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Dreizehntes Kapitel

Ernst Hallin fühlte sich an diesem Abend, als er heimkam, viel zu müde zum Denken. Das Gespräch mit Eva Baumann klang in seinen Ohren nach, ohne jedoch sein Gehirn zu lebhafterer Tätigkeit zu erwecken, und er schlief bald ein und schlief tief und schwer.

Als der Adjunkt eben zur Tür hinausging, um nach der Schule zu eilen, erwachte Ernst. Eine Weile lag er ganz still und schloß die Augen; er wollte wieder einschlafen. Auf der Treppe hörte man knarrende Schritte. Dann fiel wieder Schweigen über das dunkle Zimmer.

Aber er konnte nicht wieder einschlafen. Ein unbestimmtes Unruhegefühl quälte ihn; ohne daß er wußte warum, schien es ihm, als wäre er zu einem schweren, qualvollen Tag erwacht. Heute, dachte er im Halbschlummer, wartet etwas Schlimmes auf mich. Wenn ich aufwache, wird es kommen. Sobald ich ganz wach bin, werd' ich auch wissen, was es ist. Sie werden mich packen und quälen und an mir zerren und mich nicht aus ihren Klauen lassen. Ich muß sehen, daß ich so schnell wie möglich wieder einschlafe. Man kann gar nicht lang genug schlafen, wenn man zu etwas Schlimmem erwachen muß!

Und er schloß die Augen und bohrte den Kopf ins Kissen, um wieder einzuschlafen. Aber er konnte nicht; er lag und horchte auf die Uhr, die auf dem Nachttisch tickte. Das quälte ihn so, daß er sich aufrichtete und sie unters Kopfkissen stopfte, bloß damit er sie nicht mehr zu hören brauchte.

Und plötzlich stand der gestrige Tag vor ihm. Der ganze lange, unerträgliche Abend. Dann das Gespräch mit Eva Baumann. Er zog die Decke über den Kopf und drehte sich nach der Wand, in der Hoffnung, die Gedanken würden ihn dann verlassen. Aber sie ließen ihn nicht. Einer nach dem andern kamen sie und klopften an und wollten in sein Gehirn, um ihn zu beunruhigen und zu quälen. Und alle sagten sie das gleiche: daß er ein Esel war, ein dummer, unglaublicher, unverbesserlicher Esel!

Er hatte Eva in den letzten Monaten oft getroffen. Er war ihr begegnet, wenn sie von ihren Klavierstunden kam; hatte sie bei Selma drunten gesehen. Er war mit ihr und Selma spazieren gegangen, hatte bei Frau Pegrelli Besuch gemacht, war zum Abendbrot dort gewesen.

Die ganze Welt war ihm wie neu geschaffen, seit er Eva entdeckt hatte. Er begriff gar nicht, daß er sie früher nicht beachtet hatte. Er hatte nie so recht ernsthaft mit ihr geredet, nie über sich selber mit ihr gesprochen, nie etwas von ihr gefordert. Er hatte nur neben ihr gesessen, war neben ihr hergegangen, hatte über alles mögliche Gleichgültige mit ihr geredet. Oder er hatte sie sprechen lassen und hatte selber kein Wort gesagt. Aber in ihm war es dabei so ruhig geworden, so still, als ob nichts auf der ganzen Welt ihn je mehr aus dem Gleichgewicht reißen könnte.

Und doch war er den ganzen Abend bei einer dummen Gesellschaft gewesen und hatte kein Wort mit ihr gesprochen, sie kaum begrüßt. Es war gradezu eine Kränkung, die er ihr da zugefügt hatte; und wenn er sie jetzt wiedersah, würde alles leer und öde und gräßlich zwischen ihnen beiden sein. Kein heiteres Lächeln würde ihn begrüßen, wenn er kam, kein zutrauliches Nicken, wenn er ging. Und er konnte es nicht einmal erklären. Esel, der er war! Er würde auch gewiß keinen Versuch mehr machen! Was war da überhaupt zu erklären?

Er sah sie wieder vor sich in dem kleinen Wohnzimmer, wo ihre Tante nachmittagelang auf dem Sofa saß und strickte, mit auf die Nase gerutschter Brille und unaufhörlich sich bewegenden Lippen, als zähle sie immerwährend Maschen. Eva saß auf dem Sofa neben der Tante und unterhielt sich mit ihm, der in einem Lehnstuhl auf ihrer andern Seite saß. Ihre weichen Handgelenke bewegten sich emsig, während sie häkelte, und sie lachte ihn an mit den lebhaften Augen, die aussahen, als hätte sie ihr Leben lang keinen Zweifel und kein Kopfzerbrechen gekannt.

