Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Der Morgen brachte einen Tag, so sonnig und lüfteblau, als käme der Mai schon über die Berge gezogen. Mit jeder Stunde wich der Schnee auf den Almen um weite Strecken gegen die Felsen zurück. Über alle Wände und Halden stürzten mit Rauschen die silbernen Bäche zu Tal. Nur auf den Gehängen des laufenden Berges blitzte kein Schneebach, rauschte kein Wasser. Dafür wälzten sich in der Talsohle die wachsenden Wassermengen mit dumpfem Tosen aus den unterirdischen Gängen des Berges hervor, überschwemmten die Straße und vermurten weite Wiesenstrecken mit dem Kies und Schlamm, den die fressenden Wellen aus dem Innern des Berges hervorwuschen.

Die Leute, deren Äcker bedroht waren, hatten schon früh am Morgen die Arbeit begonnen und warfen Gräben aus, um dem angestauten Wasser einen Abfluß zu schaffen. Nur auf den frischbestellten Saatfeldern, die zum Purtschellerhof gehörten, war niemand bei der Arbeit. Um acht Uhr, als der Altknecht seinem Herrn die Nachricht von der den Feldern drohenden Gefahr brachte, lag Purtscheller noch im Bett. Er konnte sich kaum ermuntern. »Holts den Mathes! Der wird schon Rat schaffen!« Sprach's und drehte sich auf die Seite, um die fünf Flaschen Tiroler, die er in der Nacht beim Hasardspiel ausgestochen hatte, völlig aus seinem sumsenden Kopf hinauszuschlummern. Gegen halb elf erwachte er und machte Spektakel um sein Frühstück. Als er aus der Schlafkammer trat, war der Tisch gedeckt, und eben wollte die alte Magd die Stube verlassen. »Natürlich! Gleich in aller Früh wieder an alts Weib! Wo is denn d' Frau?«

»Mit die Leut zur Arbeit auf d' Felder aussi.«

»Wär gscheiter, sie tät schauen, daß ich mein Sach in der Ordnung krieg!«

»Schaun S' doch den Tisch an! Sie haben ja alles!«

»No ja!« brummte Purtscheller. »Wo is denn der Kleine?«

»Den hat d' Frau Nachbarin ummi.«

»Dös is die neueste Mod! Als ob 's Kindl daheim net am besten aufghoben wär!«

Während Purtscheller seinen Kaffee schlürfte, den Schinken kaute und die Eier auslöffelte, tauchte verschwommen die Szene des vergangenen Abends vor seinen Gedanken auf. »Sie weiß doch, daß ich's net so mein' und daß ich hintnach wieder der beste Kerl bin.« Jedenfalls ging das keinen andern was an. Am allerwenigsten einen Knecht! »Dös will ich ihm austreiben für an anders Mal!« Freilich, wenn man die Sache richtig betrachtete, konnte man dem Mathes die Einmischung nicht verübeln. »Am End hätt ich's selber net anders gmacht, wann ich mitanschaun hätt müssen, wie so a rabiats Mannsbild a Frauenzimmer schlagen will!« Und schließlich brauchte er den Mathes, um den Hof wieder in die Höhe zu bringen. »In Gotts Namen, muß ich die Sach halt gut sein lassen.« Als Purtscheller sich diese Überwindung abgerungen hatte, kam er sich sehr bewunderungswürdig vor.

»Jetzt an d' Arbeit!« Das bedeutete: Geld schaffen. Beim Wirt hatte er eine Spielschuld von siebenhundert Mark stehen. Die mußte beglichen werden, wenn seine Reputation als ›Sportsmann‹ nicht leiden sollte. Für den Ostermontag war das erste Trabrennen angesetzt; da wollte er mit dem ›Lüftikus‹ seine zwanzigtausend an Preisen und Wetten holen! Mit dem Gewinn des Rennens war sein Lebensbedarf für ein Jahr gedeckt, und so konnte der Betrag, den Mathes aus dem Hof herausbrachte, rein dazu verwendet werden, um einen Teil der Hypothek zu löschen. Glänzendere Aussichten als der Purtscheller-Toni hatte kein Mensch auf der Welt. »Aber selber muß ich dazuschaun!«

Jener Geldgeber, der für die Hypothek die achtzigtausend und für das Fallholz des halb zerstörten Waldes sechzehntausend bar gegeben hatte, wollte die Hand nicht mehr öffnen. Drum mußte Purtscheller in die Stadt und ›dazuschaun‹! Dabei traf er zwei Fliegen mit einem Schlag: Er betrieb ein notwendiges Geschäft und konnte eine Trainingsfahrt mit seinem ›Lüftikus‹ machen. In flottem Tempo fuhr er zum Dorf hinaus, geschaukelt von den geschmeidigen Federn des neuen Gigs, dessen rotlackierte Speichen in der Sonne blitzten, als wären die Räder rollende Feuersteine.

