Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

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15

Das dumpfe Rauschen der Bäche, die sich über das Gehänge des laufenden Berges ins Tal hinunterstürzten, weckte im Dorf die Bauern aus dem Schlaf und ließ sie mit Sorge an ihre Felder denken. Ehe der Tag noch anbrach, sprangen sie schon mit Spaten und Pickeln aus allen Häusern.

Als der Daxen-Schorschl in der ersten Dämmerung des klaren Frühlingsmorgens das Tor seiner Werkstatt öffnete, sah er auf der Straße die Leute rennen. »He! Was is denn?«

»Auf dem narrischen Berg droben is 's Wasser ausbrochen«, rief man ihm zu, »die ganzen Felder überschwemmt's, und droben raffelts die halbe Simmerau davon.«

»Mar' und Josef! 's Wasser wird doch dös Madl net mitreißen!« Schorschl rannte um die Hausecke und spähte im Zwielicht des Morgens gegen die Simmerau hinauf. Was er gewahrte, weckte ein Gefühl in ihm, als hätte sich eine eiserne Klammer um sein Herz gelegt. Am vergangenen Abend hatte er das kleine braune Dach da droben im welken Grün der Halden und zwischen den braunen Schrunden des laufenden Berges liegen sehen. Jetzt war alles weiß. Als wäre seit dem Abend neuer Schnee über die Simmerau gefallen. Aber dieser weiße Schnee schien Leben und Füße zu haben: Er bewegte sich, er rieselte und schob sich durcheinander, machte Buckeln wie eine flüchtige Natter und schlug einen Purzelbaum um den andern wie ein ausgelassener Junge. Dumpfes Rauschen klang im windstillen Morgen von der Höhe, als wäre dort oben ein Mühlrad mit hunderttausend Schaufeln in Bewegung. »Jesus Maria!« stammelte Schorschl mit erblaßtem Gesicht. In dieser Sorge nahm sich der Daxen-Schorschl nicht mehr die Zeit, um die Kratznarben seiner Hand zu betrachten. Er machte Sprünge wie ein Hirsch, der den Schritt des Jägers hörte. In der Werkstätte riß er einen schweren Eisenpickel aus der Ecke. Durch alle Räume des morgenstillen Hauses tönte seine gellende Stimme: »Gsellenleut! He! Gsellenleut! Pressieren tut's!« Er wartete nur, bis die beiden Gesellen kamen, nicht, bis sie fertig waren. »Gschwind, um Christi willen! Nehmts Pickeln und Schaufeln und laufts mir nach! Gschwind, sag ich! Gschwind! Jesus Maria! Dös arme Madl!« Er schwang den Pickel auf die Schulter und keuchte davon.

»He? Meister? Wohin denn?« riefen die Gesellen.

»Dalkete Dippeln überanand!« schrie Schorschl in Zorn über die Schulter. »In d' Simmerau! Wie kann denn da a Mensch noch fragen!« Er rannte die Straße hinunter, daß er schon außer Atem war, als er den Fuß des Berges erreichte. Schnaufend hetzte er über den Fußsteig empor, bis der Pfad unter den sprudelnden Bächen verschwand. Droben in der Höh schimmerten sie weiß, hier unten waren sie gelb von der Erde, die sie aus den Schrunden des Berges hervorgewaschen hatten und mit sich hinunterführten ins Tal, dessen Wiesen und Saatfelder in einen grauen See verwandelt waren. Schorschl verirrte sich in dem Netzwerk dieser Wassergassen, mußte hier einen Bach überspringen, dort eine breite Rinne durchwaten. Als er die Heubüschel und Balkenstümpfe sah, die im Schaum der Wellen von der Simmerau herunterschwammen, brach er in den Stoßseufzer aus: »Dös arme Madl! Alles reißt's ihr davon!« Erschöpft, von Wasser triefend, erreichte er die Nähe der Simmerau und gewahrte den Schaden, den der letzte Erdrutsch und die fressenden Wellen an der Scheune angerichtet hatten. »Mar' und Josef! Jetzt hat dös Madl kein' Stadel nimmer!«