Er vermochte nicht länger still zu liegen, sondern stand auf und zog sich an. Die ganze Welt war ein einziger großer Wirrwarr! Es graute ihn beim Gedanken, daß er hinuntergehen mußte zu den Seinen.

Aber schließlich war er doch fertig. Und auch der Hunger machte sich geltend – er hatte am Abend vorher kaum einen Bissen gegessen –, und so ging er hinunter zum Frühstück. Selma saß am Frühstückstisch. Ernst bemerkte, daß sie sehr müde aussah, und mehr um seinen eigenen Gedanken aus dem Weg zu gehen, als aus dem Drang, sich um andere zu kümmern, fragte er: »Was ist mit dir?«

Selma stellte mit einer matten Bewegung das Milchglas weg, ohne zu trinken.

»Ich bin so müde!« antwortete sie.

Es lag in ihrem Ton etwas, das Ernst veranlaßte, die Schwester genauer anzusehen. Sie war ein kräftiges, ziemlich großes Mädchen mit reichem blondem Haar, derber Gesundheit und frischen, roten Lippen. Nur ihr Teint war verräterisch durchsichtig und blaß, und ihre Hände waren fast krankhaft weiß

»Hm!« sagte Ernst. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Sie sah tatsächlich gar nicht gesund aus. Vielleicht lastete auch auf ihr etwas, etwas, von dem sie nicht sprechen konnte, nicht der Mutter, nicht dem Vater, nicht Bruder oder Freund gegenüber? Ob es wohl ein Familienzug bei ihnen war, daß jedes von ihnen sein Leben für sich leben und sich vor den andern abschließen mußte?

Keinen Augenblick lang war es Ernst in den Sinn gekommen, daß seine Schwester, seine tüchtige, kräftige Schwester, die seit fünf Jahren Lehrerin an der Mädchenschule war, und eine so vortreffliche Lehrerin, die sich selber ihr Brot verdiente, etwa nicht glücklich sein könne, mit sich selber nicht fertig wurde, sondern vielleicht in aller Stille träumte – sich sehnte – fort – in eine Welt – wer weiß, in was für eine!

Aber heute hatte sein eigenes kleines Erleben ihn scharfsichtiger gemacht. Darum wollte er versuchen, ihr zu helfen.

»Liebe Selma!« sagte er und strich ihr leise übers Haar. »Was fehlt dir?«

Die Schwester blickte vor sich nieder und errötete.

»Glaubst du, es sei besonders nett, so jahraus, jahrein bei den Eltern zu leben und kleine Kinder zu unterrichten?« sagte sie hart. »Du weißt ja gar nicht, wie einsam ich bin!« Ernst war ganz verwundert.

»Einsam?« sagte er zögernd. »Du hast doch die Eltern. Und mich!« fügte er hinzu.

Er fühlte ganz gut, daß das nicht wahr war, daß sie weder die Eltern noch ihn hatte, und daß das auch gar nicht genug gewesen wäre. Aber die Worte fuhren ihm heraus, eh er sie zurückhalten konnte.

Die Schwester blickte auf. Auf ihrer Stirn lagen Falten, die sie plötzlich alt machten.

»Du bist ein Mann!« sagte sie. »Sei froh. Du kannst deinen eigenen Weg gehen. Keiner hindert dich. Aber ich …«

Sie vermochte sich nicht länger zu beherrschen, sondern brach in heftiges Weinen aus und verließ das Zimmer.

Ernst sah ihr nach. Ein plötzlicher Instinkt sagte ihm, daß er hier zum Zeugen eines Leides geworden war, dessen Wurzel sehr tief lag; aber er wußte doch keine Antwort auf die Frage, was dieser Ausbruch eigentlich zu bedeuten habe. Nur ein Gefühl der Reue beschlich ihn, daß er immer so achtlos an der Schwester vorübergegangen war. Gewiß hatte er sie ja nicht mißachtet, aber es war ihm doch auch nie eingefallen, zu versuchen, ihr näher zu kommen.

