Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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20

Ein klarer Sonntagmorgen. Der Hohe Schein mit seinem blauen Wunder stand vor dem Strahlenglanz der Sonne, als Mamertus Troll und die Zenz zum Pfarrhof gingen. Das Maxerl war nicht bei ihnen. Mertl hatte wohl gemeint, der Bub müßte dabei sein, »wann 's Ruckerl gmacht wird, daß er an Vatern kriegt«. Aber der Peter war mit dem Buben schon auf und davon, hinüber in die Wirtsstube, wo er dem Maxerl zur Feier des wichtigen Tages eine Bratwurst spendierte.

Die Zenz hatte sich so schmuck gemacht, als es die bescheidenen Schätze des Hasenstalls erlaubten. Und Mertl, in dem braunen Leinenstaat, war anzusehen wie aus der Schokolade herausgestiegen. Dabei roch er heftig nach einem Zuckerhut. Die Zenz sagte einmal: »So fein haben d' Wiesenblümln noch nie net gschmeckt wie heut in der Fruh.« Und wie gut ihr der Mertl gefiel! Das verriet der Glanz, der in ihren Augen war und ihr Gesicht verjüngte. Nur zu dem Hut, den der Bräutigam trug, schielte sie mit Sorge hinauf. In der langen Dampfkur hatte der mürbe Deckel völlig die Fasson verloren. Sauber war er freilich geworden. In der Form aber glich er einem großen Pilz, der eine Woche Regenwetter überstanden hatte. Das Nelkensträußl putzte ihn aber doch ein bißchen heraus.

Die Sonne fiel in das Tal herein, als die beiden zum Pfarrhof kamen. Mertl faßte die Hand der Zenz. »Also Schatzl! Steigen wir halt eini ins Glück! Der Herrgott soll's uns geraten lassen!«

Die Braut bekreuzte sich.

Im Pfarrhof mußten sie warten. Trotz der frühen Stunde war der hochwürdige Herr nicht daheim. Als man zur Frühmesse läutete, kam er atemlos gelaufen. »Gott sei Lob und Dank, weil ich nur wieder ein Bröserl Glück zu sehen krieg! Denkt nur, Leut, dem jungen Ehrenreich, der gestern den Vater begraben hat, ist heut in der Nacht das Kindl gestorben.«

Die Zenz erblaßte in abergläubischem Schreck; in de Stunde, in der man »einispringt ins Glück«, hört man lieber was Gutes. Und der Mertl dachte gleich mit Sorge an seinen Herrn und Heiland. »Der is so viel anhänglerisch zu die Ehrenreichischen! Was der für Zeiten durchmachen muß! Diemal kunnt unser Herrgott schon a bißl besser aufpassen auf seine Leut!«

Und ob von den beiden keines das Nannerl gesehen hätte? Das arme Närrlein wäre in seiner Angst aus dem Haus gelaufen, niemand wüßte, wohin. »Och du lieber Himmel! Mein gutes Thildele! Und jetzt ist mir über Nacht auch mein Kaplan noch krank geworden. Da muß ich gleich hinüber in die Kirch und statt der Frühmeß eine Andacht halten.« Der hochwürdige Herr tat einen schweren Seufzer.

In dieser Stimmung und bei den paar Minuten, die ihm noch verblieben, bekamen die Brautleute einen kurzen Zuspruch über die Pflichten des heiligen Ehestandes. »In Gottes Namen halt! Ich will schon bei der Verkündigung recht aus der Seel für euch beten. Aber das Beste müßt ihr selber tun. Jetzt steht euer Glück vor der Tür. Jetzt müßt ihr's auch festhalten mit redlichen Händen und mit treuen Herzen.«

»Die richtigen Pratzln hab ich schon. Dö lassen nimmer aus!« sagte der Moosjäger. »Und mit der Treu wird's auch net fehlen! Gelt, Zenzle?«

Sie sah zu ihm auf und nickte.

Der Pfarrer legte ihnen die Hände auf die Köpfe. Dann gingen sie. Und weil Mertl durch die offene Tür der Schlafstube das Schreibpult sehen konnte, sagte er gerührt: »Schau, Bräutl, da drin is der gute Herr Pfarr im Hemmed gstanden, wie er mir unser Glück verbrieft hat!«

Als sie hinauskamen in die schöne Sonne, liefen der junge Scheidhofer und das Walperl vorüber, in der Richtung nach der Sägmühle, das Mädel mit der Küchenschürze, Walter in Handschuhen und ohne Hut, mit einem Gesicht, daß der Moosjäger erschrak. »He, Scheidhofer!« Walter hörte nicht. Und Mertl umklammerte die Hand seiner Braut. »Zenzle! Mein' Herrn mußt anschauen! Jetzt is mir am heutigen Tag die ganze Freud verschustert!« Sie sagte kein Wort, legte nur scheu den Arm um den braunen Moosjäger. Das wurde ein stiller Spaziergang, den sie am Waldsaum machten, um die Zeit bis zum Hochamt abzuwarten. In der Kirche, als der Hochwürdige von der Kanzel verkündete: »Zum heiligen Stand der Ehe haben sich versprochen –«, und als sich alle Gesichter nach dem Betstuhl wendeten, in dem die »ledige Kreszenzia Schmiedramsl« kniete, schoß dem Mertl doch wieder die Freude ins Herz. Und wie stolz er nach dem Hochamt vor der Kirchtür wartete, bis die Zenz herauskam! Lachend schob er den gesottenen Hut übers Ohr. »Schatzl! Jetzt haben wir's!« An der Hand führte er sie an den gaffenden Leuten vorüber. Und drüben beim Roten Hirschen sprang er in den Hasenstall und brachte das Maxerl getragen. Die Zenz nahm die Hand ihres Buben. »Wo is denn der Vater?«

»Furtfahren muß er. Dös is zwider. Grad is er ummi zum Einschirren. Die Komödileut muß er auf d' Mühlbacher Alm führen. Dö machen an Ausflug.«

Da ging die Zenz in den Stall, in dem der Peterl den Schimmel anschirrte. »Grüß Gott, Vater! Jetzt bin ich verkündt.«

Der Alte sah seinem Mädel mit dürstendem Blick in die Augen. »In drei Herrgotts Namen! Kriegst an braven Menschen! Aber verdienen muß er dich allweil erst.« Er faßte die Stränge, die vom Kummet auf das Stroh hinunterhingen, und warf sie dem Pferd über den Rücken.

