Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

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9

In der Simmerau waren die Eisenschlaudern an die zersprungene Mauer gesetzt, die Wandnarben waren mit Zement überstrichen, und noch in der Dämmerung hatte Mathes die ganze Rückseite des Hauses frisch geweißt, damit der Vater am Morgen wieder eine tadellose Mauer sehen möchte.

Vor dem Schlafengehen blieben sie noch eine Weile unter der Haustür stehen und lauschten dem Trost, den ihnen der kalte Wind in die Ohren pfiff. »Vater!« sagte Mathes, »schau nur, wie hinterm Nebel die schweren Wolken nachrucken! Dö tragen Schnee. Paß auf! Dö bringen über zwei, drei Tag den richtigen Winter. Und d' Ruh für uns.«

»D' Ruh für uns!« Michel, die dürren Hände faltend, sah zum Himmel hinauf. Als fiele ihm ein besseres Gebet nicht ein, wiederholte er ein paarmal: »D' Ruh für uns! D' Ruh für uns!« Er bekreuzte Gesicht und Brust. »Heut schlaf ich a bißl besser!«

Sie traten in den Flur. Hier, in dem dunklen Raum, in dem sich der Ausdruck eines Gesichtes nicht mehr unterscheiden ließ, fragte Mathes unvermittelt: »Du? Vater? Hast amal ebbes reden hören, als ob der Purtscheller a Gschäft mit'm Juden hätt?«

»Warum fragst?«

»Weil ich den Rufel vor'm Purtschellerhof auf der Hausbank hab sitzen sehen.«

»Den Rufel? Ah na! Da hat's kei' Gfahr net. Der Rufel laßt sich auf schieche Sachen net ein. An Holzhandel, mein' ich, gilt's halt. Drüben im Wald is viel Holz gfallen. Dös möcht halt der Herr Purtscheller gern verkaufen, denk ich mir. Aber anbringen wird er's hart.«

Mathes trat in die Stube, ohne ein Wort zu erwidern. Dann war's in dem kleinen Hause still.

Nur Vroni war noch auf und geisterte beim flackernden Schein eines Talglichts in ihrer Kammer. Zuweilen fuhr ein kalter Windstoß durch das offene Fenster und machte die kleine Flamme zucken. Mauerbrocken waren auf den Dielen zerstreut, neben einer Mörtelkufe lagen Spitzhammer und Kelle, und an der Wand sah man noch die offenen Löcher, in welche die Schraubenmuttern der eisernen Schlaudern versenkt waren. Der Tag hatte nicht mehr ausgereicht, um auch auf der Innenseite der Mauer den Schaden völlig auszubessern und die kleine Kammer wieder in wohnliche Ordnung zu bringen. Deshalb sollte Vroni drüben in der Stube schlafen. Um Auszug zu halten, wickelte sie eine Lodendecke mit dem Unterbett und einem Kissen zu einem Pack zusammen und nahm ein Leintuch aus dem blau gestrichenen Schrank, dessen Türen mit zwei flammenden Herzen bemalt waren. Lang betrachtete sie die breiten roten Dinger, als gäbe ihr dieses brennende Herzenpaar zu denken. Eine harte Furche war zwischen Vronis Brauen gesenkt. Schließlich hob sie gar die Hand und strich über die Bretter, als wollte sie versuchen, ob die ärgerliche Malerei sich nicht fortwischen ließe. Das war gute, dauerhafte Farbe. In den fünfunddreißig Jahren, seit dieser Kasten neu und frisch lackiert auf Mutter Katherls Hochzeitswagen seinen Einzug in der Simmerau gehalten hatte, waren die zwei roten Herzen kaum merklich abgeblaßt. »So was Dumms! Söllene Sachen auf an Kasten malen!« Ein leises Klatschen machte sie aufblicken. Vom Garten herein war eine weiße Katze auf das Fensterbrett gesprungen. »So, Miezerl? Kommst heim?«

Leis miauend sprang die Katze auf die Diele nieder, trippelte näher und ließ sich in Behaglichkeit den Rücken krauen; dann sprang sie auf das Bett, machte sich's bequem und begann die Pfoten zu lecken.

Wenn sich die Katze putzt, kommt Besuch. An dieses Sprichwort dachte Vroni, schien aber von seiner Weisheit nicht sonderlich erbaut zu sein. »Ich dank schön! Dös ging mir grad noch ab!« murrte sie. »Ja, Miez, tu mein Stüberl hüten!« Sie drückte am Fenster die Scheiben zu, nahm seufzend das Bettzeug auf den Rücken und verließ mit dem Licht die Kammer. In der Wohnstube machte sie auf den Dielen ihr Lager zurecht, blies das Licht aus und legte sich in den Kleidern zur Ruhe; nur das Mieder nestelte sie auf.