Gegen fünf Uhr abends kam er aus der Stadt zurück, in seelenvergnügter Laune. Seine Fahrt hatte doppelten Erfolg gehabt: Binnen drei Tagen sollte er fünftausend Mark auf zweite Hypothek erhalten, und mit dem ›Lüftikus‹ hatte er einen Rekord erzielt, der ihm den Sieg beim nächsten Rennen in sichere Aussicht stellte. Ohne das Pferd auszupumpen, hatte er den Kilometer in zwei Minuten gefahren. Und in welch famoser Kondition kehrte das Pferd nach solcher Leistung in den Stall zurück: frisch und feurig, kaum mit einer Schweißflocke am glänzenden Fell! Da mußte Purtscheller das Pech, das er mit seinem ›Herzbinkerl‹ gehabt hatte, als Glück betrachten. Er lachte bei der Erinnerung an den Rat, den ihm Mathes gegeben hatte. Den ›Lüftikus‹ mit Schaden verkaufen? »Net um a Gschloß!« Jetzt war der Rappe fertig für die Rennbahn und sollte Geld bringen!

Weil die Dienstboten mit Karlin noch immer auf den Feldern waren, versorgte Purtscheller selbst das Pferd und schnallte ihm die warmen Decken um. Ein wenig müde von dieser Arbeit, doch in der Laune eines Menschen, dem das Glück nichts zu wünschen übrig läßt, setzte er sich an den gedeckten Tisch. Zu allem Erfolg dieses Tages gesellte sich noch die Aussicht auf das Jagdvergnügen, das ihm der schöne Abend versprach: Heut würde ihm sicher die erste Schnepfe vor das Rohr streichen. Als die Magd auftrug, schwatzte er fidel. »Und schau, was ich der Frau mitbracht hab!« Schmunzelnd zog er ein Lederetui hervor, ließ den Deckel aufspringen und zeigte der Magd einen schweren Goldreif mit funkelndem Rubin. »Söllene Sachen schenk ich meiner Frau! Dös kann jede Gräfin tragen. Dreihundert Mark hab ich zahlt dafür.« In dieser Behauptung lag ein kleiner Verstoß gegen die Wahrheit; dreihundert Mark, das stimmte; aber er war sie schuldig geblieben. »An Sonntag muß d' Frau dös Armband anlegen für'n Kirchgang. Sie soll amal zeigen vor die Leut, was dös sagen will: Purtschellerin heißen!« Er band sich die Serviette vor und rührte mit dem Schöpflöffel in der Suppenschüssel. »Leberspatzerln? Heut hast es troffen, Alte! Und wo is denn mein Prinz? Noch allweil bei der Nachbarin?«

»Ja! Ich muß ihn drüben lassen, bis d' Frau selber heimkommt und holt ihn.«

»Nix da! Soll ich denn nie was haben von meim Büberl? Gleich holst ihn ummi!«

Die Magd zögerte. »Ich trau mich net recht. Sie geben ihm wieder was z'essen und verderben ihm 's Magerl.«

Purtscheller lachte. »Na, na! Ich hab noch Zeit bis zum Schnepfenstrich. Da möcht ich mit dem lieben Schneck a bißl umtanzen, 's Kind wird ja sonst völlig fremd zu mir.«

Die Magd wollte noch eine Einwendung erheben; ein grobes Wort machte ihr flinke Füße.

Mit rotem Schimmer lag die Abendsonne auf der Straße, als die Magd aus dem Haus des Nachbars trat und das schwatzende Bürschl zu seinem Vater heimtrug. Während sie über die Stufen der Haustür hinaufstieg, flog's mit sachtem Gesurr über die blätterlosen Reben des Weinspaliers. »Meckerling!« Der Kleine streckte die Hand. »Meckerling haben möcht ich!«

»Aber geh, Tonerl, jetzt fliegt doch kein Schmetterling umanand. Da mußt schon noch a paar Wochen warten!«

Droben im ersten Stock klirrte eine Scheibe, und Purtscheller streckte das vergnügte Gesicht zum Fenster heraus. »Bürscherl! Da schau her, wer da is!«

»Meckerling haben möcht ich!« bettelte der Kleine, während ihn die Magd in das Haus trug.

Purtschellers Gesicht verschwand; man hörte durch das offene Fenster den zärtlichen Gruß, mit dem er seinen ›Prinzen‹ empfing, hörte den lustigen Unsinn, den er trieb, und das Jauchzen des Kindes, das am Spiel mit dem Vater eine seltene Freude zu finden schien.

Es wurde lebendig auf der Straße; die Bauern kehrten von den Feldern heim, und nach einer Weile kam auch Karlin mit ihren Leuten. Die Arbeit, die man seit dem Morgen geleistet hatte, war von Erfolg gewesen. Freilich hätten die in Eile gebauten Dämme die Saatfelder auf die Dauer nicht vor der Vermurung geschützt, wenn nicht im Laufe des Vormittags das aus dem Innern des laufenden Berges hervorströmende Wasser unerwartet gesunken wäre, so daß es gegen Abend fast ganz versiegte. Die Leute meinten, beim Niedergang der Sonne wäre droben auf den Almen der Schnee aus dem Schmelzen gekommen, und so hätte der Zufluß an Wasser sich vermindert. Andere sagten, entweder hätten die Bäche in den Höhlen des Berges einen neuen Weg genommen oder ein schwerer Erdbruch hätte dem unterirdischen Wasser einen Riegel vorgeschoben.

Schweigend hatte Karlin diese Reden angehört, und manchmal war ihr Sorgenblick über die Gehänge emporgeglitten gegen die Simmerau. Welch einen harten Kampf mußten die dort oben führen gegen die dunkle Gefahr!