»Gelt, Vater, jetzt bist mir nimmer harb?«

»Ah na!« Peterl zog am Schimmel eine Schnalle fest. »Geh halt, Kindl, und laß den Deinigen nit warten! So ebbes mögen s' net, d' Mannsbilder.«

Die Zenz war schon bei der Tür. »Vater, ich tat dich gern um ebbes anbetteln!«

»Druck's halt aussi!«

»Gestern hab ich gfragt, warum er net raucht. Da hat er sich nausgredt, es tat ihm net gut auf'm Magen. Aber ich mein', er hat kein Pfeifl. Kunntst ihm net eins schenken von deine zwei?«

Peterl griff in die Tasche. »Da hast mein Sonntagspfeifl! Gibst es ihm halt!«

»Vater, jetzt weiß ich, daß d' ihn magst!« Lachend rannte die Zenz davon.

Der Alte trat an das trübe Stallfenster und guckte seiner Häsin nach. Er sah die drei in der Sonne beisammenstehen und sah, wie Mertl die Pfeife betrachtete und prüfend durch das Röhrl blies, ob es Luft hätte. »Alls muß er haben! Der!« Peterl machte sich wieder an die Arbeit. »Paß auf, Schimmele, der frißt dir noch dein' Haber weg!« Während er dem Gaul die Trense ins Maul schob, murrte er: »Jetzt sag mir amal, für was einer lebt! Hundertweis schnaufen s' und müssen Hunger leiden an Leib und Seel. Findst ebbes und hast dein Bröserl Freud, so mußt es wieder hergeben. Hab ich net recht, Schimmele?« Seinen Unmut über das Leben wollte Peterl den weißen Liebling nicht entgelten lassen. Freundlich tätschelte er den Schimmel auf den Hinterbacken. »Heut kannst dir Zeit lassen, Alter! Für so narrische Gredln pressiert's net wie in der Nacht mit'm Doktor. Schnauf dich aus und laß den Rappen ziehen!«

Bei sechs Fahrgästen auf dem Leiterwagen mußte der Peterl zweispännig fahren. Er schirrte einen hochbeinigen Rappen an, der neben dem Schimmel aussah wie die Trauer neben der Freude. An der Deichsel ist das auch nicht anders als im Leben – ein Paar, das schön zusammenpaßt im Zug, ist selten.

Eine Fahrt wurde das, so lustig, daß auch der Peterl was zu lachen bekam. Auf zwei Brettern, die über die Länge des Leiterwagens gelegt waren, saßen die merkwürdigen Brüder und Schwestern einander gegenüber. Von den Strohhüten flatterten die roten Bänder, und die scharlachfarbenen Blusen leuchteten in der Sonne. Das Gerüttel des Wagens gab den heiteren Grundton für die Stimmung. Philinchen sang einen hohen, langgehaltenen Ton, der durch das Schütteln des Wagens zu einem Triller wurde. Das weckte die Singlust der anderen. »Weil wir so lustig sind«, meinte Schwester Aurelia, »müssen wir doch als gute Deutsche was Trauriges singen.«

Philinchen kicherte: »Natürlich, als trauernde Witwe liegt dir das Elegische! Die Palme deiner heißen Seele wäre zu einer Reise nach Norden bereit gewesen? Was? Aber der Fichtenbaum scheint die Einsamkeit vorzuziehen.«

Jarno proponierte: »Droben stehet die Kapelle« – ein Vorschlag, der auf Marianens zweifelhaften Humor nicht günstig zu wirken schien. Bruder Laertes, weil der Wagen am sonnblitzenden Mühlbach entlang fuhr, intonierte:

»In einem kühülen Gruhunde,
Da geht ein Mühlichenrad –«

Jetzt lachte Willy Meister. Mit hohem Diskant, wie die Bauernburschen zu singen pflegen, begann er das Liedchen:

»Muß ich denn, muß ich denn
Zum Städtele naus, Städtele naus,
Und du, mein Schatz, bleibst hier?
Wenn ich komm, wenn ich komm,
Wenn ich wiederum komm –«

Die anderen fielen ein. Es wurde ein guter Klang. Nur Mariane sang nicht mit und blickte nachdenklich über die Dächer des verschwindenden Dorfes zurück, einen müden Zug in dem schönen Gesicht.

Als der Wald begann, lenkte die Straße vom rauschenden Mühlbach fort und fing zu steigen an. Peterl ließ die Pferde in gemächlichem Schritt gehen. Weil an den Wegsäumen der blühende Sommer lachte, sprang die Gesellschaft vom Wagen, um ein unermüdliches Blumenrupfen zu beginnen. Die Hüte wurden mit Kränzen von blauem Enzian und roten Aurikeln umwunden, und die Mädchen schlangen sich noch blühende Ranken um Nacken und Hüften.

Wo die Straße ihre Höhe erreichte, öffnete sich ein weiter Ausblick gegen Osten. Über das Meer der Fichtenwipfel sah man hinaus zum Dorf, und hinter den Baumkronen des Scheidhofes erhob sich der Hohe Schein im klaren Sonnenglanz, umduftet vom blauen Schimmer des schönen Tages. »Kinder, seht mal, wie fein das ist!« rief Jarno, der mit Aurelia vorausgegangen. Lange standen sie, festgehalten von diesem zaubervollen Bild. Willy Meister gähnte ein bißchen, die anderen kamen in gehobene Stimmung. Als sie weiterwanderten, sagte Jarno: »Jetzt singt aber mal was Rechtes!« Mit den großen Sträußen in den Armen, überschüttet von Blumen, gingen die drei Mädchen nebeneinander her und sangen das Engelterzett aus dem »Elias«.