»Gut Nacht, Mathes!« »Gut Nacht!« klang von der Ofenbank die Stimme des Bruders. Eine Weile war Stille in dem finsteren Raum; dann sagte Mathes leise: »Du!«

»Was?«

»Heut hat er mir gfallen.«

»Wer?«

»Der Schorschl.«

»So?« Vroni bearbeitete mit der Faust das widerspenstige Kissen. »Laß mich lieber schlafen! Um so ein', wie der is, spar ich mir den Schlaf net ab. Warum sagst es denn mir grad?«

»No, weil neulich gmeint hast, um den is schad!«

Vroni schwieg und wickelte sich fester in die Decke.

»Ja! Gfallen hat er mir!« wiederholte Mathes nach kurzem Schweigen. »Gschanzt hat er wie a Roß. Wann er ernstlich mögen tät, der Schorschl, kunnt er sich bald wieder in d' Höh rappeln. D' Schmiederei versteht er wie net leicht einer. Gut macht er sei' Sach. Und billig. Fünf Mark hat er verlangt für d' Schlaudern. Jeder andre hätt acht oder zehn Mark begehrt.«

»Natürlich!« fiel Vroni mit gereizter Stimme ein. »Wann der net 's Geld aussischmeißen kann, is ihm net wohl.«

»Aber geh! Wirst es ihm doch net fürwerfen, daß er's für uns so billig macht.«

»Wir brauchen nix gschenkt. Von dem! Hast ihn doch gleich zahlt?«

»Na. Ich hab kein Geld net bei mir ghabt.«

»Was?« Vroni richtete sich auf. »Schuldig bist blieben? Bei dem? No wart! Gleich morgen zahl ich die fünf Mark, gleich morgen, wann ich abi komm, 's Brot holen. Gleich morgen! Gleich morgen!«

»So geh! Dem Schorschl pressiert's doch net.«

»Aber mir!«

Da wurde die Kammertür geöffnet, und Mutter Katherls flüsternde Stimme ließ sich hören: »Kinder, seids doch a bißl stad! Der Vater hat so an guten Schlaf gfunden. Tuts ihn net aufwecken!« Lautlos schloß sie die Tür wieder.

In der Stube war's eine Weile still; dann schalt Vroni mit kaum vernehmbarem Gelispel: »Da hast es jetzt! Daß den Vater noch um sein' guten Schlaf bringst! Mit dem da drunt!« Es pumperte auf dem Stubenboden. So unwillig hatte Vroni sich auf die Seite geworfen.

Ein paar schweigsame Minuten vergingen; dann zischelte Mathes: »Vroni!« Keine Antwort kam. Aber Mathes mußte ihr das noch sagen: »Heut hab ich 's Linerl gsehen.«

»Dös hätt dir dein Schutzengel sparen können!«

Nun lagen sie stumm, jedes mit seiner nagenden Qual im Herzen. Aber die schwere Arbeit des Tages hatte sie zu müde gemacht, als daß sich der Schlummer von ihren Augen hätte verscheuchen lassen.

Draußen fuhr der kalte Nachtwind mit eintönigem Rascheln durch das welke Laub der Apfelbäume und über die Mauern. Tiefe Finsternis war um das kleine Haus. In so dichter Menge deckten die Wolken schon den Himmel, daß der Mond mit keinem Zwielichtschein die schwere Fülle des Gewölks durchdringen konnte.

In der schwermütigen, nur vom Wehen des Windes unterbrochenen Nachtstille ließ sich ein Geräusch vernehmen, das Kollern eines Steines. Dann bei der Böschung ein Rutschen, ein Knacken von Ästen und Geklapper, als wäre Blech auf Holz gefallen.

»Sakra! Die Trompeten!« Ein schwarzer Klumpen, der tastende Arme zu haben schien, bewegte sich auf der Erde hin und her. »Ah, da liegt s' ja!« Jetzt wieder Stille. Nach einer Weile konnte man schleichende Tritte hören. Ein dicker, schwarzer Strich, der drei graue Flecke – ein Gesicht und zwei Hände – an sich hatte, bewegte sich von einem Baumstamm zum andern, scharf in der Richtung gegen ein kleines Kammerfenster. Es war eine Arbeit, in solchem Dunkel das Fenster lautlos zu erreichen. Schorschl atmete erleichtert auf, als er bei der Mauer stand. Er schien die Absicht zu haben, hier längere Zeit zu rasten, richtete sich häuslich ein, trug eine Holzkufe, an die er mit den Knien angerumpelt war, dicht neben das Fenster, stülpte sie um, ließ sich bequem darauf nieder und legte die Trompete hinter sich. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, im Schoß die Daumen drehend, wartete er, um der Ruhe im Hause völlig sicher zu sein. Endlich nahm er sich das Herz und klopfte ans Fenster, ganz leise. In der Kammer rührte sich nichts. Er klopfte wieder, ein drittes und viertes Mal. »Herrgott! Hat dö an Schlaf!«