Als man für die Felder nicht mehr zu fürchten hatte und den Heimweg antreten konnte, war Karlin von der neunstündigen Arbeit und von allem, was an ihrem Herzen nagte, so zerbrochen, daß sie sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochte. Ihre Kleider waren durchnäßt, und in Klumpen hing der Schlamm an den Säumen ihres Rockes. Vor dem Tor des Purtschellerhofes blieb sie stehen und nickte den Dienstboten zu. »Vergelts Gott, meine guten Leut! Wann ich heimkomm, richt ich 's Essen gleich und stelle euch 's Bier auf. Bloß mein Kindl möcht ich noch holen.« Sie ging zum Nachbar hinüber. Als sie hörte, daß die Magd den Tonerl schon vor einer halben Stunde heimgeholt hätte, lief sie in Unruh nach Hause; sie kannte die Spiele, die Purtscheller mit seinem Kinde zu treiben pflegte – noch immer war der Kleine übel dabei weggekommen, im besten Fall mit Tränen. Wahrend Karlin über die Stufen des Gartens hinaufstieg, hörte sie aus dem offenen Fenster das Stimmchen ihres Kindes: »Vaterl, bitti, bitti, noch a bisserl Rossi machen!«

»Na, mein Bürscherl«, klang die Stimme Purtschellers, »für heut is gnug! Jetzt muß ich fort auf d' Jagd.«

»Bitti, Vaterl!«

»Morgen, mein Schnaberl! Da tun wir Haserl und Jager spielen, gelt! Jetzt muß ich fort.«

»Vaterl, bitti, bitti, Haserl spielen!«

»No also, in Gotts Namen, a bisserl noch! Aber gschwind, mein Haserl! Gschwind tu dich verstecken im Krautacker! Der Jager kommt schon mit der Büx.«

»Haserl guguk!«

Von Sorge befallen, stürzte Karlin ins Haus und über die Treppe hinauf. Bevor sie die Stubentür erreichen konnte, dröhnte der Hall eines Schusses durch das Haus. Gelähmt vor Schreck, hörte sie einen Schrei ihres Mannes und das Fallen von Mörtelbrocken. Als sie in verzweifelter Angst die Tür aufriß, sah sie ihren Mann, mit aschfarbenem Gesicht an die Mauer gelehnt, das Gewehr in der Hand. Vom ziehenden Pulverdampf umschleiert, stand Tonerl neben dem Ofen und blickte scheu an seinem Kleidchen hinunter, aus dessen Falten die roten Tropfen sickerten. »Mammi, schau, Vaterl Hasi schossen!« Das Kind wollte die Arme strecken. Da fiel es vornüber und regte sich nimmer.

Mit röchelndem Schrei, wie eine Wahnsinnige, stürzte Karlin auf ihren Mann zu und klammerte ihm die Hände um den Hals, als könnte sie mit Gewalt das schon geschehene Unglück noch verhüten. Er wehrte sich nicht, lallte nur und ließ die Flinte aus den schlaffen Händen gleiten. Das Gepolter weckte Karlin aus dem Irrsinn, der sie befallen hatte. »Mein Kind! Mein Kind!« Sie warf sich auf die Dielen nieder, hob das blutende Körperchen an ihre Brust, raffte sich auf, schrie mit gellender Stimme um Hilfe und wollte das Kind aus der Stube tragen. Ehe sie die Schwelle der Schlafkammer erreichte, fiel sie ohnmächtig zu Boden.

Die Dienstboten stürzten in das Zimmer. Die einen hoben Karlin und das Kind von den Dielen auf, die anderen drängten sich mit entsetzten Fragen um Purtscheller. Er stierte die Leute mit glasigen Augen an und lallte in Tränen: »Ich weiß net, 's Gwehr is gladen gwesen, ich bin net schuld dran!«

Der Altknecht rannte davon, um den Doktor zu holen. Der kam auch gleich; er konnte nimmer helfen! Tonerl hatte die Augen geschlossen.

Während der Doktor die Mutter aus ihrer Ohnmacht weckte, kamen die Nachbarn gelaufen. Wohnstube und Schlafkammer füllten sich mit Menschen, und tröstend versuchten die Frauen, auf Karlin einzureden. Sie hörte nicht. Tränenlos, wie versteinert, saß sie neben dem Bett ihres Kindes und wollte die kleine, kalte Hand nicht lassen. Der Doktor wandte sich ab und ging in die Wohnstube hinaus. Die Leute schwiegen, als er kam, und zitternd sah ihm Purtscheller entgegen, erschöpft vom Weinen, mit aufgedunsenem Gesicht.

»Herr Purtscheller! Ich muß den Unfall, dessen Opfer Ihr Kind geworden ist, zur Anzeige bringen.«

Toni sah, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er zwang seine Stimme zu festem Klang: »Ich bitt, Herr Dokter, machen S' Ihnen kein Arbeit net! Wer a Mannsbild is, muß einstehn können für alles, was er tut. Wann ich auch schuldlos bin, ich fahr selber in d' Stadt eini und geh zum Gricht. Noch allweil bin ich der Purtscheller!« Mit Tränen auf den Wangen sagte er zum Altknecht: »Spann den Lüftikus ein!«

»Aber ich bitt Ihnen um Gotts willen, Herr –«

»Tu, was ich sag! Mein Traber bringt mich am schnellsten auf den Weg, der mir jetzt noch übrigbleibt.« Purtscheller wollte aus der Stube gehen; es zog ihn zur Kammer; als er die blutigen Kissen sah und das wachsbleiche Gesicht des Kindes, faßte ihn ein Schauder, und schluchzend bedeckte er die Augen. »Ich kann ihn nimmer anschaun, ich bring's net fertig!« Taumelnd ging er zur Flurtür und tauchte, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte, die Finger in den Weihbrunnkessel. Wortlos tastete er sich über die Treppe hinunter und weinte noch immer, als ihm der Wagen vorgeführt wurde.