»Hebe deine Augen auf
Zu den Sternen,
Von denen dir Hilfe kommt.«

Der stille Wald schien aufzuhorchen, als sich die drei Stimmen so rein und innig zu schönem Klang verschmolzen. Peterl hielt die Pferde an, um besser lauschen zu können. Und neben dem Klang der Stimmen war noch ein tiefer Ton, wie der Grundbaß einer Orgel: das Rauschen und dumpfe Donnern des Mühlbaches, der tief unter der Straße, im Wald verborgen, sein Wasser durch die Felsklamm schüttete. Noch ein zart verhauchender Dreiklang. Willy Meister applaudierte, die andern blieben still. Und Mariane hatte Tränen in den Augen.

»Ach, Unsinn!« Das niedliche Philinchen lachte grell, zerriß ihren Strauß und warf die Blüten über Willy Meisters hübschen Kopf.

Die Straße lief bergab über steinige Halden. Weil die Sonne ohne Schatten brannte, stiegen sie auf den Wagen. Da kam ihnen auch die übermütige Laune wieder. Nach einem halben Stündchen war die Mühlbacher Alm erreicht, eine smaragdene Wiesfläche mitten im Wald. Der Wagen hielt vor der Sennhütte, und der Proviantkorb wurde abgeladen, aus dem die Silberköpfe von einem Halbdutzend Sektflaschen herausguckten. Jarno nannte sie »die Ölkrüglein der Witwe« und steckte sie gleich in den kalten Brunnen, damit sie bis zum »dionysischen Gelage« nach der Bergpartie »schön kuhle« würden.

Ein flinkes Frühstück. Dann warfen Philinchen und Aurelia ihre Blumen fort und schürzten die weißen Röcke. Mariane ließ sich vom Senn einen Krug geben und stellte im Schatten der Hütte ihren Strauß in frisches Wasser. Dann marschierten sie los, zur Kraxelpartie auf den Almkogel.

Gegen drei Uhr kamen die kühnen Bergsteiger zurück. Schon von weitem hörte man sie lachen und jauchzen. Merkwürdig, daß die Städter immer so sinnlos schreien müssen, wenn sie von einem Berg herunterkommen. Natur in ihrer Größe zu sehen, das sollte still und nachdenklich machen.

Philinchen hatte sich ganz heiser gejubelt. Brennrote Gesichter hatten sie alle, und die Hüte trugen sie wieder vollgesteckt mit Almrausch und Kohlröschen.

Im Schatten des Waldsaumes wurde das »Gelage« inszeniert. Jarno hatte die Regie und arbeitete das Picknick zu einem hellenischen Symposion aus. »Nur die Tänzerinnen und Flöten fehlen. Aber die Stimmung ist echt.« Er ließ den ersten Pfropfen knallen. »Evoe . . .

Vor Freude schaudr' ich,
Hoch in Wonne stieg ich auf.
O Lust, o Lust! Pan, Pan,
Pan, Pan, schreitend das Meer hindurch,
Vom Felsenhaupte Kyllenes herab,
Dem schneeumstürzten, erschein uns,
Fürst, Anführer der Götterreigen,
Tänze, nysische, knosische,
Selbstersonnene, mir gesellt, zu schlingen!
Heute gelüstet uns nach Reigen . . .«

Die Kühe, die mit läutenden Glocken auf dem Almfeld weideten, hoben die Köpfe und glotzten, als sie den dithyrambischen Schall dieser mächtigen Stimme hörten. Philinchen, im Übermut der Stunde, schlang die Arme um Willy Meisters Hals und wirbelte ihn herum, daß ihm der Atem verging. Aurelia und Mariane lagen schon im Gras. Und Bruder Laertes, als er sich zwischen den beiden ausstreckte, erklärte: »Die Rolle liegt mir.« Der kühle Sekt machte ihnen die heißen Köpfe noch heißer. Sogar Mariane wurde munter; ihre verschleierte Stimmung schlug in wilde Heiterkeit um. Ihre Laune war es zumeist, die Jarno zu der Warnung veranlaßte: »Mädels, beschwipst euch nicht! Am Abend müssen wir spielen.« Wie sie da lachten! »Scherz beiseite! Die Kunst verpflichtet. Heute machen wir ein ausverkauftes Haus. Ich wette auf dreißig Mark.«

»Und verzich Fenniche!« fiel Laertes ein.

In solcher Stimmung trieben sie es weiter, bis die letzte Flasche geleert und zerschlagen war. Bei der Zigarette wurden sie ruhiger. Und Mariane war davongegangen.

Nach einer duselnden Siesta kam ihnen der Schlaf. Nur Philinchen blieb aufrecht sitzen, und manchmal warf sie einen huschenden Blick auf Willy Meister, der an ihrer Seite schlummerte. Sie beugte sich über ihn und betrachtete seine Züge. So gut hatte ihr sein fein geschnittenes, liebenswürdiges Gesicht noch nie gefallen wie jetzt im Schlaf. Plötzlich neigte sie sich zu ihm und küßte in heißem Durst seine Lippen. Willy erwachte und sah das glühende Gesicht über sich, diese schwimmenden Augen. Er streckte die Arme. Da sprang sie mit leisem Kichern auf und jagte den Bäumen zu, gegen den rauschenden Bach hinunter.