Wieder, wie damals bei jenem ersten Besuch, wollte Schorschl das Fenster ein wenig aus dem Rahmen drücken, um durch die Fuge hineinzuflüstern. »Vronerl? Hörst mich net?« Nein, sie hörte nicht. Er drückte fester. Da gab der Fensterflügel nach und legte sich klirrend einwärts gegen die Mauer. Im ersten Augenblick erschrak Schorschl. Dann kicherte seine vergnügte Seele: »Jetzt muß sie's aber doch ghört haben!« Er lauschte. Richtig! Aus der Tiefe der Kammer hörte er ein mattes, unbestimmbares Geräusch. Sehen konnte er nichts. Das Innere des Stübchens lag wie eine schwarze Grube vor ihm. Aber er wußte: Dort hinten in der Ecke stand das Bett. Genau aus dieser Richtung ließ das Geräusch sich vernehmen. Ein bißchen wunderlich war es anzuhören, fast komisch, als hätte das Mädel einen Leintuchzipfel in der Hand und klopfte damit gleichmäßig und sacht auf das Kissen.

»Vronerl!« flüsterte Schorschl mit seiner zärtlichsten Stimme. »Geh, komm a bißl her ans Fenster! Ich muß dir ebbes sagen. Mein Herz, mein Glück und mein Leben hängt dran. Schau, ich will nix Unrechts net haben! Bloß a guts Wörtl sollst mir sagen, dös mir zum Bravsein den richtigen Mut macht. Geh, Vronerl, komm her!«

Vronerl kam nicht. Wohl schwieg jetzt das merkwürdige Klopfen. Dafür schien die stumme Widerspenstige auf einen anderen Zeitvertreib geraten zu sein, sie zupfte mit dan Nägeln am Leintuch.

»Vronerl! Schau, sei gscheit! Komm her a bißl!«

Vroni mußte das Gesicht in die Polster gedrückt haben, um ihr Kichern zu ersticken. So vermutete Schorschl. Anders konnte er sich dieses neue, sonderbare Geräusch nicht deuten, es hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit jenem Kudern, das ein Hündchen oder ein anderes Tier verursacht, wenn es sein Fell schüttelt.

»Aber Vroni! Geh! Auslachen mußt mich net! Schau, mir is blutig ernst!« Seine Stimme zitterte. »Gwiß wahr, Vronerl, dein Wörtl von selbigsmal: ›Du bist a Lump!‹, dös hat mich packt, wie der Teufel die arme Seel!«

Er war im Zug und redete weiter mit sprudelndem Geflüster. Alle Gedanken der letzten Tage schilderte er mit offenherziger Wahrheit; beichtete seine Schulden, aber auch seine guten und ehrlichen Vorsätze; in zärtlichem Gestammel bekannte er der schweigsam Lauschenden, wie es in ihm aufgedämmert wäre, daß er sie liebhätte. »Schau, Vronerl, ich weiß, daß ich dich heut noch net wert bin! Und ehrlich, 's Bravsein wird mir hart. Aber du kunntst mein Schutzengel sein. Wann du mir a bißl Hoffnung geben tätst, dös kunnt an andern aus mir machen! An ganz andern! Und kein' Schlechten net! Schau, tu mich a bißl aufrichten! Geh, Vronerl, gib mir d' Hand!«

Schorschl lauschte. Aus der finsteren Kammer ließ sich kein Laut vernehmen. Glühend stieg ihm das Blut zu Kopf. »Vroni! Wann d' jetzt kein Wörtl net findst, nacher rührt sich nix in dir für'n Schorschl!« Da hörte er jenes merkwürdige Klopfen wieder. »Du! Mach dich net lustig über mich!« Er dämpfte die lautgewordene Stimme. »Geh, Vronerl, komm her!« Seine Stimme hob sich wieder. »Wann net herkommst auf der Stell, meiner Seel, so spring ich eini!« Er machte auch gleich den Versuch, diese Drohung auszuführen, stieß aber mit der Stirne recht unsanft an eine Eisenstange des Gitters. Zur Mehrung seines Ingrimmes mußte er sich auch noch erinnern, daß er selbst vor einigen Jahren dieses verwünschte Fenstergitter geschmiedet hatte. »Natürlich! Dös hat man von der guten Arbeit!« Er faßte die Stange und rüttelte. »Vroni! Spiel dich net z'lang mit mir! Oder ich geh! Und mit'm Schorschl is aus und gar! Und du hast ihn aufm Gwissen!«

Keine Antwort.

