Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

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16

Die Almen und Felsenzinnen leuchteten im Gold des Abends, während Vroni und Schorschl am Ufer des neu entstandenen Bergbaches über die Gehänge hinunterstiegen.

Mathes stand bei der halb zerstörten Scheune und blickte den beiden nach.

Solang ihn Vroni sehen konnte, winkte sie immer wieder mit der Hand zu ihm hinauf. Als die Hügel ihn verdeckten, fragte Schorschl: »Was hat denn der Mathes?«

»Du därfst es ja wissen jetzt!« Sie wisperte: »'s Linerl hat er gern.«

Der stammelnde Laut, den Schorschl zur Antwort gab, ging unter im Rauschen des Baches. Doch hinter seinem Schreck kam gleich die Freude wieder. Daß Vroni sich eins mit ihm fürs Leben fühlte, das hatte ihm kein Händedruck, kein leuchtender Blick so deutlich gesagt wie dieses leise Wort, mit dem sie ihm das Geheimnis des Bruders anvertraute. Schweigend umschlang er sie.

Da blickte sie zu ihm auf. »So viel gut bin ich dir!«

»Auf mich kannst dich verlassen!«

Weiter sprachen sie kein Wort. Eng aneinandergeschmiegt stiegen sie talwärts im leuchtenden Frühlingsabend.

Am Himmel glomm der Schein des ersten Sternes auf, als man drunten im Dorf den Abendsegen läutete.

Der schwebende Hall war schon eine Weile verstummt, da wurde noch eine andere Glocke gezogen.

Die beiden hörten nicht. So ganz versunken waren sie in ihr lebendes Glück.

Es wurde dunkler Abend, bis sie das Dorf erreichten. Sie hatten den Weg an der Daxenschmiede vorüber genommen. So sehr es Vroni zu Karlin zog, sie mußte sich einen ›Schnaufer‹ in der Luft des Hauses vergönnen, in dem sie wohnen sollte als junge Frau. In der Stube fand sie den Tisch gedeckt und daneben im Lehnstuhl die Mahm, die seit der Heimkehr der Gesellen mit Ungeduld auf ihr ›Schorscherl‹ gewartet hatte. Da gab es nun eine Szene, bei der die ›magere‹ Mahm vor Freude viel dicke Tränen vergoß; und das ›liebe Bildl‹ des jungen Paares, beteuerte sie, täte ihrem Herzen doppelt wohl nach dem Jammer, den sie hatte mit ansehen müssen: Vor einer Stunde, als sie im Lehnstuhl vor der Haustür gesessen, hatte man den Purtscheller als stillen Mann auf der Straße vorübergetragen, und neben der Reisigbahre war die arme Frau gegangen.

»Jesus!« stammelte Vroni, aus der stillen Freude ihres Glückes aufgerüttelt. Und da war sie nicht mehr zu halten. »Ich bitt dich, Schorschl, hol mir die Kinder von der Gvatterin, ich lauf zur Linerl ummi.« Sie stürzte davon und hörte nicht mehr, was Schorschl ihr nachrief.

Eine halbe Stunde später stand der junge Schmied mit den beiden Kindern vor dem Purtschellerhof und wartete. Die Straßenlampe, die am Stamm einer Pappel hing, warf ihren matten Lichtschein über den dunklen Weg. Der Vorgarten des Purtschellerhauses war mit Leuten angefüllt; sie redeten halblaut zueinander, schlichen durch die Haustür aus und ein oder drängten sich um die Fenster, die vom Schein der Wachskerzen wie festlich beleuchtet erschienen. Hastigen Schrittes ging der Pfarrer, der das weiße Chorhemd trug, an Schorschl und den Kindern vorüber, und ihm folgten der Mesner mit dem Weihbrunnkessel.

»Du?« fragte das Jetterl den Daxen-Schorschl. »Tun s' Hochzet halten da drin?«

»Ja, mein Mäderl!« sagte Schorschl, von diesem Kinderwort erschüttert. »Freilich tut einer Hochzet halten! Hochzet für alle Ewigkeit! Und 's Bräutl heißt Schnaufnimmer, und der Hochzeiter heißt Stehnimmerauf!«

»Stehnimmerauf?« plapperte das Kind und lachte. »Is dös aber a gspassiger Nam!«

Neugierig lugten die Kinder nach den erleuchteten Fenstern und wollten wissen, wann die ›Musi‹ käme.