Lachend erhob er sich, sprang in den Wald und pfiff den Hornruf aus dem »Siegfried«. Von irgendwo antwortete ihm ein feines Lachen. Als er zu rennen begann, sah er immer wieder den weißen Rock und die scharlachfarbene Bluse leuchten. Das wurde ein tolles Hetzen. Philinchen wollte sich fangen lassen, aber es machte ihr Freude, das jagende Spiel zu verlängern. Einmal war sie ihm ganz verschwunden. »Hansi!« schrie er. »Du Katze! Was soll denn das?« Er rannte wieder. »Schatz? Wo bist du?« Das dumpfe Rauschen des Baches mußte seinen Ruf übertönt haben – er hörte keine Antwort. Da sah er auf einer lichten Höhe die rote Bluse. Er eilte die Böschung hinauf. Lachend stand sie vor ihm in der Sonne, das Haar gelöst, mit ausgebreiteten Armen. Sie rief ihm etwas zu. Das verstand er nicht. So laut war das Brausen des Baches in der Schlucht, die dort hinunterfiel. Er hatte die niedliche Sünderin fast erreicht und streckte schon die Hände. Wieder huschte sie davon. Eine Wendung der Schlucht versperrte ihr den Weg. Als sie zurück wollte in den Wald, holte er sie mit ein paar wilden Sätzen ein und riß sie in seine Arme. Einen Augenblick überließ sie sich seinen Küssen, rang sich lachend wieder los, jagte am Saum der Felsklamm entlang, und als sie zu einer Stelle kam, an der sich die Ränder der Schlucht einander näherten, schwang sie sich mit tollkühnem Sprung hinüber. Ihr Haar flatterte, die zierliche Gestalt war ganz von Sonne umleuchtet. »Wenn du mich lieb hast, komm!« Beim Aufsprung wich der Grund unter ihren Füßen. Sich vornüberwerfend, haschte sie eine Buchenstaude. Während sie sich flink über die Böschung hinaufzerrte, schrie sie erschrocken: »Spring nicht! Da ist der Boden nicht gut.«

Bei dem dumpfen Rauschen des Baches verstand er das nicht. Philinchens Warnung war auch überflüssig. Als er den Rand der Felswand erreicht und einen Blick in das weiße Gesprudel der Tiefe geworfen hatte, war er aus eigener Klugheit auf den Gedanken gekommen, den wahnwitzigen Sprung zu unterlassen. Geärgert sah er zu Philinchen hinüber. Die stand am Waldsaum droben, von Sonne umgossen. Sie schrie ihm etwas zu, was er nicht verstehen konnte, und deutete mit dem Arm. Als er in die Richtung blickte, nach der sie wies, gewahrte er einen Steg, der die Bachschlucht überspannte. Er warf der niedlichen Sünderin eine Kußhand zu und lief am Rand der Felsklamm hin, die sich zu einem großen, sonnigen Kessel erweiterte. Schon wollte er den Steg betreten. Da lähmte ihm der Schreck alle Glieder. An die Stange des Geländers geklammert, das Gesicht von kalkiger Blässe überronnen, starrte er hinunter in die Klamm.

Mit weißem Gewirbel stürzte sich der Bach, aus dunklen Klüften hervorrauschend, über eine hohe Felsstufe. Wo der schneeige Schaum des Falles zerfloß, war zwischen steilen Felsmauern ein großer Kolk. Durch das blaue Wasser glänzte die Sonne schräg hinunter bis auf den Grund, dessen Kieselsteine wie helle Türkisen leuchteten. War das ein Nixenbrunnen? Gibt es Märchen, die Wahrheit sind? Unter dem blauen Wasser, wie von der Strömung in eine Nische der Felsen gedrängt, stand aufrecht schwebend ein feines, schlankes Geschöpf, halb nackt, nur noch umhüllt von geschlängelten Lappen des zerfetzten Gewandes. Über der weißen Stirne stiegen die schwarzen Haare senkrecht in die Höh und schwammen mit ihren Spitzen aus dem Spiegel des Kolkes, im Spiel der Strömung. Die halb gehobenen Arme bewegten sich ein wenig, mit sanftem Wiegen, gleich den Armen einer Tänzerin, die ihren Reigen beginnen will. Manchmal neigte sich das Nixlein nach vorne, als möcht' es aus der Felsennische hervortreten. Dann schwankte der feine Körper wieder gegen die Steinwand zurück und zeigte deutlicher das schmale, weiße Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem bleichen Mund, um den ein starres, wehes Lächeln zu liegen schien. Und von der Bläue des Wassers war um die schwebende Gestalt ein Schein, als trüge das Nixlein einen blauen Mantel, so durchsichtig gewoben, wie die Feenmäntel in den Märchen sind.

Im Rauschen des Wassers eine klingende Stimme. Über den Steig, der drüben durch den Wald hinaufführte, kam Philinchen heruntergesprungen. Das Warten hatte ihr zu lang gedauert, jetzt wollte sie sich fangen lassen und machte verwunderte Augen, weil sie auf Weg und Steg keinen Menschen sah. Sie rief einen Namen, der im Brausen des Bachen unterging, eilte über den Steg, sah im Wasser das blaue Märchen und jagte mit gellendem Schrei davon. Im Wald verließen sie die Kräfte; sie klammerte sich an einen Baum und schrie jenen Namen wieder. Er hörte sie schreien. Ihre Stimme hielt ihn nicht. Gepeitscht von seinem Entsetzen, keuchte er durch den Wald hinauf, erreichte die Straße und rannte in der Richtung gegen das Dorf hinaus. Als ihm der Atem zu Ende ging, warf er sich am Wegsaum ins Gras. So lag er eine Weile, das Gesicht in die Hände gedrückt. Dann wurde ihm so übel, daß er sich erbrechen mußte. Mit der Hand schöpfte er Wasser von einer Quelle, die am Wegrand sickerte, und taumelte der Straße nach.

Es ging schon auf den Abend zu, als er das Dorf erreichte. Die Leute, die schwatzend auf der Straße standen, sahen ihm mit großen Augen nach. »Dem muß ebbes passiert sein!« Und der Wirt vom Roten Hirschen empfing ihn mit der erschrockenen Frage: »Jesses, Herr Meister, was haben S' denn?«

Er vermochte nicht gleich zu sprechen. »Kann ich einen Wagen bekommen? Ich bin krank geworden. Ich muß fort.«

An die Krankheit glaubte der Wirt. Die redete mit fahler Blässe aus dem hübschen Gesicht. »Gottlob, daß der Doktor grad da is! Zum Kaplan haben s' ihn gholt. Soll ich ummischicken?«

»Nein! Ich brauche keinen Doktor. Nur einen Wagen. Schaffen Sie mir den! Ich bezahle jeden Preis.« Willy Meister taumelte ins Haus.