»Recht so! Is schon gut!« Schorschl tappte nach seiner Trompete. »Mich siehst nimmer im Leben! Pfüet dich Gott!« Da hielt es ihn wieder fest. Er meinte, in der Kammer einen leisen Klapp gehört zu haben, als wäre jemand mit nackten Füßen auf die Dielen gesprungen. »Sie kommt!« Und weil er im gleichen Augenblick hinter dem zweiten, noch geschlossenen Fensterflügel etwas Weißgraues über dem Fensterbrett erscheinen sah, sprang er flink zur Mauer zurück. »Vronerl!« jauchzte er in erstickter Freude. Hurtig griff seine Hand in das Fenster, um zu haschen, was er für den weißen Ellbogen des Mädels hielt.

»Himmel sakra!«

Mit diesem erschrockenen Ausruf, der ihm zugleich als Schmerzensschrei diente, zog er die übel zugerichtete Hand wieder zurück. Eine Weile stand er sprachlos, bis es in Zorn aus ihm herausbrach: »Nobel! Dös muß ich sagen! Da schau her!« Er streckte die zerkratzte Hand gegen das Fenster, 's Blut lauft mir über d' Finger. Wie du, so kratzt net einmal die wildeste Holzkatz.«

»Miaaau!« klang es aus der Tiefe der finsteren Kammer.

Dieser Spott war mehr, als Schorschl ertragen konnte. »Pfüet dich Gott, du! Morgen kannst mich suchen lassen im tiefsten Graben!« Jetzt brauchte er kein Geräusch mehr zu scheuen. Mit plumpsenden Schritten stolperte er über den Hof gegen die Böschung. Als er droben auf der Wiese stand, blickte er zurück nach dem stillen Haus und lachte wütend vor sich hin. »Ins Wasser springen? Wegen so einer! Ah na! Jetzt bleib ich erst recht am leben! Grad mit Fleiß! Und so was von lumpen, wie ich jetzt anfang, so was hat's noch nie net geben! Und anschauen soll sie's müssen! Und soll sich sagen müssen alle Tag: ›Den hab ich aufm Gwissen!‹« Damit sie auch gleich wüßte, welch einen edlen Vorsatz er in seinem Rachedurst gefaßt hätte, setzte er die Trompete an den Mund und blies in die schwarze Nacht hinaus:

»O du lieber Augustin,
's Geld is hin,
Alls is hin!
Hätt ich nur 's Mensch beim Kragen,
Wollt ich noch gar nichts sagen –«

Mit einem grellen Mißton brach die Weise ab.

»Was? So an Wunsch sollt ich noch haben? Ah nah! Da muß ich ihr schon was anders blasen!«

Wieder setzte er die Trompete an. Schmetternd klang es durch die Finsternis:

»Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt juckt juckt,
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!

Hat hunderttausend Ta-aler
In einer Nacht verjuckt juckt juckt,
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!
Tütüüüh!«

Das war das schönste hohe C, welches Schorschl noch je geblasen hatte. »So! Und jetzt kann meintwegen alles hin sein!« Mit grimmigem Schwung schleuderte er die Trompete in die Nacht hinaus. Sie flog so weit, daß er sie gar nicht fallen hörte. Aber etwas anderes vernahm er, das Klirren eines Fensters und Mutter Katherls erregte Stimme: »So was is aber doch a bißl gar z'arg! Müde Leut aus der Ruh aufschrecken! Du Tagdieb, du gottsträflicher!«

»Tagdieb? Was, Tagdieb?« schrie Schorschl mit zornigem Lachen zurück. »Es is ja net Tag, es is ja Nacht! Und dein Katzerl kann dir von eim andern gstohlen werden! Vor mir hat's Ruh!« Die Fäuste in die Hosentaschen bohrend, stürmte er über die Wiesen hinauf, ohne sich weiter um die zweifelhaften Schmeicheleien zu kümmern, welche Mutter Katherl und der aus seinem Schlummer aufgestörte Simmerauer hinter ihm herriefen.