Schorschl vergaß zu antworten, denn er sah, daß Vroni sich durch die im Garten stehenden Leute drängte. »Schatzl!« rief er. »Da bin ich schon!«

Sie zitterte vor Erregung an allen Gliedern. »Schorschl, Schorschl«, stammelte sie, während die Kinder sich an ihre Schürze hängten, »wie mich dös Frauerl da drin derbarmt, dös kann ich gar net sagen! Gern wär ich d' Nacht über blieben bei ihr. Aber mit der eiskalten Hand hat 's mir so viel lind übers Gsicht gstrichen und hat 's Köpfl gschüttelt. Und gsagt hat 's kein Wörtl net.« Sie brach in Schluchzen aus.

Das fanden die Kinder merkwürdig, daß bei einer Hochzeit geweint wurde. Xandi grübelte sich für dieses Rätsel eine Lösung aus. »Gelt, Vronerl, tust weinen, weil d' heim mußt? Geh, bleiben wir noch a bißl da, bis d' Musi anfangt!«

Erschrocken sah sie den Knaben an; als ihr Schorschl die Erklärung der Kinderworte zuflüsterte, sagte sie: »Ja, Schorschl, lassen wir s' drauf! Besser, sie glauben an d' Freud im Leben als wie ans andre!« Die Tränen von den Wangen trocknend, küßte sie die Kinder, knöpfte ihnen die Kittelchen zu und wand ihnen die wollenen Schlipse um die Hälse, damit sie die Kühle des Abends nicht spüren möchten.

Sie nahm den Knaben an die Hand, Schorschl das Jetterl, und so stiegen sie durch die sinkende Nacht in die Simmerau hinauf. Der Mond kam über die Berge gestiegen und übergoß ihren Weg mit seiner silbernen Helle.

Der Kinder wegen sprachen sie mit keiner Silbe von dem doppelten Tod, dem dort unten die Kerzen leuchteten. Doch unermüdlich mußten sie Antwort geben auf die Fragen der beiden Kleinen, für welche die Wanderung durch die vom Rauschen der Bäche erfüllte Mondnacht zu einem märchenhaften Ereignis wurde, das ihre kindlichen Herzen mit wohligem Gruseln erfüllte. In jedem Felsblock, den der Mond umwebte, und im schwarzen Schatten jeder Bodenschrunde erblickten sie etwas Geheimnisvolles. Der Ruf einer Eule machte sie zittern, und das Schwatzen der Bäche weckte ihre Neugier auf ›die Gschichtln, dö 's Wasser verzählt‹.

Das schwarze, verschobene Dach der Scheune tauchte hinter dem letzten Hügel hervor, den sie noch zu übersteigen hatten. Da legte Vroni die Hand auf Schorschls Arm. »Droben steht er schon und wartet!«

Das hatte sie kaum gesagt, als ein erstickter Schrei über den Hügel herunterklang: »Vroni?«

Die Kinder erkannten die Stimme und jubelten durch die Nacht hinauf: »Mathes! Mathes! Wir kommen schon!«

Vroni nahm das Jetterl bei der Hand. »Gelt, Schorschl, bist mir net harb? Jetzt mußt mich allein lassen mit ihm!«

Er nickte. »Gut Nacht für heut!« Und wollte sie küssen.

Sie entzog sich ihm. »Wart noch a bißl! Nacher kommst a Sprüngl zu mir ans Fenster. Magst?«

»Ob ich mag? Acht Tag lang hock ich mich da her und wart, wann's sein muß.«

Er ließ sich auf einen Felsblock nieder. Als er Vroni mit den Kindern auf der Höhe des Hügels verschwinden sah, machte ihn der Gedanke an Mathes ganz beklommen. Aber verliebte Herzen schlagen Purzelbäume über alle Tiefen weg. So war auch der Daxen-Schorschl bald wieder mitten drin in seinem träumenden Glück. Das erste, was er sich ausdachte, war das Brautgeschenk, mit dem er Vroni am Hochzeitsmorgen überraschen wollte. Eine silberne Halskette, eine ganz dünne, die nicht teuer ist, denn jetzt mußte er sparen. Und an dem Ketterl sollten, schön in Silber gefaßt, die dreißig Pfennige hängen, die er sich damals an jenem ersten Arbeitstag von Vroni verdient hatte. Die paar Nickel, die er in seinen Sorgen krampfhaft festgehalten, hatten ihm das Glück ins Haus gebracht.