Unter den Gästen, die im Garten saßen, fand der Wirt einen Nachbarn, der einspannen wollte. Kaum war der Bauer davon, als Peterl mit seinem Gespann in den Hof gerasselt kam. Ehe die Pferde standen, schrie Philine dem Wirt die Frage zu: »Ist der Graf daheim?«

»Unser Kollege, Herr Meister!« korrigierte Jarno.

»Grad is er heimkommen. Ganz miserabel muß ihm sein.« Alle sprangen vom Wagen und liefen ins Haus. Und der Wirt faßte den Peterl ab: »Was is denn passiert mit dem Kienschtler da?«

»An schiechen Schrecken muß er ghabt haben. 's Mühlbacher Nannerl hat er gfunden. Dö liegt bei der Alm draußen im Bach.«

»Mar' und Josef!« Der Wirt bekreuzte sich. »Dö suchen s' heut schon den ganzen Tag. Spring nur gleich zum Bürgermeister ummi!«

Droben im Haus, vor Willy Meisters Stube, stand Bruder Laertes mit den drei Mädchen bei der Tür. Philinchen rüttelte immer an der Klinke und flehte: »So laß mich doch hinein! Um Gottes willen! Was ist denn?« Die verriegelte Tür wurde nicht geöffnet. Dann hörten sie auf der Stube eine Stimme wie in Zorn. Das war die Stimme Jarnos. Und Laertes flüsterte: »Kinder, mir scheint, da stänkert's!«

Mit bleichem Gesicht trat Jarno aus der Stube und sagte über die Schulter: »Nein, Herr Graf! Ich bedanke mich schön. Für die paar Groschen unseres Mißvergnügens kommen wir selber auf.« Er zog die Tür zu und drängte Philine zurück, die in die Stube wollte. »Drück dich, Hansi! Für den bist du zu gut! Schwapp ab, Mädel! Auch belieben der Herr Graf sich augenblicklich mit seiner Reisetoilette zu beschäftigen.«

Philinchen stand erschrocken, während die anderen über Jarno herfielen: »Aber so rede doch! Was ist denn los?«

»Eine Scheußlichkeit, mit der ich nichts zu schaffen haben will. Das arme Kind da draußen – das hat er auf dem Gewissen!«

Alles Blut war aus Philinchens Gesicht gewichen. Sie faßte die Klinke. Die Tür war schon wieder verriegelt. »Mach auf!« Ihre Stimme schrillte. »Mach auf!« Sie preßte sich mit aller Kraft gegen die Bretter. Das Schloß gab nach. Die anderen wollten sie noch zurückhalten. Da stand sie schon vor Willy Meister, der mit zitternden Händen um den Kragen des seidenen Hemdes eine bunte Krawatte band.

»Du?« Ihr Gesicht war weiß und entstellt. »Ist das wahr?« Sie las die Antwort in seinen ratlosen Augen. Nur ein einziges Wort sagte sie: »Edelmann!« Dann ging sie aus der Stube. Draußen brach sie in Schluchzen aus. Mariane legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie fort.

»Kommt, Kinder! Zu mir auf die Bude!« sagte Jarno zu Laertes und Aurelia. »Jetzt müssen wir sehen, wie wir mit heiler Haut aus der Schweinerei herauskommen, die wir da angerichtet haben.«

Aurelia hob den stolzen Kopf. »Wir?«

»Ja, wir alle!«

Ein paar Minuten später war Willy Meister reisefertig. Von den merkwürdigen Brüdern und Schwestern ließ sich niemand zum Abschied sehen. Nur die Kellnerin war da. Das Mädel hatte Tränen in den Augen.

Der schöne Abend fing zu glühen an, als das Bernerwägelchen davonrasselte. Der Hirschenwirt atmete auf. Einen Kranken im Haus beherbergen zu müssen, das wär' ihm nicht angenehm gewesen. Er hatte das Leiden, das auf Willy Meisters Gesicht geschrieben stand, schwer eingeschätzt. »Da wachst sich a Nervenfieber auf. Oder sonst ebbes Gfahrlichs. Gottlob, daß er draußen is!« So äußerte sich der Wirt zu den Gästen, die im Garten saßen. Und da wurde von dem Schreck, den das »saubere junge Bürschl« davongetragen, viel mehr geschwatzt als von der Ursache dieses Schreckens. Der Tod gilt für den Bauern als eine Sache, über die nur wenig zu reden ist. Vermutlich wollte das Nannerl in der Nacht zum Pfarrhof laufen, damit für das Fritzele das Zügenglöckl geläutet würde. Auf dem finsteren Weg hat das arme Ding den bösen Fehltritt in den Mühlbach getan. Und das jagende Wasser hat sein Opfer durch die Felsklamm hinausgerissen bis zur Mühlbacher Alm. Ein Unglück halt! So was kommt, wie auf der schönsten Straß ein Heuwagen umfällt. Da muß man eben wieder aufladen und weiterfahren. Was an Heu dabei verdorben wurde, das läßt man liegen, und der Wind weht's über Nacht davon.

An diesem Abend machte der Wirt zum Roten Hirschen ein gutes Geschäft. Von den hundert Leuten, die gekommen waren, um das »griechische Spiel« zu sehen, blieben die meisten im Wirtsgarten sitzen, als sie hörten, daß wegen Erkrankung eines Künstlers die Vorstellung nicht stattfinden könnte. Die gute Einnahme des Abends tröstete den Wirt über die Nachricht, daß die merkwürdigen Brüder und Schwestern beschlossen hätten, in der Nacht noch abzureisen. Er fragte nur die Kellnerin: »Is keiner von die Kienschtler ebbes schuldig blieben?«

Das Mädel, noch immer mit nassen Augen, schüttelte den Kopf. »Alles haben s' zahlt. Und nobel!«

Auf dem Dachboden wurde bei Laternenschein gearbeitet. Beim Abbrechen der Bühne waren ein paar Burschen behilflich. Sie ließen sich nicht bezahlen, sondern taten es aus Dankbarkeit für die »griechische Freud«, die ihnen ins Herz gefallen. Während sie mit Jarno dabei waren, die bemalte Leinwand über die Hölzer zu rollen, packten Bruder Laertes und Schwester Aurelia die Kostüme ein. In dem letzten Koffer, der geschlossen wurde, lag zuoberst ein blauer Mantel mit silbernen Fransen.