Wohin er wollte, wußte er selber nicht; er stolperte immer bergauf, bis er kopfüber in eine Erdschrunde des laufenden Berges purzelte. Das brachte ihn zu klarer Besinnung, und nach dem verrauchten Zorn befiel ihn eine namenlose Traurigkeit. Dazu schmerzten ihn alle Glieder von dem harten Fall. Mühsam schleppte er sich weiter bis zum Purtschellerwald. Hier wußte er eine Holzerhütte. Bei solcher Finsternis war sie schwer zu finden. Es setzte Püffe und Beulen an Ellbogen und Knien ab, bis er endlich unter dem niederen Rindendach geborgen war. Seufzend streckte er sich auf die harte Holzpritsche nieder und verschlang die Hände unter dem Nacken. Alle paar Minuten hörte er ein dumpfes Krachen im Wald. Dabei hatte er den christlichen Gedanken: ›Wenn nur der Berg heut nacht den ganzen Wald einschlucken möcht! Und mich als Pfefferkörndl aufm Butterbrot!‹

Ein paar Stunden lag er so. Dann schlief er ein, hungrig und fröstelnd. Als er erwachte, war es heller Tag. Draußen vor der Hütte hörte Schorschl im Erwachen ein dumpfes Dröhnen, als wäre eine Fichte gefallen. Von der Kälte wie gelähmt, lag er auf der harten Pritsche. Mühsam rappelte er sich auf und brauchte lange, bis er seiner starren Glieder Herr wurde. Ziellos stieg er bergan. Was er wollte, war ihm unklar. Nur den Tag totschlagen, alles, nur nicht arbeiten! Aber da machte er eine sonderbare Erfahrung. Gestern hatte ihn die ›Lüftigkeit‹ gekitzelt, jetzt quälte ihn eine ihm völlig neue Sehnsucht nach der Arbeit. Aber um keinen Preis der Welt hätte er dieser Sehnsucht nachgegeben. Wie ›die da drunten‹ lachen würde, wenn sie aus der Schmiede herauf die Hammerschläge vernähme! Nein! Ein Lump sein, ein ärgerer noch als jemals im Leben! Um Frühstück zu halten, setzte er sich in die Heidelbeerbüsche und speiste so reichlich von den überreifen Beeren, daß er Bauchweh und ein schwarzes Maul bekam. Dabei studierte er, welche Streiche er ausführen wolle, um das Dorf in Alarm zu bringen. Es fielen ihm Narreteien ein, so ausgesucht verrückt, daß er selber lachen mußte. Das klang aber nicht sehr fröhlich. Als er weiter bergan stieg, begann er mit kreischender Stimme zu singen, konnte sich aber doch nicht in die richtige Lumpenlaune hineinjodeln. Die Schuld trug nur der abscheuliche Tag. Echter Galgenhumor pflegt sich nur einzustellen, wenn die Sonne scheint. Die spielte heut Verstecken mit dem Daxen-Schorschl. Alles war kalt und grau. Um sich heiß zu machen, kletterte Schorschl über eine Felswand hinauf und suchte den gefährlichsten Niederstieg. Endlich fiel ihm ein, daß Samstag wäre. Da gab's auf den Abend lustige Gesellschaft im Wirtshaus drunten! »Sakra! Da will ich aufhauen, daß der Tisch kracht!« Mit langen Sprüngen ging's über Stock und Stein, bis hinunter zur Simmerau.

Oberhalb der Böschung duckte er sich hinter das Heckengestrüpp. Er wollte freilich mit ›der da drunten‹ sein Leben lang nichts mehr zu schaffen haben. Aber wenn er mit ihren Eltern Mitleid hatte, das war was anderes! Erleichtert atmete er auf, als er die Mauern in bester Ordnung fand. Dabei hörte er das Schwatzen der zwei Alten, die unter der Böschung standen und die neu eingerammten Balken mit Ruten durchflochten. Ein merkwürdiger Zufall: Die beiden sprachen just vom Schorschl, und sie redeten nicht viel Gutes über den Daxenschmied. Eben erklärte Mutter Katherl: »Hast recht! So ein' gibt's nimmer in der ganzen Gegend! So an narrischen Lüftikus, wie der einer is!«

»Ja, ja!« nickte Michel. »Aber seine verruckten Streich soll er machen, wo er will, nur net bei mir. Dem will ich a Wörtl sagen. Dem!«

»So?« rief Schorschl über die Böschung hinunter. »Sag mir's halt! Da hast mich gleich!«

Mutter Katherl stieß ihren Mann, um ihn zu besonnener Ruhe zu mahnen, mit dem Ellbogen in die Seite. Michel schien eines Appells zum Frieden nicht zu bedürfen; ›der da droben‹ war Luft für ihn.

Der Daxenschmied spähte über Hof und Garten. Von Vroni war nichts zu sehen, nichts zu hören. Und da konnte Schorschl die spöttische Frage nicht verschlucken: »No? Wo is denn enker liebs Katzerl?«

Die weiße Katze lag schnurrend auf der Hausbank und schien der Meinung zu sein, daß diese Frage nicht an ihre Adresse gerichtet war. Die gleiche Ansicht teilte der alte Michel. »Sei froh, daß d' Vroni net daheim is! Da kunntst ebbes hören! Du!«

Als der Daxen-Schorschl vernahm, daß Vroni nicht daheim war, schien er sich seiner Absicht, möglichst flink im Wirtshaus einzutreffen, wieder zu erinnern. Wortlos trollte er am Rand der Böschung hin und kam in immer rascheren Lauf. Solch ein abschüssiger Weg zieht in den Füßen.

