Der letzte Satz dagegen kam heftig und überstürzt heraus, ungefähr, wie wenn man eine schlechtschmeckende Arznei nimmt.

Professor Bruhns Gesichtsausdruck veränderte sich ganz plötzlich. Er brach in ein gutmütiges, geräuschvolles Lachen aus und machte die fürchterlichsten Grimassen, während die Schnupftabaksdose wie ein Ball in seinen Händen tanzte.

»Bist du ein verdammt komischer Kerl, Hallin!« sagte er. »Gehst wie die Katze um den heißen Brei herum und mühst dich ab und schwitzst, wegen fünfzig Kronen! Selbstverständlich kannst du sie haben; mir liegen sie ja bloß da. Ich geh gleich und hole sie; dann hast du sie in der Pause.«

Und Professor Bruhn lachte immer lauter vor seinem Kachelofen, trampelte mit beiden Füßen auf den Boden, wand sich aus purer guter Laune und wiederholte in einem fort: »So ein komischer Kauz! Fünfzig Kronen! Hahaha! Das kommt davon, wenn man verheiratet ist! Jawohl!« Und dabei sah er aus, wie ein vergnügter Tanzbär.

Adjunkt Hallin fühlte sich plötzlich wie ein ganz anderer Mensch. Er war froh, daß es so leicht und gut abgelaufen war. Er hatte seine fünfzig Kronen und war wieder ein freier Mann. Und er lachte und schüttelte Bruhn freundschaftlich am Arm.

»Dank dir, Kamerad«, sagte er. »Aber sag, warum warst du denn gegen unsern jungen Kollegen, den Pastor, so ausfällig?«

Professor Bruhn hielt plötzlich mitten in seiner Frohlaune inne; sein Gesicht sah auf einmal ganz anders aus. Die Augen hatten einen fast grimmigen Ausdruck und er schlug mit der rechten Hand in die Luft, daß man fürchten mußte, der Arm würde aus dem Schulterblatt gehen.

»Kollege!« sagte er. »Meinst du, so einen jungen Hund nehm' ich als Kollegen? Noch vor fünf Jahren war er mein Schüler. Er taugte nichts, verstand nichts, wußte nichts. Dann ist er fünf Jahre lang in Upsala gewesen und hat es zu einem jämmerlichen Examen gebracht. Und dann kommt er hierher und legt los, als hätt' er mittlerweile alle Weisheit der Welt mit Löffeln gefressen! Meinethalben – ich gönn ihm ja seinen Glauben! Mag er ein Idiot sein – meinethalben! Aber aus meinem Bereich soll er wegbleiben. Hab ich nicht recht? War die Musik nicht unter der Kanone? Na also, warum braucht er mit mir anzubändeln? Kann ich dafür?«

Professor Bruhn war keineswegs gut auf Pfarrer zu sprechen und versagte es sich im allgemeinen nicht, seiner Antipathie sehr freien Lauf zu lassen. Besonders wenn er ärgerlich war bediente er sich einer fast affektierten, regelrechten und grammatikalischen Redeweise, die ihm gleichsam zur zweiten Natur geworden war. Diese Redeweise klang um so komischer, als er sie immer mit den kräftigsten Flüchen vermischte. Er redete heftig und lange und ging schließlich zu einem stillen, inwendigen Gebrumm über.

Der Adjunkt sah ein bißchen geniert aus.

»Mein Sohn ist ja auch Theologe!« sagte er endlich.

»Ja – aber der ist aus ganz anderem Stoff!« sagte der Professor heftig. »Freilich – er kann sich ja auch verändert haben. Man kann ja nie wissen.«

Er schwieg, wie beschämt ob seiner eigenen Grobheit.

»Es wird am besten sein, du gehst in deine Klasse!« sagte er dann plötzlich. »Das Geld kriegst du in der Pause.« Hallin blickte rasch in den Schulhof hinaus, über die Staffel, die zwischen Eisengeländern zur Schule hinaufführte, schritt soeben ein ungewöhnlich kleiner Mann von intelligentem, gewecktem Aussehen. Seine kleinen, scharfen Augen sahen sich lebhaft um, sein Stock stieß energisch gegen die Staffel, und er setzte die Füße auf eine Weise, die ein cholerisches Temperament andeutete.

»Ich danke dir!« sagte der Adjunkt. Und indem er seinen Virgil zur Hand nahm, ging er hastig in den Korridor hinaus. Es gelang ihm auch, in seine Klasse zu schlüpfen, noch ehe der Rektor in den Korridor trat. Professor Bruhn aber stellte sich wieder vor dem Ofen auf – mit gespreizten Beinen – den linken Rockschoß unter dem Arm und die Hände in den Hosentaschen.