Noch sah er keine Leute; doch im Lärm der Wellen hörte er die Stimme des alten Simmerauer und seines Sohnes. Aufatmend hielt er inne und lauschte. »Daß ich 's Madl net hör?« Nun vernahm er auch die Stimme Vronis und sprang so flink über den steilen Hang empor, daß ihm das Wasser der Pfützen, in die er trat, bis über den Kopf emporspritzte. Auf einem der Bäche, die an der Scheune vorübersprudelten, sah er ein langes Brett daherschwimmen. »Wart a bißl, du! Dös Madl braucht ihre Bretter!« Er jagte hurtig hinter dem schwimmenden Brett her, riß es aus den Wellen und trug es an eine sichere Stelle. Als er in Erregung und dennoch scheu den Hofraum betrat, war Michel der erste, der ihn kommen sah. »Jeh, schau! Da kommt der Daxen-Schorschl! Und den Pickel bringt er auch gleich mit!« rief der Alte in Freude. »Grüß dich Gott, Schorschl! Grüß dich Gott tausendmal!«

Bei diesem Ruf ließ Vroni, die neben dem Brunnen einen Graben ausschaufelte, den Spaten rasten. Sie sprach kein Wort, hatte nicht einmal einen stummen Gruß für den jungen Schmied, der zum Brunnen hinüberblinzelte. Aber die Röte, die auf ihren Wangen brannte, vertiefte sich noch, als Mathes ihr zuflüsterte: »Gelt, ich hab recht ghabt, daß er kommt!« Sie nickte und begann die Arbeit wieder.

Schorschl schien wie auf Kohlen zu stehen; es zog ihn zum Brunnen, aber Michel hatte ihn beim Hemdärmel gefaßt und wollte nicht loslassen. Erst mußte der Alte ein paarmal niesen, bevor er lachend sagen konnte: »Schorschl! Dös schöne Wasser! Und alles reißt's davon, den halben Stadel, die Bretter und Balken, den ganzen Boden im Garten, alles reißt's mit abi! Schau nur, wie alles schwimmt!«

Das sagte der Simmerauer mit so strahlendem Vergnügen, daß Schorschl in Verblüffung stotterte: »Michel! Bist übergschnappt? Oder hast an Schwammer?«

»An Schwammer bloß? An ganzen Rausch hab ich! Vom Wasser! Schau nur, wie's rebellt, dös Wasser! Aber dem Häusl kann's net an. Mein Häusl hat gsunde Mauern. Dem hat der Berg mit seiner ganzen Lauferei nix machen können. Hatschiiiih!« Wäre die Sonne, welche die östlichen Grate vergoldete, schon in der Höhe gewesen, es hätte um Michels Nase her den schönsten Regenbogen gegeben. »Gelt, Schorschl, hilfst mir a bißl, daß wir 's Wasser in die Gräben ummidrucken?«

»Deswegen bin ich da. Wo kannst mich denn brauchen?«

»Komm nur her da!«

Schorschl wollte den Pickel fassen und guckte ratlos zum Brunnen hinüber. Es war ihm jener Herbstmorgen eingefallen, an dem er dem Simmerauer seine Hilfe angeboten hatte, und Vronis Zornwort: »Der hilft uns net! Dem lauft ja 's eigene Haus davon.« Schorschl kraute sich hinter den Ohren und tat ein paar Schritte gegen den Brunnen. Noch immer kehrte ihm Vroni den Rücken zu; sie arbeitete mit einer Hast, als wäre für die Rettung des Hofes kein Augenblick zu verlieren. »He! Madl!« klang es würgend aus Schorschls Kehle. Vroni blickte auf. Als Schorschl diese glänzenden Augen sah, fragte er kleinlaut: »Verlaubst mir's, daß ich a bißl mithilf?«

Der Simmerauer wandte sich verblüfft zu seinem Buben: »Was treibt er denn? Hab's ihm ja ich schon verlaubt! Warum muß er denn 's Madl fragen?«

»No mein«, flüsterte Mathes ihm zu, »haben tun s' halt ebbes mitanand, dö zwei!«

»Ah! Da schau!« Michel mußte niesen. »Wär gar net amal so übel: mein Madl und der Schmied! Jetzt hat er alles nobel beinand!« Vergnügt musterte er das Paar und war gespannt, was geschehen würde.

