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Neuntes Kapitel

Als das Abendbrot vorüber war, versammelten sich alle im Wohnzimmer. Eine gewisse Verstimmung lag in der Luft, und keiner hatte Lust, ein Gespräch anzufangen. Ab und zu sagte jemand ein paar Worte, wie um pflichtschuldigst zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Ernst sah überhaupt ganz geistesabwesend aus, und Gustaf gähnte unverhohlen.

Frau Hallin erhob sich und ging auf einen Augenblick hinaus. Als sie zurückkam, hatte sie Bibel und Andachtsbuch bei sich, die sie beide vor Ernst hinlegte, während sie mit einem forschenden Blick sagte: »Vielleicht liest du heute das Abendgebet, da Papa fort ist!«

Ernst fuhr zusammen. Er sah so erschrocken aus, als mute ihm die Mutter das halsbrecherischste Wagestück zu; und er blickte sich nach allen Seiten um, als erwarte er Hilfe und Unterstützung von den andern.

»Meinst du?« fragte er halblaut. »Grad heute abend?«

»Ich meine, wir sollten auch heut abend nicht auseinandergehen, ohne Gottes Wort miteinander gelesen zu haben!« antwortete Frau Hallin ebenfalls in einem Ton, der nicht für die andern berechnet war.

»Wir sind ja aber nicht allein!« fuhr Ernst widerwillig fort.

»Pastor Simonson hat unserer Andacht schon öfter beigewohnt«, erwiderte Frau Hallin, indem sie sich dem jungen Pastor zuwandte.

Ernst Hallin erhob sich. Sein Antlitz war düster; er schob die Bücher von sich.

»Ich kann nicht!« sagte er mit leiser Stimme, die aber durchs ganze Zimmer zu hören war. »Quäl' mich nicht!«

Eine Weile hatten ihm seine Gedanken Ruhe gelassen. Jetzt brachte die Mutter sie ihm wieder so recht handgreiflich in Erinnerung. Er, der so gar nicht wußte, was er eigentlich glaubte oder dachte, er, der selber ein Suchender war, ein Tastender, ein Ringender, er sollte seinen Beruf ausüben und andern, die Suchende waren, gleich ihm, predigen?

Er entfernte sich vom Tisch, auf dem die Lampe stand, und setzte sich in den dunkelsten Winkel des Zimmers.

Pastor Simonson trat vor und nahm die Bücher an sich.

»Gestatten Sie, daß ich ein Kapitel aus der Bibel lese, Frau Hallin?« sagte er. Es lag eine fast unmerkliche Betonung auf dem »ich«.

Frau Hallin warf ihm einen dankbaren Blick zu; aber es tat ihr weh, daß sie die Stimme eines Fremden statt der ihres Sohnes hören mußte; und Tränen flossen in ihr Taschentuch, während sie das Haupt beugte.

Warum hab' ich es nur nicht tun können? fragte Ernst Hallin sich. Warum hab' ich es nicht tun können? Es kam ihm selber ganz unbegreiflich vor. Er saß ganz stumm da und rang in Gedanken mit sich selbst, um der Sache auf den Grund zu kommen. Warum nur nicht! Es war doch sonderbar!

Er ward aus seinen Gedanken gerissen durch Pastor Simonsens Stimme, die leise und scharf die Einleitungsworte sprach: »Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Er las darauf ein Kapitel aus der Bergpredigt; die milden Worte hatten einen seltsam fremden Klang. Leblos und kalt fielen sie von seinen Lippen, als hätten sie nie eine Seele gehabt, als wären sie nie von Lippen gefallen die von Liebe zur Menschheit, von Trauer über ihren Fall zitterten. Korrekt und starr kamen sie heraus, als trockene, dogmatische Sentenzen, die man bei der Hand haben muß, wenn es drauf ankommt.

Ernst empfand ein unsägliches Unbehagen, eine rein körperliche Qual, die für ihn ebenso unleidlich wie neu war. Als Simonson zu Ende gelesen hatte, dankte die Mutter ihm. Ernst saß in der Sofaecke. Niemand konnte sein Gesicht sehen.

Dann sagten alle Gutenacht. Pastor Simonson zog seinen Überzieher an und Gustaf begleitete ihn, um ihn zur Haustür hinauszulassen. Selma ging auf ihr Zimmer.