Und die Bäckenmahm sollte es gut haben bei ihm! Der hatte er viel zu danken. Ihr Unglück hatte ihn zur Arbeit gezwungen. ›Wann die net so warm kriegt hätt in derselbigen Nacht, ich mein' schier, es wär a bißl kalt blieben bei mir in der Schmieden!‹ Und gerade zur richtigen Zeit war die Hilfe gekommen, als er in seiner ›Wildheit‹ den Karren seines Glücks übel verfahren hatte! Bei diesem Gedanken durchlebte er wieder jene Begegnung am Rande des Straßengrabens; er hörte das Plumpsen der Brotlaibe, sah Vronis zornblitzende Augen und hörte den sausenden Schwung der blauen Schürze.

Lachend duckte er den Kopf und wischte mit den Händen darüber, als hinge ihm noch der Mehlstaub an den Ohren. ›Sakra! Sakra! Dös Madl hat die richtige Schneid. Bei der muß ich mich gut aufführen! Oder es kracht.‹ So spann er in seinem warmen Glück einen fröhlichen Gedanken an den anderen und guckte lachend in den Mond. Als er nach geduldigem Warten endlich emporschlich über den Hügel, sah er, daß alle Fenster an dem kleinen Haus schon dunkel waren. »Mar' und Josef! Sie wird doch net schon warten auf mich!« Da machte er lange Sprünge und fand richtig das kleine Fenster schon offen.

Ein ›Bussel‹, das kaum enden wollte, leitete die zärtliche Zwiesprache ein, die mit Flüstern durch das eiserne Fenstergitter gehalten wurde. Und schließlich gab es für den Daxenschmied noch eine Überraschung.

»Schorschl! Jetzt geh schön heim und schlaf dich ghörig aus!« so hatte Vroni gemahnt. »Morgen mußt wieder an d' Arbeit! Gut Nacht, mein Liebster du!«

»Gut Nacht, Schatzl, mein liebs!«

»Tausendmal gut Nacht!« Erst noch ein Kuß, und dann kam der Nachsatz: »Aber wart a bißl, jetzt kriegst noch was!«

»Was denn?«

»Paß nur auf!«

Vroni verschwand vom Fenster. Als sie wiederkam, sah Schorschl im Mondschein etwas blinken wie Gold.

Seine C-Trompete!

»Dö hab ich gfunden und hab s' aufghoben, daß nix passiert dran.«

»Jessas na!«

In der ersten Freude des Wiedersehens wollte Schorschl die Trompete gleich an den Mund setzen. Erschrocken griff Vroni mit beiden Armen zum Gitter heraus und stotterte: »Schorschl! Was fallt dir denn ein?«

Da ging nun das Geflüster von neuem an, bis Vroni, um den Schlaf ihres Daxenschmiedes besorgt, einen Gewaltstreich übte und das Fenster schloß.

Schorschl plauderte noch eine Weile seine Zärtlichkeiten an die im Mondlicht blinkende Scheibe hin; aber die wollte sich nicht wieder öffnen. »No also, in Gotts Namen!« Seufzend nahm er die Trompete unter den Arm und trat den Heimweg an.

Als er in die Nähe des Dorfes kam, konnte er der Versuchung, die ihn auf dem ganzen Weg gequält hatte, nicht länger widerstehen. Er mußte seine Trompete hören, mußte das Glücksgefühl, das in ihm sprudelte, hinausschmettern in die Nacht. Lachend setzte er die Trompete an den Mund, und um der Freude, die sein Herz erfüllte, den passenden Ausdruck zu geben, blies er mit schmachtenden Klängen, aber mit aller Kraft seiner gesunden Lungen in den stillen Mondschein:

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so trau-au-rig bin . . .«

Klingend warfen die Berge das Echo zurück, als stünde am Fuß jeder Felswand ein Trompeter, der ›so traurig‹ war.