Vroni hatte den Spaten in die Erde gestoßen. Die Hände an der Schürze säubernd, ging sie auf den Daxen-Schorschl zu. Wie hübsch sie war, mit dem leuchtenden Blick in den nußbraunen Augen, mit der heißen Röte auf dem von der Arbeit erschöpften Gesicht. »Grüß dich Gott, Schorschl!« sagte sie beklommen und bot ihm die Hand, die er mit seiner schwieligen Rußpranke haschte, wie der Geier den Hasen greift. »Ich tät dich selber drum anreden, daß dem Vater a bißl hilfst. Auf deine Händ liegt der Segen. Söllene Hand sind allweil gut zur Hilf.«

Schorschl lachte wie ein unbehilfliches Kind und brachte kein Wort heraus.

»Der is ja wie 's Starl, eh's reden kann!« meinte der Simmerauer mit Schmunzeln. »Dem muß ich wohl 's Züngerl lupfen?«

Mathes zog ihn am Ärmel zurück. »Laß dö zwei ihr Sach allein mitanand ausmachen!«

»Ja, hast recht!« Michel griff nach der Schaufel und nahm die Arbeit wieder auf. Da hörte er hinter sich einen Jauchzer und platschende Sprünge im nassen Schlamm. Der Daxen-Schorschl mit dem Pickel stand neben ihm, lachend über das ganze Gesicht, mit blitzenden Augen. »So, Vater, jetzt packen wir's an!« Er tat mit dem Pickel den ersten Streich. »Dös Luderwasser müssen wir unterkriegen!« Schorschl begann zu arbeiten, daß der Simmerauer ein paarmal mahnen mußte: »Geh, tu net so narrisch!« Aber in Schorschls Fäusten schien der ›Loder‹ lebendig geworden, von dem es in den Lumpen-Gstanzeln seligen Angedenkens hieß, daß er zwanzigmal im Tag das Unterste zu oberst kehrt. Er drosch mit dem Eisen darauflos, daß sich der Wassergraben bei jedem Pickelhieb um einen guten Bauernschuh erweiterte. Wenn er für einen Augenblick die Arbeit unterbrach, blinzelte er vergnügt zum Brunnen hinüber, von wo ihm Vroni lächelnd zunickte. Solch einen Augengruß beobachtete der Simmerauer. Da puffte ihm der Daxen-Schorschl den Ellbogen in die Seite. »Michel? Spannst ebbes?«

»A bißl ebbes, ja! Aber solang ich mein Häusl net in Ordnung hab, gib ich 's Madl net her.«

»So lang wart ich schon.«

Die Sonne kam, ein warmes Leuchten goß sich über den blauen Frühlingshimmel aus, breite Fluten des Morgenlichtes schwammen um die Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges und spielten schmeichelnd über die von den Wellen umrauschten Mauern des kleinen Hauses. Die Sturzbäche schienen in blitzendes Silber verwandelt, jeder Tümpel spiegelte das Himmelsblau, und während von der Sonnenwärme die feuchten Flecken am Sockel des Hauses zu trocknen begannen, kräuselten sich die Wasserdünste an den Mauern empor.

Schorschl stand schon eine Stunde bei der Arbeit, als seine Gesellen kamen. Sie brachten aus dem Dorf noch ein paar Helfer mit. Da gab es bei rastlosem Schaffen ein Reden hin und her über allen Schaden, den der laufende Berg seit dem Herbste angerichtet, und über die Gefahr, die das ausgebrochene Wasser im Tal den Saatfeldern brachte. Nun bekamen sie in der Simmerau auch das erste Wort von dem Unglück zu hören, das im Purtschellerhof geschehen war. »Und der Toni geht ab seit gestern am Abend. Mit'm Rennwagl is er einigfahren in d' Stadt. Mitten in der Nacht is sein Rößl daherkommen, mit der abbrochenen Wagengabel, so schauderhaft zugricht, daß man dem Gaul den Gnadenschuß hat geben müssen. Und d' Frau mit ihre Leut is gegen d' Stadt eini, den Purtscheller suchen.«