Voll von Grübeleien und neuen Gedanken ging er auf sein Zimmer. Nach dem Mittagessen versuchte er, mit der Schwester zu reden, sie zu fragen, weshalb sie geweint hätte. Aber sie sah ganz ruhig aus und erwiderte nur, sie wäre eben ein bißchen nervös.

Das konnte Ernst nun wieder nicht verstehen. Er hatte versucht, sich der Schwester zu nähern, war zurückgewiesen worden, und seine Gedanken nahmen ihren gewöhnlichen Kreislauf um sich selber wieder auf.

Den Vormittag über war er in einer ganz eigentümlichen Stimmung gewesen. Der Eindruck vom Ausbruch der Schwester hatte sich mit seiner eigenen Melancholie vermischt und die wunderlichsten Gedanken in ihm hervorgerufen.

Aber jetzt schlugen diese Gedanken wieder die alte Richtung ein. Mit verdoppelter Stärke stand seine Dummheit von gestern wieder vor ihm. Ihm war plötzlich, als müsse er um jeden Preis zu Eva und alles mit ihr ins Reine bringen. Es war wie eine fixe Idee bei ihm, daß etwas da unklar war und ins Reine gebracht werden müßte. Er mußte zu ihr, sie sehen, sie sprechen, sich mit ihr versöhnen und fühlen, daß alles wieder war, wie vorher. Aber die Mutter durfte nicht sehen, daß er ausging. Sonst würde sie ihn fragen, wo er hinginge. Lügen konnte er nicht, und sagen, wohin er ginge, wollte er nicht. Wenn er nur an den forschenden Blick dachte, den sie auf ihn richten würde, wenn er antwortete: Au Frau Pegrelli! so empfand er schon ein Unbehagen, als stünde ihm ein Unglück bevor.

Wie ein Schuljunge schlich er sich die Treppe hinunter und hinaus.

Hastig ging er die vertrauten Straßen entlang und läutete schließlich an einer Klingel, die vor einer weißen Tür ohne Schild hing. Ein zersprungener Klang kam von der alten Glocke, die drinnen gegen die Tür schlug. So stark hatte er am Glockenstrang gerissen.

Er war ganz rot im Gesicht und atmete kurz, als das Mädchen kam und öffnete. »Ist Fräulein Baumann zu Hause?« wollte er fragen, besann sich aber und fragte mit erzwungener Ruhe nach »den Damen«.

Frau Pegrelli wäre ausgegangen, aber das Fräulein sei daheim. Ernst wäre am liebsten wieder umgekehrt. Es war ja gar nicht anders möglich, als daß sie wegen seines unverzeihlichen Betragens am Abend zuvor böse auf ihn war, und er hatte ja nichts zu seiner Entschuldigung anzuführen, nichts – außer er bekannte ihr alles … alles, was ihn bewegte, alles. Und das konnte er doch nicht. Und darum wär es am besten gewesen, er wäre wieder gegangen. Aber das ging auch nicht.

Er hörte sie drinnen Klavier spielen. Ein rettender Gedanke kam ihm.

»Fräulein Baumann ist gewiß beschäftigt?« sagte er zu dem Mädchen.

»Das glaub' ich nicht; aber ich kann ja fragen.«

»Bitte, treten Sie doch ein!« rief da schon eine fröhliche Stimme aus dem Wohnzimmer, und als Ernst über die Schwelle trat, stand Fräulein Eva mitten im Zimmer und machte ihm einen tiefen Knix.

Ernst war aufs äußerste überrascht. Sie sah so schalkhaft und sicher aus, nicht ein bißchen böse, nur froh und heiter. Und schön. So unwiderstehlich schön! Und er stand da, unendlich linkisch, und fragte bloß: »Sind Sie mir nicht böse?«

Sie schüttelte den Kopf und lachte, und wieder sah sie dabei so sicher aus, als wüßte sie ganz genau Bescheid über ihn.

»Nein.«

»Gar kein bißchen?«

»Nein, kein bißchen.«

Eva hatte Ernst während der Zeit ihrer Bekanntschaft verstehen gelernt. Sie begriff, daß er auch nicht einen Augenblick lang den Mut haben würde, ein entscheidendes Wort in ihrem beiderseitigen Verhältnis zu sprechen. Daß sie sich selbst auf eine ganz eigene Art zu dem verschlossenen, sonderbaren jungen Theologen hingezogen fühlte, darüber war sie sich klar. Er hatte etwas so Impulsives. Einmal war er fröhlich wie ein Kind, dann wieder niedergeschlagen und lebensmüde wie ein Greis, dem das Leben nichts mehr zu bieten hat. Und sie begriff, daß etwas war, was ihn drückte und quälte; wenn man ihm das abnehmen könnte, so würde er aufrecht und frei und froh werden, so wie damals, als sie ihm von der Brücke herab zugesehen hatte, wie er dran arbeitete, mitten im Winter der Frühlingsflut vorwärts zu helfen.