Der Frühling wandelte sich in Sommer. Auch auf den höchsten Zinnen war längst der letzte Schnee geschwunden. Der Almrausch blühte in leuchtendem Rot, und gleich einem gestickten Fürstenmantel schmiegte sich das Grün der Halden und Wälder um die Flanken aller Berge.

Es war an einem Tag in der zweiten Juliwoche. In der vergangenen Nacht hatte sich ein schweres Unwetter über den Bergen entladen. Die Bäche waren noch gelb vom Regen und rauschten mit doppelter Macht; doch der Himmel leuchtete in reinem Blau; nur ein paar kleine, kuglige Wolken, die letzten Nachzügler des erloschenen Gewitters, schwammen sacht, in silberweißem Glanze, über die Berge hin. Alle Farben an Wald und Wiesen hatten gesteigerte Leuchtkraft, und die Luft war so frisch, daß sich auch in der Mittagsstunde noch jeder Atemzug wie eine Erquickung genoß.

Alle Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges waren belebt; bald hörte man lachende Stimmen, bald einen Jodelruf oder die muntere Weise eines Liedes. Auf den tiefer liegenden Halden, die durch Erdbewegung und Überschwemmung weniger gelitten hatten, war schon die Heuernte im Gang. In der Höhe, auf den zerrissenen Wiesen, arbeiteten die Leute mit Pickel und Spaten, füllten die Bodenschrunden aus und bestreuten den geebneten Grund mit Grassamen. Von einzelnen Gehöften, die seit dem Herbst verlassen gestanden, hörte man Hammerschlag und das Geräusch der Säge; da waren die Maurer und Zimmerleute bei der Arbeit, um die übel zugerichteten Gebäude wieder in wohnlichen Stand zu bringen.

Aus dem Gärtl der Simmerau hallten die schweren Schläge einer Axt, und zu diesem eintönigen Pochen gesellte sich mit drolliger Disharmonie die Weise des Liedes, das die beiden Kinder mit kreischenden Stimmen sangen:

»Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!«

Die Kinder saßen, vom Sonnenglanz umzittert, im hohen Gras einer Wiese und banden einen Blumenstrauß für den ›Daxen-Vetter‹ und die ›Daxen-Mahm‹, für Schorschl und Vroni, die vor drei Tagen Hochzeit gehalten hatten.

Schorschl hätte sich die junge Frau am liebsten schon im Mai in seine Schmiede geholt; aber der Simmerauer hatte sein Mädel bei der Arbeit gebraucht und wollte nichts von der Hochzeit wissen, bevor nicht sein Haus wieder so schmuck und freundlich dastand wie im vergangenen Sommer, ehe der Berg sein ›narrisches Laufen‹ begonnen hatte.

Nun blinkten die frisch getünchten Mauern weiß wie Schnee; Haustür und Fensterläden waren mit grüner Ölfarbe neu gestrichen, die Scheiben spiegelten, und auf allen Gesimsen blühten die roten Nelken. Auf dem Dache waren die neuen Ziegel so verteilt, daß sie zwischen den älteren schon gebräunten Platten die Anfangsbuchstaben von Michels Namen zeigten, die Jahreszahl und die verschlungenen Initialen I.H.S. – ›Jesus, Heiland, Seligmacher‹.

Der Brunnen war wieder in Ordnung, der Hofraum mit Kies überstreut, der Zaun ohne Lücken. Auch die Scheune war gründlich repariert. Michel kränkte sich nur darüber, daß sein ›schöner Stadel‹ durch das Gemisch der alten und neuen Bretter einen so ›schecketen‹ Anblick bot.

Im Garten sah es noch übel aus. Der brauchte Jahre, um sich ganz zu erholen. Wohl hatte man allen Schutt entfernt, den die Erdbrüche und das Wasser bis an die Mauern geworfen; auch die Beete waren neu gerichtet und schon mit Gemüse und Blumen angepflanzt. Aber an die zwanzig Obstbäume waren zerstört, und die jungen Wildlinge, auf welche Michel schon im Mai die Edelreiser gepfropft hatte, wollten in dem steinigen Boden nur langsam vorwärtskommen und hatten noch kaum die ersten Blätter getrieben. Jene Bäume, die nur zu kränkeln schienen, hatte der Alte gepflegt wie leidende Kinder, hatte gute Erde um ihre Wurzeln gelegt und die Stämme, von denen die Rinde abgeschunden war, mit wachsgetränkten Lappen umwickelt. Ein paar dieser Patienten hatte er glücklich durchgebracht; die anderen waren abgestorben, als die Sommerhitze begonnen hatte. Und nun mußten sie umgeschlagen werden, damit das Holz sich noch verwerten ließe.