Gegen elf Uhr war die Arbeit auf dem Dachboden zu Ende. Als im Hof die langen Leinwandrollen und die Koffer aufgeladen wurden, standen die Leute in Gruppen um den bunten Wagen her. »Schad is, daß s' furt müssen!« Einer sagte: »Da hätt mich kein Geld net greut. A jedsmal hätt ich einimüssen!« Und drüben, im schwarzen Schatten der Bäume, legte ein Bursch den Arm um den Hals seines Mädels: »Gelt, Schatzl, da denken wir unser Lebtag dran!«

»Halt ja! Dö haben unser Glück gmacht, weißt! Ebbes Schöners kommt uns nimmer!«

Das hörte Mariane, die aus dem Haus gekommen war und den Hof verließ. Sie atmete auf, als hätte sie mit diesem flüsternden Wort eine Wohltat empfangen. Den Mantel um die Schultern, in der Hand den Blumenbusch, den sie von der Mühlbacher Alm mit heimgebracht hatte, ging sie der Kirche zu. Vor dem Kaplanhaus, an dem die ebenerdigen Fenster erleuchtet waren, blieb sie stehen. Dann trat sie in den kleinen, verwilderten Garten. Eines der Fenster stand offen, mit einer weitmaschigen Spitzengardine verhangen. Mariane sah in einen kahlen, weiß getünchten Raum. Neben dem Fenster schlief in einem Lehnstuhl die alte Hauserin, von der das Nannerl die geweihte Kerze gekauft hatte. Und der hochwürdige Herr Christian Schnerfer, in einem schwarz gebundenen Büchl lesend, saß beim Schein der Lampe vor dem Bett, auf dessen Kissen Michael Innerebner wie in stillem Schlummer ruhte.

»Milka!« schrie auf der Straße eine Stimme. »Milka!«

Erschrocken, mit hastiger Bewegung, legte Mariane die Blumen auf das Gesims des Fensters und eilte davon. Als sie die Straße erreichte, floß ein matter Schimmer um sie her. Hinter dem Hohen Schein war die Mondsichel hervorgetaucht, größer und heller, als sie gestern gewesen.

Jarno stand vor dem Wirtsgarten. »Mädel! Wo warst du denn?«

Schweigend ging sie an ihm vorüber und stieg in den bunten Wagen, in dem sich's Aurelia bequem machte, während Philinchen klein zusammengekauert in einer Ecke saß. Auf dem Bock hielt Bruder Laertes die Zügel der beiden Pferde. Als Jarno einstieg, gab es um den bunten Wagen her ein erregtes Gedräng. Von den Burschen und Mädeln wollte jedes noch den Schauspielern zu dankbarem Abschied die Hand reichen. Während der Wagen schwerfällig hinausschwankte auf die Straße, begannen die Burschen ein Jodeln, wie man es in Langental nimmer gehört hatte, seit vor sieben Jahren der Bürgermeister Hochzeit gehalten. Eine Strecke lief das junge Volk noch im Mondschein neben und hinter dem bunten Wagen her, immer jauchzend. Einer sang mit gellender Stimme :

»Pfüat enk, ös Göthinger,
Z'gaach fahrts mer a'!
Bals amal wiederkimmts,
Bin i glei da!«

Und ein anderer schleuderte mit klingendem Schrei den Hut in die Luft:

»Berliggo, berloggo,
Pfüa Gott mitanand,
Mein Schatzl, dös bleibt mer,
Und 's griechische Land!«

Schwester Aurelia winkte mit weißem Tuch aus dem Fenster, während Mariane in der Ecke des Wagens das zitternde Philinchen umschlungen hielt. Jarno, dem der lärmende Jubel nicht in die Stimmung der Stunde paßte, steckte an der Vorderseite des Wagens den Kopf zu einem kleinen Schubfenster hinaus und rief: »Hau drein, Bruder, und laß die Gäule laufen!« Als der Wagen mit rasselnden Fenstern so flink dahinging, blieb von den jauchzenden Pärchen eines ums andere zurück. Und die Straße wurde dunkel, weil die Baumkronen des Scheidhofes den Mond verdeckten.

Hinter dem Weiherwald überholten die trabenden Gäule einen einsamen Fußgänger: den Mamertus Troll, der zum Hohen Schein hinaufstieg. Behaglich wanderte er durch die schöne Nacht, auf der Schultern den Plunder, zwischen den Zähnen die Pfeife, die ihm das Zenzle geschenkt hatte. Seit einer Weile war die Pfeife schon ausgegangen, aber der Mertl schmauchte immerzu. Als er hinaufkam zu seinem Daxenhüttl, vergönnte er sich noch eine und setzte sich, um sie auszurauchen, in den stillen Wald. Stockfinster war es um ihn her. Der Moosjäger schaute mit den Augen seines Herzens in die Nacht und sah den lachenden Tag seines Glückes. In dieser Helle war für den Mertl nur ein einziger Schatten: das verstörte Gesicht, das er an seinem Herrn und Heiland gesehen hatte.