Wäre es nicht vielleicht möglich, daß sie es war, die ihm helfen konnte? Es war etwas in ihm, das sie nicht kannte, das er sorgfältig vor ihr verbarg, und das reizte ihre Neugier, während sie es zugleich als eine Kränkung empfand, daß er, der doch so viele Interessen haben mußte, nie ein ernsthaftes Wort mit ihr sprach. Warum tat er das nicht? Warum sprach er nie über seine Zukunft? Glaubte er vielleicht, sie sei so dumm oder oberflächlich, daß sie an nichts anderes denken könne als an Spiel und Tand?

Aber irgend etwas lastete auf ihm. Und ihrer lebhaften Natur, die nach Tätigkeit dürstete, schien es, als eröffne sich ihr hier eine Möglichkeit.

Da saß er nun und sah sie mit seinen klaren, lichten Augen an, zupfte an seinem Bart und lachte vor sich hin aus hellem Behagen. Im Anfang hatte sie das verlegen gemacht, dann hatte sie sich daran gewöhnt, jetzt reizte es sie. So viel hatte sie jedoch schon gelernt, daß man mit Gewalt nichts aus ihm herauskriegte. Versucht hatte sie es schon. Aber es war immer mißlungen.

Sie bemühte sich daher, einen möglichst gleichgültigen Ton anzuschlagen, während sie fragte: »übermorgen werden Sie ja predigen?«

Wäre Ernst der raffinierteste Don Juan gewesen, statt des unerfahrenen, mit Welt und Frauenherzen unbekannten jungen Mannes, der er war, er hätte auf keine geschicktere Art verfallen können, Eva Baumanns Herz zu gewinnen, als indem er sich so völlig über sich selbst ausschwieg. Im Anfang mochte sie ihn gern seiner Einfachheit halber, wie sie es nannte. Aber je mehr seine Persönlichkeit sie zu beschäftigen anfing, desto eifriger strebte sie danach, ihm auf den Grund zu kommen. Sie wollte wissen, was es war, das ihn zu manchen Stunden so geistesabwesend machte und zu andern so fröhlich, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Als sie jetzt ihre Frage vorgebracht hatte, war sie ganz ängstlich, was darauf kommen würde. Und sie ward ganz rot vor Schreck, als sie sah, was für eine Wirkung es auf Ernst hatte.

Sein froher, sorgloser Gesichtsausdruck verschwand plötzlich, und er senkte den Kopf, damit sie nicht sehen konnte, was er dachte.

So saß er lang und schwieg.

So lange schwieg er, daß ihr angst wurde. Es war so still, daß sie ihr eigenes Herz hämmern hörte; sie wäre am liebsten davongelaufen, um sich allein auszuweinen. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die jeden Augenblick in Weinen umschlagen konnte: »Was ist? Warum antworten Sie denn nicht? Es ist so schrecklich, wie Sie dasitzen und schweigen!«

Er richtete sich auf und setzte sich im Stuhl zurück. Sein Blick war wie erloschen; sein ganzes Gesicht zuckte nervös. »Warum müssen Sie auch gerade davon sprechen?« rief er. »Warum kann ich nicht wenigstens bei Ihnen damit verschont sein? Sie sind so gut zu mir gewesen, und ich war Ihnen so dankbar! Ich hab' zu Ihnen kommen und mit Ihnen über alles sprechen können, und ich war so froh und war Ihnen so gut! Und jetzt ist's aus. Nie wieder wird es, wie es gewesen ist.«

Sie war verwundert und zugleich ärgerlich.

»Was wollen Sie denn damit sagen: Nie wieder, wie es gewesen ist? Weil ich Sie nach Ihrer Predigt gefragt habe? Glauben Sie, ich sei eine Puppe, die Sie wegwerfen können, weil sie nicht mehr in dem Ton schreit, der Ihnen paßt? Nein, Herr Hallin, da kennen Sie mich schlecht.«

Er schüttelte den Kopf; aber der gequälte Ausdruck wich nicht aus seinem Gesicht.