Seit dem Morgen waren Michel und Mathes mit den Äxten bei der Arbeit. Sooft von den dürren Bäumen einer mit Krachen niederstürzte, sagte der Alte: »Der hat die besten Äpfel tragen! Söllene gibt's nimmer in der ganzen Gegend!« Bei diesem Kummer war es ihm doch ein Trost, wenn er von einem der jungen Stämmchen zum anderen ging und die kleinen blaßgrünen Blätter der Pfropfreiser musterte. »Mathes, die strecken sich mit jedem Stündl! Jetzt spüren s' die warme Sonn! Allweil mein' ich, daß ich von denen noch an guten Apfel erleb!«

»Ja, Vater! Der soll dir schmecken!« sagte Mathes, während er die Axt aus den Händen legte und nach der Säge griff, um einen gefällten Stamm in Stücke zu schneiden.

Sein Aussehen hatte sich gebessert seit dem Frühjahr. Wohl war bei der schweren Arbeit seine Gestalt so hager geblieben, wie sie immer gewesen; doch seine Bewegungen waren nicht mehr so eckig wie sonst, viel geschmeidiger. In seinem Gesicht hatten sich die harten Züge gemildert, und unter der sonnverbrannten Stirne leuchteten die Augen wie klare Sterne. Rastlos stand er bei der Arbeit; doch sein ganzes Wesen war, so sehr er sich dem Vater gegenüber zur Ruhe zwang, von einer ungeduldigen Erregung befallen, die sich mit jeder Minute zu steigern schien. Als die Turmuhr im Tal die dritte Nachmittagsstunde schlug, legte Mathes die Säge nieder.

»Vater, es leidt mich nimmer. Jetzt muß ich a bißl abischauen!«

Michel nickte ihm zu. »Ja, Mathes! Es plagt mich selber, daß ich erfahr, wie der Hof weggangen is und wer ihn eingsteigert hat. Und ob ihr a bißl ebbes blieben is.«

Mathes ging ins Haus, um die Arbeitskleider gegen sein Sonntagsgewand zu vertauschen. Als er wieder ins Freie trat, sah er die Mutter bei der Scheune stehen. Sie hatte die Hände auf dem Rücken liegen und blickte ins Tal hinunter, aus dem, wenn der Wind ein bißchen schärfer bergwärts zog, mit halb verwehtem Klang das Hammertrio der Daxenschmiede herauftönte. Als Mutter Katherl den Schritt des Sohnes hörte, blickte sie auf. »Hörst ihn, wie er dreinschlagt da drunt?« sagte sie lächelnd. »Er, natürlich, er hämmert den ganzen Tag!« Sie seufzte leis. »Aber was wird mein Madl treiben?«

»Arbeiten halt!«

»Ja freilich, in so eim Hauswesen mit sechs gwachsene Leut heißt's ordentlich schaffen! Meinst, sie hat's gut bei ihm?«

»Besser hätt sie's net treffen können.«

»Gott sei Dank fürs Madl!« Wieder seufzte Mutter Katherl. »Aber mich kommt's hart an. An dös leere Stübl kann ich mich gar net gwöhnen.«

Dunkle Röte huschte über die gebräunten Wangen ihres Sohnes, und es schien, als wollte er sprechen; doch er schwieg und rückte nur den Hut.

»Wo gehst denn hin?«

»A bißl abischauen halt!« Der forschende Blick der Mutter machte ihn verwirrt. Er ging. Nach wenigen Schritten kehrte er wieder um, faßte die Hand der alten Frau und sagte: »Mutter! Wann's gut geht, bring ich dir wen. Ins leere Stübl eini.«

»Mathes! Jesus Maria!«

Da hatte er sich schon von der Hand der Mutter losgemacht und ging davon.