»Ich bitt, Herr, lassen S' lieber mich fahren!« sagte der Knecht.

Purtscheller schüttelte den Kopf und kletterte auf das Gig. Hätte ihm Zäzil nicht den Hut gebracht, er wäre barhäuptig davongefahren.

Während er bei sinkender Dämmerung durch das Dorf hinauskutschierte, starrte er vor sich hin, ohne des Pferdes zu achten, das bald, von der ersten Fahrt noch müde, das Traben aufgab und in gemächlichem Schritt der Straße folgte. Immer grauer senkten sich die Schatten des Abends über Tal und Berge, obwohl im Westen ein roter Glanz war, vor dem sich die Konturen ferner Höhenzüge schwarz emporhoben. Als bei Purtscheller die Erschütterung des ersten Jammers sich löste, tauchte das Bild seiner selbst und seines Lebens vor ihm auf, wie es war; mit einer ihn entsetzenden Klarheit sah er die Schuld, die er an sich selbst und an den anderen verbrochen hatte. Aber dieses Hellsehen seiner Gedanken währte nicht lang; es ging vorüber wie ein Wetterleuchten, hinter dem die Sterne scheinen. Und gleich war das Mitleid da, das er mit sich selbst empfand. Ja, er hatte durch Leichtsinn viel gesündigt; aber nicht er, alles andere trug die Schuld. Weshalb waren seine Eltern so früh von ihm gegangen und hatten ihn unreif im Leben zurückgelassen. Weshalb mußte er zu seinem Unstern in diese Heirat hineintappen? Wäre er an eine andere Frau geraten, die ihn zu lenken verstanden hätte, dann wäre alles anders gekommen! Auch dieses letzte Unglück, das auf seine schuldlosen Hände das Blut des eigenen Kindes schüttete, wäre nicht geschehen! »Die ganzen Jahr her hat s' mir allweil die Patronen aus'm Gwehr gnommen! Heut zum erstenmal vergißt sie's! Hätt d' Frau net ihr Pflicht versäumt, so hätt dös Unglück net gschehen können!« Den Zorn, der ihn quälte, mußte er entladen. Weil er den gemächlichen Paß des Rappen gewahrte, griff er wütend zur Peitsche. »Wart, dir will ich 's Laufen lernen!« Mit klatschendem Schlag sauste die Peitschenschnur auf die Weiche des Pferdes nieder. Schnaubend bäumte sich das mißhandelte Tier. Scheuend vor einem Meilenstein, der sich weiß aus dem Dunkel des Abends hob, fiel es in so rasenden Galopp, daß Purtscheller die wilde Jagd des Pferdes nicht mehr zu hemmen vermochte. Wie ein tanzendes Spielzeug flog der leichte Wagen hin und her, schlug an einen Felsen, rasselte gegen eine Balkenbrüstung und verschwand in den Wolken des aufgewirbelten Staubes.

Zu dem in dunkler Ferne verhallenden Hufschlag des Pferdes gesellten sich die Töne einer kleinen Kirchenglocke.

Klagend schollen die dünnen Klänge durch das abendstille Tal.

Leute, die noch nicht wußten, was im Purtschellerhof geschehen war, traten aus ihren Häusern. »Wem wird denn 's kleine Glöckl zogen? Wo war denn a Kindl krank?«

Auch über das Gehäng des laufenden Berges drang ein verschwommener Glockenruf. Sie hörten ihn droben in der Simmerau, wo die vier Menschen im Fackelschein bei der Arbeit standen, erschöpft, die Gesichter von Schweiß überronnen. »Hörst es, Mutter!« sagte Michel. »Sie läuten 's Zügenglöckl.«

»'s kleine Glöckl! A Kindl muß gstorben sein. Der liebe Gott soll's aufnehmen in sein' ewigen Himmelsfrieden! Beten wir a Vaterunser dafür!«

Ohne die Arbeit auszusetzen, sprachen sie das Gebet. Als Mathes sich bekreuzt hatte, griff er nach einem Baum, wie von einem Schwindel befallen. »Is dir net gut, Mathes?« fragte die Schwester in Sorge.

»Ich weiß net, was ich hab. So viel bang is mir um's Linerl!«

Und drüben, wo die beiden Alten standen, sagte Michel: »Müd bin ich, Mutter, arg müd! Aber aufschnaufen tu ich, weil ich weiß, daß unsere Kinder a sichers Platzl haben! Die Gvatterin drunten is doch gut mit ihnen, gelt?«

»Ja, Michel, da kannst dich verlassen!«

»Gott sei Dank! Um kein' Preis mehr hätt ich die Kinder heut in der Nacht noch im Häusl schlafen lassen.« Er blickte an den vom Fackelschein erhellten Mauern hinauf, von denen der Mörtel in großen Brocken heruntergefallen war.