Den nächtlichen Ruhestörer ganz ohne Verweis zu entlassen, das schien sich mit Michels Groll nicht zu vertragen. »Gelt, du! Wann d' wieder amal die müden Leut aufschrecken willst aus'm Schlaf, so blas a paar feinere Liedln! Schelmenstückln is man net gwöhnt bei uns da heroben.«

»Ja, is recht!« rief Schorschl über die Schulter. »'s nächste Mal blas ich: Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab!« Er hopste über die von Erdrissen durchklüfteten Bühel hinunter. Dazu sang er mit hoher Stimme:

»Und 's Lumpen is lustig,
Und 's Lumpen is schön,
Und a Lump, der laßt d' Welt
Schön kugelrund gehn!

Und d' Weltkugel draht sich
Im Tag amal um,
So a schläfriger Schneckentrab
Wär mir schon z'dumm!

A richtiger Loder,
Kreuzteufel juheh,
Der draht im Tag 's Unterste
Zwanzgmal in d' Höh!«

So sang er ein Schnaderhüpfl ums andere, bis er das Dorf erreicht hatte. In der Nähe des Marktplatzes begegnete er einem Trupp Burschen, die Feierabend gemacht hatten und in breiter, fast die ganze Straße füllender Marschlinie ihre qualmenden Pfeifen spazieren trugen. ›Wart, da laßt sich gleich a bißl ebbes machen!‹ dachte Schorsch, stellte sich in rauflustige Positur und ließ die Burschen herankommen. »Weg frei!«

»Ja, ja, ja!« sagte einer der Burschen gutmütig, während die andern lachten. Und die Linie teilte sich.

»Weiter ausanand!« schrie Schorschl. »Dös Gaßl is mir z'klein. Ich brauch a größers.«

»Aber Schorschl? Was hast denn?« fragte einer der Burschen. Ein anderer sagte: »No schau, hast doch Platz, bist ja kein Leiterwagen!« Und ein dritter rief: »Der Schorschl is narrisch worden und bildt sich ein, er is die Bäckenmahm!«

»Bäckenmahm? Was? Bäckenmahm?« Das Gesicht des Daxenschmiedes strahlte vor Vergnügen. Jetzt hatte er einen, den er packen konnte. »Wart, dir will ich's austreiben, daß d' mir die Bäckenmahm beleidigst!« Er stülpte die Ärmel auf. »Komm her, du -« Schorschl verstummte, hatte plötzlich alles um sich her vergessen und starrte auf die Tür des Krämerhauses.

Lachend gingen die Burschen davon. Nur der Angerempelte blieb noch stehen, um nicht als Ausreißer zu erscheinen. Einer seiner Kameraden zog ihn am Arm mit sich fort: »Geh, laß gut sein! Dem Schorschl muß ebbes übers Leberl glaufen sein.«

Der Daxenschmied schien nicht zu merken, daß er allein blieb. Seine funkelnden Augen hingen an Vroni, die aus dem Krämerhaus getreten war. Sie trug auf den Armen drei große Brotlaibe, die ihr bis ans Kinn reichten und in die blaue Schürze gewickelt waren. Als sie den Daxenschorschl gewahrte, bog sie auf den Fußweg ein, der von der Straße durch einen mit rinnendem Wasser angefüllten Graben und eine Pappelreihe getrennt war.

Schorschl lachte. Er sprang über den Graben, blieb auf dem Fußweg stehen, legte die Hände hinter den Rücken und wartete.

Vroni tat, als hätte sie dieses Manöver nicht bemerkt. Erst als sie dicht vor Schorschl stand und nicht mehr weiter konnte, blickte sie auf. »Grüß Gott!« sagte sie kalt. Das klang von oben herab, obwohl sie um einen halben Kopf kleiner war als der Daxenschmied, »Gut, daß d' mir grad in Weg laufst!«

Schorschl schwieg und schaukelte sich auf den Fersen.

»Ich hätt dich heut schon in deiner Schmieden aufsuchen sollen«, sagte Vroni, »aber ich hab mir gleich denkt, daß man dich net daheim bei der Arbeit trifft.«

Schorschl machte eine tiefe Verbeugung.

»Drum hab ich dir die fünf Mark, die mein Bruder hat schulden bleiben müssen, zur Kramerin einiglegt.« Es zuckte spöttisch um ihren Mund. »Ich hab mich schon bsonnen, ob ich dir net zehn Pfennig dazulegen soll. Hast ja heut nacht bei uns droben Musi gmacht und hast aufs Absammeln vergessen.«

Dieses Wort trieb dem Daxen-Schorschl das Blut ins Gesicht; aber er schwieg noch immer.