Droben in der Wiese sangen die beiden Kinder:

»Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß,
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!«

Mathes konnte die Stimmen des kleinen Paares noch hören, und während er talwärts wanderte, murmelte er die Worte des Liedes mit. Er selbst hatte, als er noch Knabe war, dieses Lied gesungen – da drüben unter den Haselnußstauden, nicht weit vom Gaßner-Haus. Als ihm diese Erinnerung kam, war ihm plötzlich, als klänge dicht an seiner Seite eine leise Mädchenstimme:

»Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab!«

Seine Schritte wurden langsamer. Er spähte über alle Pfade, die vom Dorf über den Berghang emporführten. Niemand kam aus dem Tal heraufgestiegen. Er sah nur die Leute, die auf den Halden bei der Arbeit waren.

Als er das letzte Wäldchen erreichte, ließ er sich im Schatten einer alten Wetterfichte nieder. Von hier aus konnte er die Straße vor dem Purtschellerhaus und einen Teil des Wirtschaftshofes überblicken.

Die Versteigerung, welche Purtschellers Gläubiger erwirkt hatten, mußte schon vorüber sein; Mathes sah dort unten ein fortwährendes Kommen und Gehen von Leuten; Möbelstücke wurden aus dem Haus geschleppt und auf Fuhrwerke geladen; die Scheunen wurden geleert und die Pferde und Rinder davongeführt. Das sehen zu müssen, schnitt ihm in die Seele. Es war Karlins Habe, die von den hundert fremden Menschen vertragen wurde in alle Winde. Und es hing auch an dem Gut, das hier verschleudert wurde, seine eigene Arbeit und sein Schweiß, ein Teil seines Lebens und ein Stück seines Herzens.

Die Fäuste auf den Knien, saß er an den Stamm der Fichte gelehnt. Stunde um Stunde verging; vor dem Purtschellerhof fuhren die hochbeladenen Wagen davon, und die Leute begannen, sich zu verlaufen.

In wachsender Unruhe wartete Mathes; plötzlich sprang er auf, mit erblaßtem Gesicht, zitternd an allen Gliedern.

Dort unten war eine schwarz gekleidete Frau aus der Haustür getreten, mit einem weißen Bündel in der Hand. Im Garten blieb sie stehen und blickte lang auf das Haus zurück. Mathes konnte sehen, wie sie sich bückte, um eine Blume zu brechen. Dann trat sie auf die Straße. Hier stand sie wieder still, als wüßte sie nicht, welchen Weg sie nehmen sollte.

Mathes streckte die Arme, als möchte er der Verlassenen dort unten seine Hände reichen, um sie zu führen.

Da schlug sie den Pfad ein, der von der Straße gegen den Berghang lenkte. Das gewahrte Mathes. Aus seiner Kehle rang sich ein stammelnder Laut, wie erstickter Jubel, der sich nicht zu äußern wagt.

Eine Viertelstunde verging.

Dann kam sie über den steilen Weg emporgestiegen. Sie trug ein schwarzes Wollkleid und hatte um den Kopf ein schwarzes Tuch geknüpft, aus welchem schmal und bleich das verhärmte Gesicht hervorlugte. An der Brust hatte sie eine rote Nelke stecken. Ein paar Schritte ging ihr Mathes entgegen. »Grüß dich Gott, Linerl!«

»Mathes! Du?« Dünne Röte stieg ihr in die bleichen Wangen, und ihre Augen wurden feucht. Ohne ihm die Hand zu reichen, sagte sie leis: »Grüß dich Gott auch!«

Seit jenem Abend, an welchem Mathes mit zornigem Griff den zum Schlag erhobenen Arm Purtschellers gefesselt hatte, waren das die ersten Worte, die sie miteinander sprachen.

Scheu blickte sie zu ihm auf. »Mathes?«

»Was, Linerl?«

»Wie kommst du denn jetzt da her?«

»Gwartet hab ich auf dich. Weil ich mir denkt hab: Es kunnt doch sein, daß du kommen tätst.«

Sie nickte. Eine Weile schwieg sie. »D' Vroni hat mir zugredt. So will ich halt auffi zu deine Leut und will s' drum anreden, daß s' mir an Unterstand geben, bis ich was anders find.«

»Ja, Linerl, da hast recht! Der Vroni ihr Stübl wartet schon auf dich. Aber so viel müd schaust aus!« Die Stimme versagte ihm. »Magst dich net a bißl niedersetzen?« Mit beiden Händen kratzte er im Schatten der Fichte die dürren Reiser aus dem Moos. »Schau, da hast a guts Rasten!«

»Vergelts Gott!« Karlin legte das Bündel ab und ließ sich nieder.