»Ach, was Sie kindisch sind!« sagte er. »Macht es Ihnen so viel Spaß, mich zu quälen? Sie sind doch auch vorher mit mir zufrieden gewesen, so wie ich war. Kann das nicht auch jetzt so sein?«

Er schwieg einen Augenblick und sah nachdenklich vor sich hin. »Oder vielleicht sind Sie gar nicht mit mir zufrieden gewesen?« fragte er dann.

Ihre Neugier oder vielleicht eher ihr Verlangen, sein Geheimnis zu ergründen, erwachte aufs neue. Gleichzeitig empfand sie etwas, das sie rührte und ängstigte. Wie eine Mutter hätte sie ihn mögen in die Arme nehmen, ihn beruhigen, ihm über die Stirn streichen, die feucht von Schweiß war.

»Es bedrückt Sie etwas«, sagte sie mit ganz anderer Stimme. »Können Sie es mir nicht sagen?«

Er fuhr auf und wurde totenblaß. Seine Hände ballten sich, seine Brust keuchte.

»Nein!« schrie er fast überlaut. »Nein, ich kann nicht. Nicht jetzt. Nicht jetzt.«

Sie verstummte und blickte weg. In diesem Augenblick durchflog sie die Ahnung, daß sie aus eigenem Antrieb einen Kummer auf sich lud, der ihr junges Leben vielleicht zu Boden ziehen würde. Aber es war Genuß in dem Gefühl, ein Genuß, dem sie nicht widerstehen konnte. Und eine Lockung.

»Warum?« sagte sie und blickte ihm grade in die Augen. »Warum?«

Er erfaßte ihre Hände und erwiderte leise und langsam: »Doch, ich möchte gern mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht.« Dann ließ er sie los und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. »Sie wollen also wissen, warum ich nicht mit Ihnen darüber sprechen möchte?« sagte er schließlich. Er blieb ein paar Schritte von ihr stehen und sprach, ohne sie dabei anzusehen:

»Nun ja, so will ich es Ihnen sagen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn jemand es weiß. Ich wollte, ich wäre weit fort von hier, oder tot, oder nie geboren. Wenn ich doch ruhig einschlafen könnte und nie wieder aufwachen! Bloß schlafen, schlafen, ohne daß ein Morgen käme und ein neuer Tag! Das möchte ich. Alles lieber, als am Sonntag auf der Kanzel stehen und den Leuten etwas vorlügen!«

»Lügen?«

Sie sah ihn voll Spannung an.

»Glauben Sie denn nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er zögernd. »Manchmal glaube ich und manchmal glaube ich nicht. Was weiß ich? Ich habe ja doch nie gelebt. Nur gelernt und gelernt und gelernt. Mein Vater schlug mir vor, ich solle Geistlicher werden. Ich sah, daß meine Mutter so froh war darüber. So entschloß ich mich, Pastor zu werden. Seither habe ich wieder gelernt, gelernt, gelernt. Was weiß ich, was ich glaube?«

Sie sah ihn bestimmt und klar an: »Dann dürfen Sie am Sonntag nicht predigen.«

»Aber das ist unmöglich. Ich habe es versprochen. Jetzt ist es zu spät.«

Sie wurde immer eifriger.

»Wie können Sie so sprechen?« rief sie. »Das ist eine Sünde! Sagen Sie, daß Ihnen Zweifel gekommen sind, daß Sie Bedenkzeit brauchen. Schaffen Sie sich eine Weile Ruhe, und wenn Sie nicht wissen, was Sie glauben sollen, so werden Sie eben nicht Geistlicher!«

Er sah sie an und lächelte. Aber sein Lächeln war traurig und freudlos. Wie alles so einfach war für sie! Entweder – oder! Sie wußte nichts von Nebenwegen.