Vroni wurde ungeduldig. »Jetzt geh aus'm Weg! Dir liegt net viel an der Zeit. Aber mir!«

Schorschl rührte sich nicht vom Fleck; nur die Sprache fand er. »Vergelts Gott, Katzerl!« Er hob die zerkratzte Hand bis dicht vor Vronis Augen. »Feine Nagerln hast! Du kannst an Toten wieder aus'm Grab aussikratzen!«

Vroni furchte die Brauen. »So an unsinnigs Gred!«

»Was? Leugnen willst auch noch?« Diese Erkenntnis brachte den Daxen-Schorschl ans Kochen. »Wann eine kratzt, no ja, in Gotts Namen! Aber lügen braucht s' deswegen net!«

»Du! Ich hab im Leben noch nie net glogen. Deintwegen tät ich's am allerwenigsten. Gib mein' Weg frei, sag ich zum letztenmal.«

Ihre Stirne brannte, und Blitze sprühten aus ihren Augen. Bei allem Zorn, der im Schorschl rumorte, war er doch nicht blind. So gut wie jetzt hatte sie ihm noch nie gefallen. Und da erwachte in ihm die Erinnerung an die Träume des vergangenen Abends. Statt mit dem Herzen, hatte sie ihm die Antwort mit den Fingernägeln ausgeteilt. Sollte er ganz leer ausgehen? Hatte er nicht so eine Art von Recht, sich für den Streich bezahlt zu machen, den ihm das ›liebe Katzerl‹ in der Nacht gespielt hatte? Lachend streckte er die Hände.

»Mein Fried laß mir!« stammelte Vroni und wich zurück.

»Ich kratz ja net! Im Gegenteil.« Er schlang den Arm um ihren Hals und meinte, leichtes Spiel zu haben, weil sie die drei Brotlaibe trug und wehrlos war. Aber da hatte er wieder einmal falsch gerechnet, wie schon so oft in seinem Leben. Vroni ließ kurz entschlossen die drei Brotlaibe fallen, die plumpsend nach verschiedenen Seiten auseinanderkollerten, und stieß dem Burschen die Fäuste mit so derber Kraft vor die Brust, daß er rücklings gegen die Hecke taumelte.

»Öha! Langsam!« brummte Schorschl, während er mit den Armen fuchtelte, um das Gleichgewicht wiederzufinden. »Aus kommst mir nimmer! Du!« Mit einem Feuermut, der dem Daxenschmied auf dem Schlachtfeld die goldene Tapferkeitsmedaille eingetragen hätte, ging er wieder zum Angriff über.

Vroni hatte das Schürzentuch, in das die Brotlaibe gewickelt waren, vom Boden aufgerafft. Als Schorschl in hiebsichere Nähe kam, schwang sie mit der gesteigerten Kraft ihres Mädchenzornes diese echt weibliche Waffe. Dem Daxenschmied wurde es für ein paar Sekunden schwarz vor den Augen, obwohl die Schürze nur ein verwaschenes Blau hatte. Bei dem klatschenden Schlag stäubte eine weiße Wolke um Schorschls Kopf. Sein Gesicht, die Brauen, der Schnurrbart und die Nasenspitze waren grau gepudert von dem Mehl, das die Unterseite der Brotlaibe an das Schürzentuch abgegeben hatte.

»Ja, sakra!« fing er zu räsonieren an. »Kratzen in der Nacht und dreinschlagen am Tag? Und so was soll ich mir gfallen lassen?« Da sah er das entstellte Gesicht des Mädels. Seine Arme sanken, erschrocken stand er vor Vroni und gewahrte auf dem rinnenden Wasser des Grabens einen tanzenden Brotlaib, der schon zu sinken drohte. »Jesus Maria!« Hurtig machte er sich auf die Jagd nach dem schwimmenden Laib.