Dran mußte er noch denken, als er schon aus der Pritsche lag. Bis in seine Träume ging es ihm nach. Er träumte : der Pfarrhof brennt, die Gendarmen verhaften den jungen Scheidhofer als Brandstifter, und da rennt der Mertl wie ein Narr hinter ihnen her und schreit immer, daß es ein anderer gewesen wäre, der in der Nacht vor Ausbruch des Brandes durch den Pfarrgarten gesprungen. Das könnte er beschwören. Drum wird auch der Mertl festgenommen und vor Gericht geführt. Er steht vor dem Staatsanwalt, der den Pfarrer einen »erbarmungswirdichen Abchebrannten« nennt, über den vulgo Scheidhofer ganz das gleiche sagt wie damals über den vulgo Moosjäger, und sonderbar spöttisch lächelt, als der blasse Mertl zum Eid berufen wird. Schon hebt der Moosjäger die Hand zum Schwur, der die Freiheit seines Herrn bedeutet. Aber das Wort will ihm nicht von der Zunge, vor Angst bricht ihm der Schweiß am ganzen Körper aus –

Da erwachte er. Und war mit einem Sprung vor der Hütte. »Gott sei Lob und Dank!«

Der Morgen war noch grau. Der Moosjäger kochte den röschen Schmarren, der aushält für den ganzen Tag, und ging an die Arbeit. Er schanzte, daß der neue Weg einen festen Sprung zur Höhe machte. Dann hatte er in der Nacht einen gesunden Schlaf, den ihm kein Staatsanwalt verbitterte.

Am andern Vormittag hörte er drunten im Dorf die Glocken läuten. Die klangen zu dem Besuch, den das Fritzele den Großeltern machte. Mertl stand mit dem Hut vor der Brust und betete, bis die Glocken schwiegen. »Da muß er wieder a harts Stündl haben, mein Herr!« Das ging ihm nicht mehr aus dem Sinn den ganzen Tag. Ein Volkswort sagt: wenn du recht treu an eines denkst, so muß es kommen. Vor strenger Wissenschaft wird dieser Glaube nicht bestehen können. Sonst hätte das Zenzle vom Morgen bis zum Abend nichts anderes zu tun gehabt, als auf den Hohen Schein zu rennen. Aber ein bißchen was Wahres muß wohl dran sein. Als sich der Mertl in der roten Dämmerung den »luketen Schmarren« kochen wollte, der nicht drückt, und vor dem Hüttl den Teig anrührte, kam Walter über den neuen Weg herauf, einen langen Lodenmantel auf der Schulter, den Hut in der Hand. »Jesses, mein Herr!« Mamertus stellte die Holzschüssel ins Moos und rannte durch den Wald hinunter. »Ja, grüß Ihnen Gott, Herr Scheidhofer! Wie kommen S' denn auf d' Nacht da auffi?«

»Schlafen will ich bei dir im Wald. Ich muß ein paar Stunden Ruhe haben. Drunten find ich sie nicht.« Walter strich das feuchte Haar aus dem erschöpften Gesicht. »Und morgen früh mußt du mit mir hinüber in die Schluchtleite, um das Bauholz anzusehen, das der Zimmermann geschlagen hat.«

»Da hab ich schon a Sprüngl ummigmacht, weil ich gestern allweil hacken hab hören. D' Leut haben sauber gschafft. Kein' Baum haben s' gschlagen, der stehnbleiben hätt müssen, und keiner liegt, der net zum brauchen is. Und der Zimmermeister hat gsagt: Da muß er zfrieden sein, der Scheidhofer! Ja, Mensch, hab ich gsagt, dös hat dir unser Herrgott eingeben, daß dei' Arbeit in Ordnung is. Freilich, hat er gsagt, sonst tät's pfeifen, sakra!«

Walter lächelte müd. Es war seit dem Handel um das Scheunendach nicht das erstemal, daß er solcher Sorge vor dem Donnerwetter seines Zorns begegnete. Drunten im Scheidhof sprangen die Dienstboten wie die Wiesel, wenn sie den Herrn sahen. Freilich, mit einem, vor dem sich ein Kerl wie der Bonifaz nicht zu mucksen getraut, ist nicht gut Kirschen essen.

»Aber kommen S', Herr! Steigen wir auffi zum Hüttl!«

»Hast du was zu essen, Mertl? Mich hungert.«

Dem Moosjäger schoß vor Freude über die Ehre, die ihm da geschah, das Blut ins Gesicht. »Herrgott! Jetzt koch ich aber auf!« Droben bei der Hütte griff Mertl die Kocherei mit Eifer an. Die Arbeit machte ihm so heiß, daß er immer den Kopf auf die Seite beugen mußte, damit nicht ein Schweißtröpfl in die Pfanne fiele. Je schweigsamer Walter blieb, desto redseliger schwatzte Mertl drauflos. Unter den hundert Dingen, von denen er schwatzte, war kein Wort von den Ehrenreichischen, kein Wort vom Friedhof und der Sägmühle, kein Laut von Gottes Gerechtigkeit und kein Schnaufer von seinem eigenen Glück. Schließlich wurde auch der Mertl still. Und plötzlich sagte er: »Mar' und Josef! Herr! Ich bitt Ihnen ums Himmels willen! Reden S' doch a Bröserl! Ich weiß mir ja nimmer z'helfen mit Ihnen.«

Walter hob das Gesicht. »Moosjäger? Glaubst du an Gott? Glaubst du an das Leben?«

»Wie der Tag an d' Sunn! Dös habts mir predigt beim Weiher drunt. Jetzt glaub ich dran.«

»Dann hilf mir auf mit deinem Glauben! Mich will er verlassen. Alles, was ich gefunden, ist mir in Stücke zerbrochen. Alles, was so schön war! Alles ist mir ins Bodenlose gefallen, wie dem armen Nannerl das liebe, junge Leben.«

Mertl schwieg. Es wühlte und zuckte in seinem Gesicht. Und plötzlich riß er die Pfanne vom Feuer. »Sakra! Jetzt hätt ich schier gar den Schmarren anbrennen lassen!« Wütend stocherte er mit dem Scharrlöffel die Speise durcheinander. »Es hat bloß so an Rauchen gmacht. Schmecket is er noch net worden, der Schmarren!« Er legte ein rußiges Brettl auf die Bank, stellte die Pfanne drauf, brach von der nächsten Buche einen kleinen Zweig und begann mit dem Messer ein flinkes Geschnitzel. »Z'allererst essen S' mir jetzt a Bröckl! Ös müßte an damischen Hunger haben. Da kommen eim allweil söllene Gedanken, und alls schaut sich an wie der Ruß an der leeren Pfann!« Mertl schob seinem Herrn und Heiland ein sauber zugespitztes Hölzchen in die Hand. »Mein' schmierigen Löffel mag ich Enk net anbieten. Drum hab ich so a Stupferl gmacht. Da könnts die besten Schmarrenbröckln dermit auffistechen. Also! Packen wir's an!« Er setzte sich rittlings über das andere Ende der Bank und nahm, des guten Beispiels wegen, den Löffel so voll wie möglich. »Herrgott! Heut is er mir aber graten! Der hat an Gusto, als ob ihn 's Zenzle gmacht hätt.«