Nun saßen sie wortlos nebeneinander und blickten ins Tal hinunter. Leuchtend drangen einzelne Sonnenstrahlen durch die dichten, schwarzgrünen Zweige, die sich im Winde sacht bewegten. Das gab auf den Händen und Gesichtern der beiden ein zitterndes Spiel von Lichtern und Schatten.

Nach einer Weile fragte Mathes. »Is drunten schon alles aus?«

»Ja, Mathes! Alles!«

»Wie is er denn weggangen, der Hof?«

»Grad um d' Hypothekenschulden.«

»Jesus Maria! Wie kann denn so was gschehen! Wann auch droben der Wald halb ausgschlagen und halb versunken is! Der Hof allein is doch seine hunderttausend und drüber wert.«

»Ja! Dös hat mir gestern der Rufel gsagt. Er hat mir 's Geld anboten, daß ich mitsteigern kunnt.« Karlin lächelte müd. »Was tät denn ich allein mit so eim Hof?«

»Aber schau, ich hätt dir ja gholfen!«

»Und hättst dir d' Finger blutig geschunden. Für ander Leut!« Ruhig schüttelte sie den Kopf. »Na, Mathes! Lieber net! Schau, für mich is eh kein Platzl nimmer gwesen in dem Haus da drunten!«

»Und gar nix is dir blieben?« stammelte Mathes.

»Nix.«

»Aber 's Inventari? Und d' Roß und 's Vieh? Dös muß doch ebbes bracht haben!«

»Siebentausend Mark. Da haben dem Toni seine Verwandten d' Hand draufglegt. Sie haben gsagt: Ich hätt kein Recht net, weil kein Kind nimmer da is, und sie täten Prozeß machen. Hätt ich streiten sollen, Mathes? Na! Ich hab ihnen alles zugstanden und hab gsagt: Ich will nix. Hab ich net recht ghabt, Mathes?«

Er drückte ihre Hände, und seine Stimme klang, als wäre ihm leichter und mutiger ums Herz geworden. »Ja, Linerl, da hast recht ghabt!«

»Dös is noch 's einzig, was mir lieb is an allem Unglück, daß ich nausgeh aus dem Haus, grad so, wie ich einizogen bin. Und schau, nix anders trag ich mit mir fort als wie den Kummer um mein Kind!« Zitternd bedeckte sie die Augen.

Da rückte Mathes an ihre Seite und zog ihr mit scheuer Zärtlichkeit die Hände nieder. »Linerl? Was willst denn machen jetzt?«

»Was bleibt mir denn über? An Dienst muß ich halt suchen. Ich tu's gern. D' Arbeit fürcht ich net.«

Er schüttelte den Kopf und atmete schwer. »Linerl?«

»Ja, Mathes?«

Es wollte hart aus ihm heraus: »Schau, Linerl, ich tät dir ebbes wissen!«

»Was denn?«

»Der Gaßner baut jetzt drunten im Ort. Sein Häusl am Berg droben kunnt man billig haben. Gut schaut's freilich net aus. Aber es tät sich doch wieder herrichten lassen. Was meinst?«

Heiße Röte färbte ihre bleichen Züge. Das Gaßner-Haus! Das Haus der Eltern! Das Dach, unter dem die Mutter sie geboren hatte! Die Mauern, zwischen denen ihr die Kindheit verflossen war in stillem Glück!

»Geh, Linerl, sag mir: Tät's dich net freuen, dös Häusl da droben?«

Karlin zitterte. Obwohl sie verstand, wie er es meinte, sagte sie doch: »Verschenken tut's der Gaßner net. Und haben tu ich nix.«

»Aber ich hab a bißl ebbes. Ich hab mir a schönes Geldl zammgraspelt die ganzen Jahr her. Siebenhundert Markln hab ich. Dös tat grad langen, mein' ich. Vierhundert kunnten wir dem Gaßner anzahlen. Und mit dem andern täten wir unser Häusl einrichten. D' Maurerarbeit mach ich selber, und aufs Zimmern versteh ich mich auch net schlecht. Wann ich mich den Sommer über a bißl rühr, kunnt 's Häusl im Herbst wieder ausschauen, daß dei' Freud dran haben tätst!« Seine Stimme klang heiser. »Was meinst, Linerl?«