Dann schwiegen sie wieder, und man hörte beim Knistern der Fackelflammen nur noch den Hall der Beilschläge, das Knirschen der Säge, das Krachen der Ruten, die beim Flechten entzweibrachen, und den schweren Atem der Schaffenden. Dem müden Erschlaffen, mit dem die viere bei der Arbeit standen, war es anzusehen, daß harte Stunden hinter ihnen lagen.

Es hatte der laufende Berg im Herbst während vieler Wochen nicht so viel Unruh' gezeigt wie heut an diesem einzigen Tag. In der Nacht schon war es angegangen, dieses Zittern des Grundes, dieses Rinnen der Erde. Viermal seit dem Morgen hatte es dumpf gedröhnt im Innern des Berges. Rings um die Simmerau waren alle Halden zu wulstigen Buckeln ausgeschoben, von Klüften durchrissen. Drüben, wo sonst die grünen Matten des Purtschellerwaldes den Berghang bedeckt hatten, waren nur wenige Wipfel noch zu sehen. War da drüben der Boden gesunken, der die von der Axt des Händlers verschonten Bestände getragen hatte? Oder war das Gelände zwischen der Simmerau und dem Wald so emporgeschoben, daß es den Ausblick auf die noch stehenden Bäume verwehrte?

In der Simmerau fanden sie nicht Zeit, um Antwort auf diese Fragen zu suchen. Sie hatten sich um die eigene Gefahr zu sorgen. Nur Mathes schickte manchmal einen bekümmerten Blick hinüber zu den verschwindenden Wipfeln des Purtschellerwaldes.

Wie rings um die Simmerau, so hatte sich die gesteigerte Bewegung des Bodens auch in der Nähe des Hauses geäußert. Ein Teil der Böschung war niedergebrochen, hatte den neuen Verhau zerdrückt, den halben Garten begraben und das Geröll bis an die Mauer des Hauses geworfen. Im Hofraum war der ganze, mühsam gezimmerte Balkenrost aus den Fugen geraten, und lange Risse hatten den Grund zerspalten. Der Brunnen war verschüttet und die Röhre so gewaltsam eingeklemmt, daß sich der Pumpkolben kaum noch bewegen ließ.

Gegen Mittag waren von den weißen Mauern die ersten Mörtelbrocken niedergefallen. Als Michel den Schaden betrachtete, kamen über einen nahen Wiesgrat Leute heruntergestiegen, welche schwere Päcke schleppten und einen mit Hausgerät beladenen Karren zogen. Das war der Brunntaler mit Weib und Kindern, auf dem Gehäng des laufenden Berges der einzige Bauer noch, der gleich dem Simmerauer bis zur äußersten Gefahr bei seiner Mauer ausgehalten hat. Jetzt suchte auch dieser Letzte die Sicherheit im Tal und rettete von seinem Hab und Gut, was noch zu retten blieb.

Michel, mit erloschener Stimme, sagte zu seinem Weib: »Mutter, was meinst? Sollen wir net die Kinderln abischicken ins Dorf? Über Nacht bloß, weißt?« Daß die Hoffnung ihn zu verlassen begann, das brachte er nicht in Worte. Er sagte nur: »Wir alle müssen schaffen in der Nacht. Da liegen die Kinder ohne Aufsicht da.«

Während sie berieten, wem sie die Kinder im Dorfe anvertrauen sollten, sagte Mathes zur Schwester: »'s beste war, du tätst die Kinderln zur Bäckin führen! Die nimmt s' gern ins Haus. Und der Schorschl noch lieber, mein ich.«

Vroni schüttelte den Kopf. »Unser Gvatterin müßt sich kränken.«

Mit der ›Gvatterin‹ waren auch Michel und Mutter Katherl einverstanden. Man rief die Kinder, die mit Lachen und Singen auf einer Halde spielten, packte ihnen ein bißchen Wäsche und Kleider in ein Bündel, und dann führte Vroni das kleine, über die ›Reise‹ vergnügte Paar ins Dorf hinunter.

»Gelt, Madl, sei so gut, und bring mir vom Schmied a ghörigs Packl lange Eisenstiften mit!«

»Ja, Vater!«

Zwei Stunden später war Vroni wieder zurück, mit Grüßen von der Gevatterin und mit den Eisenstiften, um die sie nicht zum Schmied, sondern zum Schlosser gegangen war. Fünfzig Pfennige hatten sie gekostet.

»Aber«, sagte der Vater. »Warum bist denn net zum Schmied gangen? Der Schorschl hätt d' Stiften billiger lassen. Der ander is der reine Apotheker.«

Ohne ein Wort zu erwidern, war Vroni zum Hackstock gegangen und hatte nach dem Beil gegriffen.