»Um Gotts willen!« stammelte der Simmerauer. Dem Alten erlosch vor Schreck die Sprache, als er seinen Buben ansah. Auf den Stiel der Schaufel gestützt, bot Mathes den Anblick eines Menschen, dem das Leben aus dem Herzen rinnt. Michel sprang auf ihn zu. »Bub? Was is dir denn?«

Mathes sah ins Leere. Tonlos kam es über seine weißen Lippen: »Ich weiß net, Vater! Ich muß a bißl in d' Stuben und muß mich niedersetzen.«

Michel wollte den Wankenden stützen, aber Vroni hatte schon den Arm des Bruders genommen. »Komm, Mathes, ich führ dich ins Haus!« Er stützte sich schwer auf ihren Arm. Mit entstelltem Gesicht sah er in die Augen der Schwester. Vroni schwieg; sie wußte keinen Trost.

Im Hausflur kniete Mutter Katherl mit durchnäßten Röcken auf den Dielen und suchte mit einer Holzkelle das Wasser aufzuschöpfen, das vom Hof über die Schwelle geronnen war und die Küche überschwemmte. Als die beiden kamen, erhob sich die alte Frau erschrocken. »Mathes?«

»Nix, Mutter!« sagte Vroni. »A bißl ungut is ihm halt!« Sie führte ihn in die Stube und zur Holzbank. Da saß er mit schlaffen Armen, den Kopf an die Wand gelehnt, leerte das Gläschen Enzian, das ihm die Mutter brachte, und aß den Bissen Brot, den sie ihm zwischen die Lippen schob. »Jetzt kann ich dem Vater schon wieder helfen. Der braucht mich.« Schwer atmend erhob er sich. »Es geht schon wieder.« Als er vor die Haustür trat, irrte sein Blick hinunter ins Tal. Brennende Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen. Schweigend stellte er sich neben Schorschl an die Stelle, wo es die schwerste Arbeit zu leisten gab.

In hartem Schaffen vergingen die Stunden des Vormittags. Dem rastlosen Kampf der fleißigen Arme gelang es, die den Garten überschwemmenden Sturzbäche in die Bergfurchen abzuleiten. Im Hof begann die Sonne schon den aus dem Wasser auftauchenden Grund zu trocknen. Doch über die Freude, mit welcher Michel und die Seinen nach harter Prüfung die Rettung ihres Heimwesens hätten begrüßen können, war der Schatten gefallen, der vom Purtschellerhof seinen Weg in die Simmerau gefunden hatte.

Auch Schorschl robottete in gedrückter Stimmung und hatte unter der Sorge zu leiden, die er in Vronis Augen sah. Immer wieder konnte er den bekümmerten Blick gewahren, mit dem die Schwester den Bruder suchte. Mathes hatte, seit er die Arbeit wieder aufgenommen, kaum ein Wort gesprochen. Er arbeitete wie einer, der nicht weiß, was rings um ihn her geschieht. Manchmal ließ er den Pickel ruhen, wischte mit dem Ärmel über die Stirn und spähte verstört ins Tal hinunter.

Als drunten die Elfuhrglocke gezogen wurde, traten die paar Leute, die mit den Schmiedegesellen gekommen waren, den Heimweg an. Einige Stunden später war man des Wassers soweit Herr geworden, daß Schorschl auch die Gesellen heimschicken konnte. Die Bäche, die von der Höhe des Berges niederströmten, begannen spärlicher zu fließen und sprudelten auf dem Wege, den ihnen die Arbeit der Menschenhände angewiesen hatte, mit gleichmäßigem Rauschen zu Tal. Nur einige Gräben waren noch zu ziehen, um das nachquellende Sickerwasser vom Sockel der Mauern abzuleiten.

Als auch dieses letzte getan war, legte Michel erschöpft den Spaten aus der Hand. »Jetzt haben wir's! Jetzt geht's mir wie dem Mathes. Ich muß in d' Stub eini und muß mich niedersetzen.« Mit gekrümmtem Rücken ging er zur Haustür. Vor der Schwelle erwärmte ein zufriedenes Lächeln seine müden Züge. »Die gscheite Kammissoni! Abi, hat s' gmeint, abi wird's müssen, mein Häusl? So, so?« Zärtlich strich er mit der schlaffen Hand über die feuchte, des Mörtels halb entkleidete Mauer. »Gelt, mein Häusl! Jetzt haben wir dich mit Gottes Hilf sauber durchbracht! Ja!« Er wandte das Gesicht. »Vergelts Gott, Kinder! Fest habts mitgholfen! Dös muß ich sagen.« Nickend wischte sich Michel den Schweiß von Stirn und Wangen und trat ins Haus.