»Glauben Sie, das geht so leicht, Fräulein Eva?« sagte er. »Wollen Sie, ich soll zu meinem Vater gehen, der sein ganzes Leben lang Geldsorgen gehabt hat, und ihm sagen: ›Ich muß Bedenkzeit haben. Du mußt noch eine Weile für mich sorgen?‹ Hätte er nicht das Recht, mir zu antworten: ›Du hast lang genug Zeit gehabt. Warum hast du dich nicht eher bedacht?‹ Aber, du lieber Gott, es hat mich ja keiner denken gelehrt! Und wie sollte ich zu meiner Mutter gehen, die mich mehr als alles in der Welt liebt, und sagen: ›Ich habe keinen Glauben? Ich will eine Zeitlang Ruhe haben, um mir ihn zu verschaffen?‹ Es ist traurig, daß die Armut uns manchmal am Rechttun hindert. Aber es läßt sich nicht ändern.«

Er brach plötzlich ab, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Es war lieb von Ihnen, daß Sie mich zum Sprechen veranlaßt haben,« sagte er. »Ich glaube, es ist am besten, wenn ich jetzt gehe.«

Sie hielt seine Hand mit ihren beiden Händen fest, und Ernst war erstaunt, welch ernster Ausdruck in ihr Gesicht gekommen war. »So dürfen Sie nicht gehen«, sagte sie. »Wie können Sie sich durch derartige Bedenken bestimmen lassen? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre – ich würde keine Minute zögern. Sie haben sich früher nicht genügend bedacht? Ist das ein Grund, daß Sie sich auch jetzt nicht bedenken wollen? Das dürfen Sie nicht! Hören Sie, Sie dürfen nicht!« Er zog seine Hand zurück und ging nach der Tür.

»Machen Sie mir meinen Weg nicht schwerer, als er schon ist!« murmelte er.

»Das ist eine Feigheit, was Sie da begehen wollen«, sagte sie plötzlich mit zitternden Lippen. »Eine Feigheit, die sich an Ihrem ganzen Leben rächen wird!«

Er wandte sich um und sein Ton ward gereizt.

»Mit welchem Recht sprechen Sie so zu mir?« sagte er. »Und wer hat Sie gelehrt, so klar und sicher zu denken? Ihr Vater ist ja ein Pastor, wie ich einer sein werde. Wissen Sie so gewiß, was er glaubt oder nicht?«

»Das gehört nicht hierher«, erwiderte sie. »Das Recht, zu reden, haben Sie selber mir gegeben. Und wenn Sie wissen wollen, wer mich denken gelehrt hat – Ihre Schwester! Sie ist älter als ich; von ihr hab' ich gelernt, was ich Ihnen eben gesagt habe.«

Ernst dachte eine Weile schweigend nach. Selma? Wieder Selma? »Glaubt sie denn so fest?« fragte er dann.

»Nein«, erwiderte Eva, und ein Zug von Ironie überflog ihr Gesicht. »Sie glaubt nicht. Aber sie ist sich darüber klar.«

»Was sagen Sie da?«

Diese Entdeckung schmetterte ihn fast zu Boden. Er hatte eine Schwester, die nicht glaubte! Ganz allein hatte sie sich zu der Erkenntnis durchgerungen, vor der er zurückwich. Und diese Schwester war ihm eine Fremde. Er hatte sie vernachlässigt, und sie konnte ihm jetzt nicht helfen.

Er trat noch einmal auf Eva zu und ergriff wieder ihre Hand. »Leben Sie wohl«, sagte er. »Ich muß nach Hause. Denken Sie nicht allzu schlecht von mir. Oder tun Sie das?« fügte er hinzu.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie sind nur schwach«, sagte sie.

»Ja«, sagte er still. »Ich bin schwach.«

Als er gegangen war, wanderte Eva lange im Zimmer auf und ab, um die Tränen niederzuringen, die hervorbrechen wollten. Ernst eilte raschen Schrittes heim. In ihm stürmten die Gedanken, und nur eins fühlte er klar: er mußte die Ruhe finden, seinen eigenen Weg zu gehen. Der Weg, den Eva ihm gezeigt hatte, der war zu schwer. Den konnte er nicht gehen. Als er in seinem Zimmer war, setzte er sich an den Schreibtisch, dem Vater gegenüber, der sich eben auf den Unterricht für morgen vorbereitete. Er nahm seine Predigt hervor, um sie noch einmal durchzugehen. Und seine Augen fielen auf die Textworte: »Sprach Jesus zu Simon Petrus: Simon, Jona Sohn, liebst du mich mehr, denn mich diese lieben? Er antwortete: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Sprach er zu ihm: Weide meine Lämmer!«

Ernst versank in Gedanken. Er grübelte darüber nach, was diese Worte ihm zu sagen hatten. War es ein Trost oder eine Anklage?

Er wußte es nicht.


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