Als Frau Hallin am Nachmittag allein war, legte sie eine Weile den Kopf auf den Tisch und weinte. Schwere, bittere Tränen, hervorgepreßt von der Sorge, die am schwersten und bittersten ist und am meisten schmerzt, weil sie Tag für Tag da ist, weil nichts sie verscheucht: die Sorge ums tägliche Brot. Sie verstand so wohl den Grund der Mißstimmung ihres Mannes, es tat ihr so weh, wenn die böse Laune über ihn kam und er mit den Kindern haderte. Denn sie wußte ja, die Kinder konnten ihn nicht verstehen, wie sie ihn verstand. Sie hatten ihn ja nicht gesehen, als er sich ihr anverlobte, mit ihr das Leben zu leben, das so reich und so herrlich vor ihnen lag! Sie hatten ihn nicht gesehen, wie er jung und schön, im Bräutigamsstaat, sie durch all die gaffenden Leute in der Kirche zum Altar führte! Sie hatten ihn nicht gesehen, wie er, jung, voller Hoffnung, wie ein lustiger Junge umhergesprungen war und ihr geholfen hatte, alles in ihrem neuen Heim einzurichten. Sie glaubten bloß, er sei ein krittliger, engherziger alter Mann, der ihre Freude störte und für nichts Sinn hatte als für das Niedrige und Kleinliche. Denn die Kinder beurteilen die Alten unrecht – vielleicht urteilen auch die Alten dafür wieder unrecht. Aber sie fühlte dies alles nicht klar; sondern ihre Tränen rannen, wie so oft zuvor, weil ihr das Leben so seltsam ungerecht vorkam im Vergleich zu dem, was sie früher gelernt hatte, daß es sein sollte. Und das Sonderbare war – man lernte auch später nichts Besseres! Wenn sie jetzt darüber nachdachte, so ganz im allgemeinen, so war es noch genau wie vor dreißig Jahren, als ihre frohen Mädchenträume um ein helles, freundliches Heim geflattert waren, in dem zwei Menschen für einander lebten, in dem es immer ruhig war und fröhlich, wie auch des Lebens Stürme draußen tobten. Aber weshalb war es nicht so? Weshalb nicht? Weshalb?

Ihre Tränen rannen, schwer und bitter; sie sah alt und müde aus. Es quälte sie so schrecklich, daß ihr Mann ihretwegen Sorgen haben sollte. Wie sie auch sparte – nie wollte es reichen. Sie dachte daran, wie die Kinder immer scherzten über diese übertriebene Sparsamkeit, wie sie es nannten. Begriffen sie denn nicht, daß man nur ihretwillen sparte? Um ihnen vorwärts zu helfen? Damit sie etwas lernen, etwas Rechtes werden sollten?

Sie trocknete hastig ihre Tränen, und während ihre Lippen noch von unterdrücktem Weinen zitterten, ging sie hinaus ins Vorzimmer und holte ihren alten Mantel herbei, breitete ihn auf den Tisch unter der Lampe aus und prüfte ihn.

Viele Jahre lang hatte er gedient, und oft war er so untersucht worden. Der Stoff war recht gut. So einen Stoff kriegte man nicht so leicht wieder. Zuerst war er ganz grade, ohne Garnierung, bis hinab zu den Füßen gegangen – weite Ärmel hatte er gehabt. Dann hatte man die weiten Ärmel in enge umgewandelt, und hatte den Stoff zum Ausbessern benützt. Man sah das Geflickte gar nicht, wenn man den Muff darüber hielt. Dann hatte sie Seidenaufschläge um die Ärmel und die Kanten gesetzt, und schließlich hatte sie aus dem langen Mantel einen kurzen gemacht, der dicht unter den Hüften schloß. Aber jetzt legte sie ihn hoffnungslos beiseite. Er war so abgenützt, daß das Licht durch die Stelle über der Brust schien; an den Ellenbogen war er schon fast zerrissen, und ein paar von den Knopflöchern konnte man unmöglich mehr ausbessern. Mit einem Seufzer hängte sie den Mantel wieder auf und setzte sich an ihre Arbeit. Ihre Tränen trocknete sie, fest entschlossen, daß niemand beim Abendessen sehen sollte, daß sie geweint hatte.

Aber als der Adjunkt aus der Schule heimkam und ihr die fünfzig Kronen gab, da kam das alte Gefühl wieder über sie. Sie weinte, während sie den Schein in der linken Hand hielt, als wolle ihr das Herz brechen, und bückte sich nieder und küßte ihres Mannes Hand, als müsse sie ihn um Verzeihung bitten.

Der Adjunkt zog seine Hand zurück und strich ihr über die Stirn. Es war ihm immer ein Schmerz, wenn er sie so sah. Und mit einer etwas erzwungenen Stimme sagte er: »Weine doch nicht. Es hilft ja doch nichts. Denk lieber daran, daß Ernst jetzt bald heimkommt!«

Sie blickte ihn voll Dankbarkeit an, weil er versuchte, etwas zu sagen, das ihr Freude machte. Aber wider Willen drängten sich ihr die Tränen hervor.

»Und wenn er dann eine feste Anstellung hat,« fuhr der Adjunkt fort, »so wird das immerhin eine Erleichterung.« Frau Hallin nickte. Und die tägliche Sorge ward für diesmal beiseite gelegt.


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