Mathes arbeitete noch eine Weile, dann stellte auch er die Schaufel an die Mauer und wusch sich am rauschenden Bach die Hände und das Gesicht. Stumm wanderte er über den verwüsteten Grashang hinauf. Bei der kahlen Haselnußhecke, aus deren Zweigen er einst als Knabe die Maipfeifen für das Linerl geschnitten hatte, setzte er sich in die Sonne. Die Arme um seine Knie schlingend, spähte er hinunter ins Tal.

Schorschl und Vroni machten sich bald hier, bald dort noch ein bißchen Arbeit. Dabei gingen sie verlegen aneinander vorüber. »No ja«, sagte Schorschl endlich, während er mit einem Span den Schlamm von seinem Pickel kratzte, »d' Arbeit is gar. Jetzt kann ich heimmarschieren.« Er hob den Pickel auf die Schulter. »Oder net? Was meinst?«

Da kam sie mit heißem Gesicht auf ihn zugegangen und legte die Hand auf seinen Arm. »So viel plagt hast dich! Da darf dich d' Mutter net ungspeist heimgehn lassen. Magst net zum Essen bleiben?«

Er sah sie mit glücklichem Lachen an. »Dös kannst dir doch denken, wie gern ich bleib!«

»No also!« Sie atmete erleichtert auf. »Bleibst halt!« Die nassen Hände an der Schürze trocknend, ging sie zur Hausbank. Als sie saß, rückte sie gleich auf die Seite, damit er Platz neben ihr hätte.

»Mit Verlaub!« sagte er, lehnte den Pickel an die Mauer und setzte sich auf die Kante der Bank.

Vroni sah ihn verwundert an. »Ruck a bißl zu! Heut hast dir 's kommode Sitzen verdient.«

Er rutschte so dicht heran, daß sein Ellbogen den ihren drückte. »Ja, ja, so geht's halt!« Was Klügeres fiel ihm nicht ein. Verlegen sprang sie auf. »Was is denn?« stotterte Schorschl erschrocken. »Wirst doch net davonlaufen?«

»Ich muß doch sagen drin, daß d' Mutter mit'm Essen auf dich antragt.«

»Aber kommst gleich wieder?«

Vroni huschte ins Haus und fand die Mutter beim Herdfeuer. »Du«, sagte sie und kühlte mit den Händen das Gesicht, »der Schorschl bleibt da zum Essen.«

In Mutter Katherl schien eine Ahnung aufzudämmern. »Gleich dableiben tut er? Ah, da schau!« Sie schmunzelte.

»Geh, du! Der da draußen plagt mich, und jetzt plagst mich du auch noch!« Seufzend verließ Vroni die Küche; im Flur fragte sie über die Schulter: »Mutter? Hast doch a bißl ebbes Guts?«

»Ja, Tiroler Knödl mach ich.«

»Gott sei Lob und Dank! Die müssen ihm schmecken!« Sichtlich erleichtert kehrte Vroni zur Hausbank zurück. Schorschl haschte ihre Hand. Aber sie machte sich wieder los, ging zum Fenster und spähte in die Stube. »Da schau her!« sagte sie lächelnd. »Der Vater is schon in der Ruh. Auf der Ofenbank liegt er und schlaft.«

»Geh? Is wahr?« Lautlos kam Schorschl zum Fenster geschlichen, legte den Arm um Vronis Schultern, schmiegte seine Wange an die ihre, und so guckte das Paar in die Stube.

»So fest und gut hat er schon lang nimmer gschlafen.«

»Da müssen wir ihm dös bißl Schlaf vergunnen und müssen uns schön stad halten!« zischelte Schorschl, während er den Arm noch enger um das Mädel schlang. »Komm, setzen wir uns wieder auf d' Hausbank! Sonst rumpelst am End noch ans Fenster hin und weckst den Vater.«

»Ja, hast recht!« Mit glänzenden Augen sah sie ihn an und ließ sich führen.