Vroni band die Schürze um die Hüften und bückte sich nach den beiden Brotlaiben, von denen der eine im Gestrüpp der Hecke, der andere mitten auf dem Fußweg lag. Während sie langsam mit ihrer verminderten Last davonging, kam Schorschl ihr nachgelaufen. »Da, Vronerl!« Er putzte mit dem Joppenzipfel das Wasser von dem gefischten Brotlaib. »Da hast dein' dritten Wecken! Es hat ihm nix gmacht! Gar nix! A bißl lind wird er sich halt beißen.«

Sie sagte kein Wort. Als ihr Schorschl den Brotlaib auf die beiden andern laden wollte, machte sie, um das zu verhindern, eine ungestüme Bewegung. »Aber Vronerl, sei doch gscheit! Wirst doch um meintwegen deine braven Leut daheim net um dös gute Brot verkürzen?« Nun litt sie es schweigend, daß er den feucht glänzenden Laib auf die beiden anderen legte. Doch als er an ihrer Seite bleiben wollte, sah sie mit einem Blick zu ihm auf, der dem Daxen-Schorschl die Füße lahmte. Wie ein begossener Pudel blieb er an der Hecke stehen, bis sie verschwunden war. »So! Jetzt hab ich d' Suppen erst recht versalzen!« philosophierte er. In der Wut über sich selbst packte er sich bei den Joppenflügeln. »Da hätt doch jede andere dreimal kratzt und dreingschlagen, statt bloß an einzigs Mal, wie 's Vronerl!« Er sah über die leere Straße hin und seufzte. »Jetzt is's aus!« Bei dieser Einsicht überfiel ihn die Verzweiflung. »Sakra! Jetzt därf ich mir ein' anbicheln, an ghörigen! Sonst weiß ich nimmer, was mit mir gschieht in der heutigen Nacht.«

Mit brennendem Kopf und langen Schritten stürmte er dem Wirtshaus entgegen.

Inzwischen hatte Vroni den Fuß des laufenden Berges erreicht. Als sie bei sinkender Dämmerung in die Nähe des elterlichen Hauses kam, blieb sie stehen und legte die schweren Laibe zu Boden, um ein Weilchen zu rasten und die Augen zu trocknen. Da sah sie im Gestrüpp einer Haselnußstaude etwas hängen, das wie Gold glänzte. Es war die C-Trompete des Daxen-Schorschl, die in den Zweigen verfangen hing wie ein Christkindl-Geschenk am Weihnachtsbaum. »So an Unfürm! Wie er umgeht mit so einer kostspieligen Sach!« Scheu guckte sie nach allen Seiten, fischte flink die Trompete aus dem Gebüsch und wickelte sie sorgfältig in die Schürze.

Wenn der frostige Abendwind schärfer emporzog über die Halden, klang vom Wirtshaus mit verschwommenen Tönen ein Johlen und Singen herauf.

So lustig war es da drunten in der Wirtsstube schon lange nicht mehr zugegangen. Der Daxen-Schorschl hatte wieder einmal ›aufgemischt‹!

»Grüß Gott, Wirt! Pumpst mir noch?« Mit dieser Frage war er, als die Kellnerin eben die Lampen anzündete, in die Stube getreten.

»Ja!« hatte der Wirt lachend gesagt. »Aber nimmer viel!«

»Für an gsunden Rausch wird's reichen! Wer weiß, ob's net der letzte is?« Wahrhaftig, der Daxen-Schorschl hatte Selbstmordgedanken.

Noch eh die Stube richtig voll mit Gästen war, unter denen sich auch der Geschäftsführer der Bäckenmahm mit seinem Gesellen befand, hatte sich Schorschl schon in eine Stimmung ›hineingebichelt‹, deren gereizte Lustigkeit die ganze Stube amüsierte. Als man ihm die Zither hinstellte, sang er die ganze Litanei seiner ›schnackerlfidelen‹ Lieder herunter, natürlich auch die ›Lumpenstanzeln‹!

»A richtiger Loder,
Kreuzteufel juheh!
Der draht im Tag 's Unterste
Zwanzgmal in d' Höh!«

Noch war das Gelächter, das dieser Strophe folgte, nicht verstummt, als draußen auf der Straße ein gellender Ruf ertönte: »Feuerjo! Feuerjo!« Und da hörte man auch schon die Schläge der Feuerglocke. In der Wirtsstube fuhren sie alle von den Bänken und Stühlen auf. Bevor noch die ersten zur Tür kamen, stürzte einer von der Straße herein: »Leut! Es brennt!«

»Wo? Wo?«

»Bei der dicken Bäckin!«

»Jesus Maria!« stotterte Schorschl. Der Daxenschmied war plötzlich nüchtern. »Wie soll denn dös arme Weiberleut aus'm Haus? Mit ihre zwei Zentner Speckschwarten?« Er sauste zur Türe. Keuchend rannte er die Straße hinunter. Vor seiner Schmiede sprang er über den Staketenzaun. Weil sich das Tor der Werkstätte auf den ersten Griff nicht öffnen wollte, warf Schorschl sich mit der Schulter gegen die Bretter, daß sie krachend auseinanderflogen. Einen schweren Schmiedhammer auf die Schulter werfend, eilte er der Brandstätte zu.

Schon glomm die Feuerhelle über die Dächer der benachbarten Häuser, und blutrot färbten sich die niedrig hängenden Wolken.


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