Stunde um Stunde hatte sie gearbeitet, von jeder Minute erzwingend, was sie geben konnte. Mit Brettern und Latten flickten sie die zersplitterten Balken des Rostes zusammen, und als die vorrätigen Bretter nicht reichen wollten, zerstückelte Michel das Tor der Scheune. »Wann ich nur 's Häusl halten kann! 's Häusl allein! So bin ich z'frieden und dank dem lieben Herrgott!« Die geflickten Balken des Rostes wurden, statt sie mit Fugen zu verschränken, mit den langen Eisenstiften übereinander genagelt. Michel wußte wohl, daß jede leichte Bewegung des Bodens dieses notdürftige Fachwerk wieder zerstören mußte. »A bißl kunnt's allweil noch helfen!« meinte er. »Wann der Mensch 's Vertrauen verliert, kunnt auch den lieben Herrgott 's Festhalten verdrießen! Hat er uns sei' Güt net merken lassen? Schauts umanand, Kinder! Alle Häusln sind verlassen oder liegen versunken im Boden drin. Und 's unser steht noch allweil!«

Mit Einbruch der Dämmerung hatten sie im Hof die Arbeit am Rost vollendet und konnten im Garten den neuen Verhau beginnen. Es war der vierte, den sie bauten. Als Michel von den Fackeln, damit sie heller brennen möchten, die glühenden Kohlenstümpfe abgestreift hatte, sagte er zu Mathes: »So schön windstill is d' Nacht! Man müßt doch alles hörn aus'm Tal auffi? Und gar nix hör ich nimmer!«

Mathes verstand, was der Vater meinte. Es war ihm selbst schon aufgefallen, daß seit dem Nachmittag das Rauschen des Wassers, das im Tal aus dem Berg hervorströmte, schwächer geklungen hatte. Als er jetzt hinauslauschte in die stille Nacht, hörte er keinen Laut dieses Rauschens mehr.

»Mathes? Was denkst du dazu? Haltst es für an unguts Anzeichen?«

»Na, Vater! Gwiß net!« erwiderte Mathes. Es war die Sorge in ihm erwacht, daß die im Innern des Berges sich stauenden Gewässer einen schweren Erdbruch vorbereiten könnten. Und da wußte er nicht gleich, welchen Trost er dem Vater sagen sollte. »D' Nacht is kühl. Da schmilzt halt droben kein Schnee nimmer, und 's Wasser wird gering. Dös is gut für uns, Vater!«

»Der liebe Gott soll's geben, daß d' recht hast!« Seufzend nahm der Alte die Arbeit wieder auf und schaffte, daß ihm der Schweiß über die furchigen Backen rann.

Als drunten im Tal die Turmuhr die elfte Stunde schlug, sagte Mutter Katherl: »Michel, jetzt müssen wir d' Nachtruh suchen. Kannst ja nimmer weitermachen vor lauter Müdigkeit!«

»A bißl noch, Mutter, bis d' Fackeln ausbrennt haben!«

Eine Viertelstunde brannten die Fackeln noch, dann drohten sie zu erlöschen. »In Gottes Namen«, sagte Michel, »lassen wir's gut sein für heut!«

Sie verwahren die Werkzeuge im Hausflur.

Da quoll ein Knirschen aus dem Grund, als hätte die Erde geseufzt – so, wie ein Müder seufzt, bevor er die Augen zur Ruhe schließen will. Langsam bewegten sich an der Böschung die neu geschlagenen Pfähle und legten sich auf die Seite. Im Hof verschob sich der Balkenrost. Mit trägem Krachen knickten die geflickten Hölzer entzwei, und während an den Mauern der Mörtel niederbröckelte, klang von der Scheune ein dumpfes Ächzen, das Klirren der vom Dache fallenden Schindeln und das Gepolter losgebrochener Bretter. »Jesus!« stammelte Mutter Katherl. Und Michel sagte mit erstickter Stimme: »Da! Jetzt lauft er schon wieder!«

Wortlos hatte Mathes die letzte noch brennende Fackel vom Baum gerissen, an den sie gebunden war, und eilte den anderen voraus über den Hof.

Die ganze Arbeit des Tages war zerstört. Alle Balkenwände der Scheune standen schief, das Dach war verschoben und hatte Lücken bekommen, von der Hälfte der Rückwand waren die Bretter niedergebrochen, und durch die klaffende Öffnung quoll in dicken Wulsten das eingelagerte Heu.

Als sie das gesehen hatten, mußte Mathes die Fackel löschen. Er drückte den qualmenden Stumpf in den Schlamm und zertrat die glühenden Kohlenstücke, damit nicht ein Funke in das dürre Heu geraten könnte. Nun standen sie wortlos in der dunklen Nacht, durch deren reine Luft die Sterne niederleuchteten, groß und mit farbigem Gefunkel. »No ja«, brach Michel mit müder Stimme das bange Schweigen, »jetzt in der Nacht können wir allweil nix mehr machen. Fangen wir halt in der Früh wieder an! Komm, Mutter! Kommts, Kinder! In Gotts Namen, suchen wir unsern müden Schlaf!« Mit schweren Schritten ging er auf das Haus zu. Als er zur Schwelle kam, legte er den Arm um den Hals seines Weibes. »Katherl? Möchtest net lieber mit der Vroni drunt bei der Gvatterin schlafen? Es is gnug, wann der Mathes und ich daheim bleiben!«

»Na Michel, net um d'Welt!« stammelte Mutter Katherl erschrocken. »Ich bleib bei dir!«

Und Vroni nahm seine Hand. »Geh, Vater, wirst mich doch net fortschicken!«

Er drückte die beiden an sich. »Vergelts Gott! D' Sorg hat mich trieben, daß ich's gsagt hab. Aber a Stückl von der Seel hätt's mir grissen, wann ich allein hält bleiben müssen. Jetzt is mir wieder a bißl leichter. Aber grausen tut mir vor dem morgigen Tag! Wann der einzig net hilft, der jetzt noch was ausrichten kann, so kunnt's morgen schlecht ausschaun um unser Häusl. Unsere müden Händ richten nix mehr aus.«