Nun saßen sie in der Sonne des Nachmittags mit fest verschlungenen Händen. Verträumt und alles um sich her vergessend, lauschten sie dem Rauschen der Bäche und genossen wortlos die erste Freude ihres jungen Glückes, mit dem sie schneller fertig waren als Mutter Katherl mit ihren Tiroler Knödeln.

Schorschl suchte mit lachenden Augen drunten im Tal das Dach seines Hauses. ›Die Bäckenmahm! Dö wird dreinschauen!‹ dachte er. Als er diesen Gedanken aussprechen wollte, sah er, daß Vroni, deren Kopf an seiner Schulter ruhte, die Augen geschlossen hatte. Scheu streifte er mit den Lippen ihr zerzaustes Haar.

Tief atmend öffnete sie die Augen, blickte in Verwirrung zu ihm auf und stammelte: »Ich hab a bißl viel schaffen müssen die letzten Täg und Nächt. Und so viel gut is mir 's Rasten gwesen. Meiner Seel, jetzt wär ich schier gar a bißl eingschlafen! Bist mir harb drum?«

»Gott bewahr!« Er preßte sie zärtlich an sich. »Ich tu mich recht schön stad halten. Schenier dich net und mach deine Guckerln wieder zu!«

»Na, na!«

»Warum denn net?« Er wollte ihren Kopf an seiner Schulter betten und diese Gelegenheit benützen, um ihr den ersten Kuß zu geben.

Das wehrte sie ihm erschrocken und blickte über den Wiesenhang hinauf. »Jetzt net! Der Mathes schaut her. Dös möcht ich net, daß er so ebbes sehen muß.«

Er begriff diese Sorge nicht. »Geh, was hast denn? Der Mathes weiß doch eh schon lang, wie's steht mit uns. Und schenieren mußt dich net wegen meiner! Ich bin nimmer der Schorschl, der ich gwesen bin. D' Lieb hat mich kuriert von der Lumperei. Jetzt bin ich an andrer.«

»Ja, Schorschl! A ganz an andrer!« Sie sah mit stolzer Freude zu ihm auf. »Dös hab ich fei lang schon gmerkt.«

»Gelt, ja? Und dös bleibt. Grad so wie dö drei weißen Stricherln da!« Er zeigte ihr die Hand mit den Kratznarben. »Man sieht's noch allweil.« Als sie schwieg und ihn so merkwürdig ansah, lachte er. »Ich an deiner Stell hätt grad so kratzt! Ich weiß schon, a bißl grob hab ich zugriffen.«

Vroni machte immer größere Augen. »Aber Schorschl! Wer soll dich kratzt haben? Ich?«

»Geh!« Er blinzelte lustig. »Verstell dich net so!«

»Aber Schorschl!« Sie sah seine Hand an, sah ihm wieder in die Augen und schüttelte den Kopf. »Jetzt fällt's mir auch wieder ein, wie d' allweil gredt hast im Herbst: Katzerl, Katzerl! Allweil: Katzerl!«

»Da hört sich doch alles auf!« Er lachte. »Vronerl! Weißt es denn nimmer?«

»Was?«

»Selbigsmal in der Nacht –« Er hob die Hand und machte mit gekrümmten Fingern eine leicht verständliche Bewegung.

Dennoch verstand sie nicht. »Wann in der Nacht?«

»Wie ich 's zweitmal bei dir am Fenster war!«

»Du? A zweits Mal? Da weiß ich nix davon.«

»Aber hörst!« Jetzt schüttelte auch er den Kopf. Um ihre schlummernde Erinnerung zu wecken, wurde er deutlicher und erzählte von jener stockfinsteren Nacht, in der er vor einem ›gwissen Fenster!‹ seine guten Vorsätze gebeichtet und um freundlichen Beistand gebettelt hatte. Um Vronis Mundwinkel begann es verdächtig zu zucken. Und ehe Schorschl noch völlig zum Ende jener nächtlichen Fenstergeschichte kam, brach sie in lautes Lachen aus. Das war ein Lachen, so hell und lustig, wie man es seit Jahresfrist in der Simmerau nicht mehr gehört hatte.