Da nahm sie seine Hände und sah ihm in die Augen. »So gut wie du bist, Mathes, so gut is keiner nimmer!« Sie löste die Nelke von ihrer Brust und reichte ihm die Blume hin: »Schau, dös Nagerl hab ich mir noch brochen drunt, weil mein Kind dö roten Blümeln so viel gern gsehen hat. Magst es haben, Mathes?«

Heiß leuchtete ihm die Freude aus den Augen, und verlegen sagte er: »Ja, Linerl! Da sag ich dir Vergelts Gott dafür!« Er nahm den Hut ab und steckte die Blume achtsam hinter die Schnur. »Dös heb ich mir auf. Gut! Und sag, Linerl?« Vorsichtig drückte er den Hut aufs Haar. »Wann wir jetzt gleich auffigehn täten, 's Häusl a bißl anschaun? Was meinst?«

»Ja, Mathes! Wie d' willst!«

Mit festem Druck umspannte er ihre Hand. »So komm!«

Ein paar Schritte ließ Karlin sich von ihm führen; ehe der Pfad um die Ecke des Waldes lenkte, blieb sie stehen.

»Komm, Linerl!«

»Laß mich noch a bißl schauen!«

Mathes legte den Arm um ihre Schultern. So standen sie schweigend und blickten zum Kirchhof hinunter, auf dessen Gräbern sich die eisernen Kreuze wie dünne schwarze Striche zwischen Grün und Blumen unterschieden.

Tief atmend trocknete Karlin ihre Tränen. Dann stiegen sie Hand in Hand über den steilen Hang empor, vom warmen Gold der Sonne umleuchtet. Die Drosseln schlugen in den Haselnußbüschen, und die Luft war erfüllt von dem Wohlgeruch, der dem frischen Heu entströmte.

Es wollte schon Abend werden, als sie das einsame, verlassene Gehöft erreichten. Das kleine Haus, in dem ihr Glück sich heimisch machen sollte, lag vor ihnen wie eine öde Ruine; die Mauern brüchig, das Dach verschoben, die Fenster ohne Kreuzstöcke, der Eingang ohne Tür und Balken. Wie ein Schuttfeld waren Hof und Garten anzusehen, übergossen von Geröll und schweren Steinen.

Dennoch hingen ihre Augen mit leuchtendem Blick an dem kahlen Gemäuer. Ihre Herzen sahen, was hier werden sollte. In Karlins Seele erwachte bei jedem Schritt ein Gedanke an die Kinderzeit, und diese Erinnerung belebte alles, was verwüstet vor ihren Füßen lag.

Als sie die öden Räume durchwandert hatten und wieder ins Freie traten, nahm Mathes den Zollstab aus der Tasche und maß die Lichtung der Fensterhöhlen. »Gleich morgen fang ich mit die Kreuzstöck an und laß vom Glaser d' Scheiben einschneiden. Weißt, damit's nimmer einiregnet in d' Stuben. Sonst fangt der Fußboden 's Faulen an.«

»Ja! Und ich mach mich gleich über'n Garten her!« sagte Karlin. »Da müssen d' Steiner ausklaubt werden, eh man noch mit der Schaufel anfangt.« Sie legte ihr Bündel nieder, hob einen schweren Stein vom Boden auf und trug ihn zu der aus Felsbrocken aufgeschichteten Mauer, die sich um den Garten zog. Als sie den zweiten holen wollte, der so gewichtig war, daß sie ihn kaum von der Erde emporbrachte, rief Mathes: »Geh, Linerl, der is dir z'schwer! Den laß für mich!« Er kam gesprungen, nahm ihr den Stein aus den Händen und trug ihn zur Mauer.

Nun sammelte Karlin das minder grobe Geröll, während Mathes sich mit den großen Brocken schleppte.

So begannen sie den Bau ihres Glückes. Bei dem Eifer, mit dem sie schafften, gewahrten sie nicht, daß die Sonne zur Ruhe ging.

Drunten im Tal wurde der Abendsegen geläutet, und im dämmerigen Blau der Höhe blitzten die ersten Sterne wie feine glühende Nadelspitzen.

 

Ende

 


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