»Ja«, sagte Mutter Katherl kleinlaut, »aber beten können wir noch.«

»Hast recht, Mutter! Reden wir a bißl mit ihm! Oder beten wir lieber d' Litanei zur guten Gottesmutter! Die hat an Einfluß im Himmel. Von der laßt er sich was sagen, wann wir s' in der richtigen Frömmigkeit ansprechen um ihr mächtige Fürbitt.«

Während Vroni und Mutter Katherl in den Hausflur traten, ging Mathes mit dem Vater zum Stall; sie lösten die beiden Ziegen von den Stricken, nahmen der Kuh die Kette ab, öffneten das Gitter des Hühnerkäfigs und banden die Stalltür offen an die Mauer, damit die Tiere in drohender Gefahr einen Weg zur Rettung hätten.

In der Stube, in der die Hängelampe brannte, fanden sie den Tisch bestellt. »Geh, Michel«, sagte Mutter Katherl, »tu noch a Bröserl essen! Seit Mittag hast kein' Bissen nimmer ghabt. Und 's lange Beten strengt ein' auch noch a bißl an.«

Sie bekreuzten sich und nahmen am Tisch Platz. Schweigend tranken sie die Milch, kauten das schwarze Brot und schnitten kleine Stücke von dem Rauchfleisch, das Mutter Katherl aus dem Kamin geholt hatte. Während Michel aß, sah er in der Stube umher, prüfte sorgenvollen Blickes die Decke und strich mit der Hand ein paarmal über die weiße Mauer.

Die Mahlzeit währte nicht lang.

»So!« Michel erhob sich. »Fangen wir an!« Seufzend drückte er die steifen Knie zu Boden und faltete über dem Tisch die Hände. Sein Weib kniete neben ihm; hinter ihnen, mitten in der Stube, knieten ihre Kinder. Michel machte mit schwerer Hand das Zeichen des Kreuzes und betete vor: »Herr, erbarme dich unser!«

»Erbarme dich unser!« fielen die andern ein; inbrünstige Andacht sprach aus dem bebenden Klang ihrer Stimmen.

»Christus, erbarme dich unser!«

»Erbarme dich unser!«

Gott Vater vom Himmel, Gott Sohn, Erlöser der Welt, Gott Heiliger Geist!«

»Erhöre uns!«

»Du heilige Maria!«

»Bitt für uns!«

»Heilige Gottesgebärerin!«

»Bitt für uns!«

»O Mutter Christi – du gute, du!«

»Bitt für uns!«

So beteten sie weiter, Ruf um Ruf, in heißer Andacht, in zitterndem Hoffen. Als Michel zu der Stelle kam: »Du Pforte des Himmels, du Morgenstern!« – da versagte ihm die Stimme; ein dumpfes Dröhnen tönte durch die Nacht und rollte über das Haus. Es klang, als hätte man auf der Höhe des Berges den Schuß einer riesigen Kanone gelöst.

Mathes erhob sich, während Mutter Katherl sich erbleichend an den Arm ihres Mannes klammerte.

»Sorg dich net! Na! Tu dich nur gar net sorgen!« stammelte Michel. »Dös macht uns nix. Dös muß ganz droben gwesen sein in der Höh. Der Boden hat sich net grührt bei uns. Kein bißl net hat 's Häusl zittert. Dös hätt ich spüren müssen. Da hab ich a Gfühl dafür, a feins. Tu dich net sorgen Mutter! Beten wir weiter! Nur fest einfallen, Kinder! Recht fest! Du Pforte des Himmels, du Morgenstern!«

»O bitt für uns!« fielen die anderen ein, und ihre Stimmen klangen wie ein vereinter Schrei um Hilfe.

»Du Heil der Kranken!«

»Bitt für uns!«

»Du Trösterin der Betrübten!«

»Bitt für uns!«

»Geh, sei doch so gut und tu für uns a bißl, grad a bißl ebbes, du Hilfe der Christen, du!«

»O bitt für uns!« riefen die Mutter und Mathes, während Vroni sich zitternd erhob. »Vater!« stammelte sie. »Hörst dös gspassige Sausen net, droben in der Höh? Kann's denn a Wetter sein, dös aufzieht?«

»Tu beten, Madl! Tu net ums Wetter fragen! A Wetter tut uns nix.« Michel erhob die verschlungenen Hände gegen die Decke. »Du Königin der Engel!«

»Bitt für uns!«

»Königin der Propheten!«

»O bitt für uns!«

Wie ein Frühlingssturm, der mit Toben und Brausen über die Berge fährt, so klang es durch die Nacht, von der Höhe der fernen Almen herunter, immer deutlicher, immer näher dem bedrohten Haus.