Mutter Katherl erschien mit dem Kochlöffel in der Haustür und zog, um von dem jungen Paar nicht bemerkt zu werden, hurtig den grauen Kopf wieder zurück. In der Stube erwachte Michel aus seinem Schläfchen, kam verwundert zum Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und lächelte zufrieden. Und droben auf dem verwüsteten Grashang, bei den kahlen Haselnußstauden, erhob sich Mathes und blickte auf das kleine Haus hinunter, als hätte ihn dieses herzliche Lachen aus schweren Träumen geweckt.

Nur Vroni selbst erschrak vor diesem Lachen. »Jesus Maria! Lachen kann ich! Und da droben der Mathes! Und da drunt im Dorf –« Sie sprach nicht zu Ende. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte lachen. Und dabei kamen ihr die Tränen.

Schorschl war so verblüfft, daß er eine Weile brauchte, bis er fragen konnte: »Madl? Bist denn närrisch worden?«

»Aber Schorschl! Ich hab doch selbigsmal gar net in meiner Kammer gschlafen.«

»Was?« Schorschl riß die Augen auf. »Bei wem hab ich denn nacher gefensterlt?«

»Bei meiner weißen Katz!«

Schorschl verstand nicht gleich. Dann kam die Erleuchtung, und er platzte los. Vroni suchte ihn zu beschwichtigen: »Net so laut, Schorschl, ich bitt dich, net so laut!«

Die Lachtränen von den Backen wischend, schlang er den Arm um Vroni. »Schatzl? Wann du in der Kammer gwesen wärst? Hättst du mich auch kratzt?«

Sie studierte ein bißchen. »Ich glaub doch net.«

Da stand Mathes vor ihnen, und erschrocken schob Vroni den Schorschl von sich. Scheu blickte sie zu dem Bruder auf. »Tu mir net harb sein, Mathes! Ich hab lachen müssen.«

Stieg ihm das warme Blut in die bleichen Wangen? Oder war's nur die Abendsonne, die seine vergrämten Züge so warm überhauchte? Er lächelte, und dem jungen Paar die Hände auf die Schultern legend, sagte er: »Schau, Schwester, so von Herzen wie ich vergunnt dir keiner die junge Freud! Seids gut mitanand! Tuts fest zammhalten! Sonst hat 's Leben kein' Wert!« Er wollte ins Haus treten; auf der Schwelle wandte er sich. »Tust mir an Gfallen, Vroni?«

»Ja, Mathes! Alles, was d' willst.«

»So mach nach'm Essen a Sprüngl abi zu ihr. Damit s' doch ein' Menschen hat!«

»Ja, Mathes!« Zögernd fragte sie: »Magst net mit?«

Er preßte die Lippen aufeinander, daß sie weiß wurden, und schüttelte den Kopf.

Mutter Katherl rief aus dem Hausflur: »Kommts, Kinder, ich hab auftragen!«

Das gab eine stille Mahlzeit. Dem Alten fielen während des Essens vor Müdigkeit schon halb die Augen wieder zu, und Mutter Katherl stach in schweigsamer Fürsorge einen Knödel um den andern aus der Schüssel heraus und legte ihn auf Schorschls Teller. Mathes sprach kein Wort. Und das verliebte Paar hatte sich genug mit den Augen zu sagen.

Als die Mahlzeit vorüber und das Gebet gesprochen war, sagte Vroni: »Vater? Verlaubst mir's, daß ich a bißl abi schau zur Linerl?«

»Ja, Madl, gern! Und tu mir s' grüßen, dö gute Frau! Gleich morgen geh ich selber abi, heut kann ich nimmer. Wie abgschlagen sind mir d' Füß! Und gelt, bring die Kinder mit heim! Jetzt haben s' wieder ihr sichers Bleiben bei uns. Gott sei Dank! Und tu mich aufwecken, wann die Kinder heimbringst! Heut schlaf ich gleich.« Er humpelte zur Kammer. In seiner Müdigkeit vergaß er, dem Daxen-Schorschl gute Nacht zu wünschen.

 


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