Ernst trat zur Mutter, um ihr Gutenacht zu sagen. Sie sah ihn einen Augenblick lang ernsthaft an, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte sie: »Ernst, mit dir geht etwas vor. Aber ich weiß nicht, was.«

»Mit mir?« erwiderte Ernst. »Nein.«

Er ging von ihr fort und durchs Zimmer.

»Ich versichere dich, Mama, es ist nichts!« sagte er. »Was sollte es auch sein?«

Bei sich aber dachte er: Was kann sie nur damit meinen? Mit mir vorgehen? Was soll denn mit mir vorgehen? Etwas muß es ja freilich sein. Seit ich aus Upsala zurück bin, ist es in mir wie eine Unruhe. Ich muß Zeit haben – ich muß zu mir selber kommen. So kann das nicht weitergehen. Ah – was die Menschen alle mich quälen! Und ganz besonders Mama mit ihrem Inmichdringen! Wenn ich mich doch verstecken könnte, irgendwohin, wo keiner mich sieht, und wo ich keinen sehe! Unerträglich ist es hier!

Aber die Mutter ließ sich so leicht nicht abweisen. Sie ging ihm nach und legte ihm die Hand auf die Achsel.

»Sag' mir, was es ist!« bat sie.

Jetzt wurde Ernst heftig.

»Laß mich in Frieden! rief er. »Was hab' ich denn getan? Ich hab' die Abendandacht nicht lesen wollen. Ich weiß selber nicht, warum. Es war mir zuwider. Simonson hat es ja an meiner Statt getan. Und das war ja ebensogut. Warum läßt man mich nicht in Frieden? Siehst du denn nicht, daß ich grade das brauche, Mama? Ich ertrag' es nicht, daß man so um mich herumgeht und lauert und mich überwacht, als wüßt' ich selber nicht, was ich wollte! Ich bitt' dich ganz ernstlich, Mama, laß das!«

Und mit einem freundlicheren Gesichtsausdruck als zuvor bog er sich nieder zu ihr, küßte sie und wollte gehen.

Frau Hallin blickte ihm bekümmert nach.

Er blieb stehen.

»Wenn du bloß nichts tust, was gegen Gottes Willen ist!« sagte sie.

Ein Lächeln flog über sein Antlitz.

»Was ist das – gegen Gottes Willen?« fragte er.

»Ernst!« erwiderte Frau Hallin, und in ihren Augen blitzte es. »Das weißt du nicht?«

»Doch, doch!« sagte er rasch. »Ich wollte ja nur sagen, daß ich mich davor in acht nehme!«

Und mit hastigen Schritten lief er die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Als er Licht angesteckt hatte, saß er lange mit pochendem Herzen und hämmernden Schläfen da und grübelte darüber nach, was denn eigentlich geschehen war. Warum war er denn so heftig geworden gegen die Mutter? Und was bedeutete überhaupt das alles?

Dann dachte er plötzlich an Simonson, und etwas wie Zorn erwachte in ihm. Ja, der war anders geworden! Oder seh ich ihn vielleicht in einem so andern Licht? dachte Ernst. Sogar seine Stimme ist anders als früher. Und er sieht aus, als liefe er mit einer Maske herum! Kämmt sein Haar so glatt und kleidet sich so feierlich und spricht so herablassend mit den Frauen!

Ernst mußte lachen, als er daran dachte. Aber das Lachen verging ihm rasch.

»Er ist kein ehrlicher Mensch!« dachte er. Aber im selben Augenblick errötete er über seinen Argwohn.

Es gärte und kochte in ihm, als wäre sein ganzes Innere in Aufruhr. Er riß das Fenster auf und atmete die frische Luft ein. Es war dunkel draußen. Aber schön war es. Erquickung für die kranken Lungen, die sich von verdorbener Luft erholten. Er zog, noch immer unschlüssig, die Uhr. Es war kaum Zehn. Durchs Fenster strömte die kühle Luft.

Mit einem hastigen Entschluß hüllte er sich in den Überzieher und zündete sich eine Zigarre an. Dann steckte er eine Streichholzschachtel zu sich, löschte das Licht und schlich mit leisen Schritten die Treppe hinab, hinaus auf die Straße.


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