»O Königin der Apostel!« betete Michel mit versagender Stimme, zitternd an allen müden Gliedern. »Königin der Märtyrer!«

»O bitt für uns!«

»Du Königin der Jungfrauen! Königin aller Heiligen!«

»Bitt für uns!« fielen Vroni und die Mutter ein, während Mathes aufsprang, vor Erregung bleich. »Vater! Hörst es net?« Mit beiden Händen umklammerte er den Arm des Alten. »Dös kann kein Wetter net sein! So tut kein Sturm! Dös tut ja, als ob's a Wasser wär!«

»Wasser?« stotterte Michel. Dann war lautloses Schweigen in der Stube. Mit verhaltenem Atem lauschten sie alle. Da hörten sie es deutlich, dieses dumpfe Strömen und Rauschen, das über die Gehänge des laufenden Berges herunterkam. Jetzt klang es schon in der Nähe, jetzt war's, als hätt es den Garten erreicht, jetzt ging's mit dem Tosen eines mächtigen Wasserfalles zur Linken und Rechten des kleinen Hauses vorüber und jagte dem Tal entgegen. Und mitten in diesem dumpfen Brausen hörte man, wie freundliches Kinderplaudern, das helle Glucksen und Geplätscher der kleinen Wellen, die gegen den Sockel der Mauer schlugen.

»Heilige Mutter!« schrie Michel wie von Sinnen, »'s Wasser is da! 's Wasser! 's heilige Wasser!« Nach Atem ringend, fuchtelte er mit den Armen, »'s Wasser is gstiegen aus der Tief! 's Wasser is wieder am Licht! 's Wasser hat uns gholfen und die heilige Mutter!« Seinen Buben beiseite stoßend, rannte er zur Tür und sprang hinaus in die von rauschendem Lärm erfüllte Nacht.

Als ihm Mathes folgte und Vroni und die Mutter ihm nachliefen, hörten sie ihn bald im Hof und bald im Garten schreien: »Schauts doch dös Wasser an! Dös schöne Wasser! Dös viele Wasser! Mein Lebtag hab ich so viel Wasser noch net gsehen!«

Rauschende Bäche, deren tanzender Schaum auch in der dunklen Nacht noch weißlich schimmerte, sprudelten von allen Seiten über die steile Böschung nieder und überschwemmten fußhoch den ganzen Hofraum, während die größeren Massen des aus dem Innern des Berges hervorgebrochenen Wassers brausend ihren Weg durch die das Gehöft begrenzenden Mulden und Gräben nahmen.

»Michel! Michel! Wo bist denn?« rief Mutter Katherl. Und Mathes und Vroni schrien: »Vater! So komm doch!«

Bis zu den Hüften von Wasser triefend, lachend, kam der Alte aus einem der Sturzbäche hervorgestiegen und ließ sich zur Haustür führen. Da machte er seine Hände wieder frei. »Mutter! Kinder! Jetzt können wir aufschnaufen! Dös hat die Kammissoni gsagt: Wann 's Wasser wieder steigt, so muß er sein Laufen einstellen, der narrische Berg! Hat gmeint, er kann treiben, was er mag! Jetzt hat er eine gfunden, die noch a bißl stärker is als er! Katherl, Kinder, kommts her!« Die Freudentränen erstickten seine Stimme fast. »Jetzt sagen wir der Gottesmutter unser Vergelts Gott! Recht a fests!«

Sie wollten ihn in die Stube ziehen, aber er tat es nicht anders: Inmitten des den Hofraum überschwemmenden Wassers warf er sich auf die Knie und lallte das Salve Regina, in dessen Worte er das Gestammel seines eigenen Dankes mischte: »Gegrüßt seist du, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, des Lebens Süßigkeit und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Schau, tausendmal sag ich dir Vergelts Gott, hunderttausendmal, daß dich a bißl angnommen hast um dein' alten Michel und sein Häusl! Zu dir schreien wir Kinder Evas, zu dir seufzen wir Trauernde und Weinende in diesem Tal der Zähren! Und schau, ich will dir's danken mein Leben lang! Und so oft ich's auf meine alten Täg noch anschau, mein Häusl, mein liebs, will ich sagen: Dös hat uns d' Himmelsmutter gschenkt! Du unsere mächtige Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen auf uns! No freilich hast deine gütigen Augen gwendt auf uns! Und schau, vergelten will ich dir's nach meiner schwachen Kraft! An die hundert Markln hab ich mir gspart. Da behalt ich kein' Pfennig davon. Dein heiligs Bild will ich gwanden lassen! Und wächserne Kerzln zünd ich dir an, Tag für Tag eins, bis sie sich jahren tut, die heutige Freudennacht! O du gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria!« Taumelnd erhob er sich, umhalste sein Weib und seine Kinder, riß sich los von ihnen und watete wieder in einen der schäumenden Bäche hinein. »Dös Wasser schauts an, dös schöne Wasser!« Lachend wie ein Berauschter griff er mit beiden Armen in das Gesprudel, als hätte er kein köstlicheres Gut an sein Herz zu drücken als diese tanzenden Wellen.

In Sorge jammerte Mutter Katherl über diese ›Narretei‹, und Mathes mußte den Vater mit Gewalt aus dem kalten Sturzbad herausziehen; fast hätten die schießenden Wellen den von Mühsal und Freude Entkräfteten zu Boden geworfen. Sie führten ihn in die Stube, und Vroni lief, um trockenes Gewand für ihn zu holen. Als er umgekleidet war, merkte er schon die Erkältung, die er sich in dem eisigen Schneewasser geholt hatte. Mutter Katherl schlug vor Schreck die Hände zusammen. »No also, schau, jetzt hast dich verkühlt!«

»Macht nix, Mutter!« wollte er sagen. Aber da mußte er niesen, gleich ein paarmal. Und als es vorüber war, lachte er: »Helf Gott, daß 's wahr ist!«

 


 << zurück weiter >>