Kein überlegtes Wort, auch nicht der wärmste Trost, hätte auf Walters wirre Seele so beruhigend wirken können wie diese simple Natürlichkeit, die bei allem Ernst, mit dem es der Mertl meinte, doch einen Zug von Humor hatte. Walter begann zu »stupfen«. Das ging immer flinker. Gierig stillte er an der derben, schmackhaften Speise seinen Hunger. In diesen letzten Tagen hatte er nur manchmal einen Bissen hinuntergewürgt, den ihm das Walperl aufgenötigt. Jetzt verlangte die Natur ihr Recht, so energisch, daß der Mertl dachte: »Da muß ich mich zruckhalten, sonst kriegt der Herr net gnug.«

Der Hohe Schein warf seine letzte Glut wie einen rosigen Schleier über den dämmerstillen Wald, während Mamertus Troll unter der schönsten Buche für seinen Herrn das Mooslager richtete. So mollig schüttete er auf, daß Walter, als er sich ausstreckte, wie auf Daunen lag. »Gelt, da haben S' es gut! Und passen S' auf: so a feins Nachtl im Wald, dös is wie a Brünndl voller Frischen. Morgen hat Enker Sorg an anders Gsicht!« Mertl breitete den Wettermantel über den Ruhenden. »Und wissen S' nimmer, was S' mir predigt haben beim Weiher? Von die festen Bäumln, die sich allweil wieder aufrichten nach'm Schnee? Bei Enk is der Herzkern gsund. Da kann's net fehlen. ›Hab ich net recht?‹ sagt der Peterl zum Schimmel.«

Schweigend reichte Walter dem Mertl die Hand.

Da fing der Moosjäger von seiner Holzmeisterei zu schwatzen an, vom kommenden Tag, vom Bauholz aus der Schluchtleite, von den Überständigen, die man zu Brennholz niederschlagen mußte, und von dem Nachwuchs auf dem neuen Schlag. Bis in die späte Dunkelheit redeten die beiden nur noch von der Arbeit, die während des Winters in den Scheidhofer Wäldern zu leisten war. Dann wurden sie still. Und Walter, die Hände unter dem Nacken verschlungen, blickte zu einem Stern hinauf, der in der sinkenden Nacht mit hellem Feuer durch eine Lücke des Laubdaches schimmerte. Der Moosjäger saß gegen den Stamm einer Fichte gelehnt und schmauchte sein Pfeifl. Das hielt ihm lange die Nase warm. Als es endlich erloschen war, fragte Mertl flüsternd: »Herr Scheidhofer?« Und lachte leis. »Gott sei Lob und Dank! Jetzt hat's ihn ummigrissen in an gsunden Schlaf.«

Nach diesem stärkenden Schlummer fühlte Walter sich so gekräftigt, daß ihm kein Weg zu mühsam wurde, den der Tag ihm brachte. Als sie das Bauholz auf der Schluchtleite besichtigt hatten, wanderten sie in den Scheidhofer Wäldern von einem Bestand zum anderen, um alle forstlichen Wirtschaftspläne an Ort und Stelle durchzureden. Dabei hatte Walter immer das Gefühl, als ginge Mathilds Vater neben ihm her. Jedes Wort, das der Scheidhofer zu seinem Holzmeister sagte, war ein Wort und ein Gedanke des alten Herrn. Dieses Erinnern gab ihm eine Ruhe, die ihn froh machte bei der Arbeit und in ihm die Freude an seinem schönen Besitz wieder erwachen ließ.

Müd bis in die Knochen, und dennoch aufgerichtet, trat er gegen Abend den Heimweg an. Der Hunger zwang ihn, Einkehr in einem kleinen Wirtshaus zu halten. Er blieb im Freien sitzen. Durchs Fenster sah er in der Stube eine heitere Gesellschaft, die ihm auffiel. Es war die Schrottenbacher-Vev mit ihrem Vater, dabei ein alter Bauer und ein junger vierschrötiger Bursch. Walter erinnerte sich, diesen Burschen im Roten Hirschen gesehen zu haben, als die »Iphigenie« gespielt wurde.

Welch einen Sturm von Erinnerungen das in ihm weckte!

Die Sonne ging schon hinunter, als er den Rest des Weges heimwanderte. Wie ein hellender Blitz war es ihm durch Herz und Kopf gefahren – jenes Wort, mit dem sich Aurelia aus seinen Armen gewunden: »Man sucht Sie!« – und dann im Hof das Wort des Sägmüllers: »Aber Thilde, da ist er ja!« – und Mathilds verändertes Wesen seit jener unseligen Stunde! Jetzt verstand er's. Weil er zurückgeblieben, hatte sie ihn gesucht und hatte jene andere in seinen Armen gefunden.

Er kam zum Weiher, als der Abend zu leuchten anfing. Wie schön das war: die rote Glut auf dem Wasser, das den brennenden Himmel spiegelte. Über dem glühenden Spiegel war's wie ein seiner Schleier von den tausend schwärmenden Mücken. Und die Forellen sprangen. Wie kleine, silberne Flammen zuckten die Schuppenleiber aus der Glut des Weihers.

Walter sah das nicht. Vor dem Stein, um den die Blumen blühten, warf er sich auf die Bank. In seinem Herzen war keine Sorge um sein Glück, nur der quälende Gedanke, daß Mathild gelitten hatte, und daß ihr der Irrsinn seines jäh erwachten Blutes diese schweren Tage noch schwerer gemacht! Wie hätte der Glaube an ihr Glück sie trösten können in allem Schmerz! Das hatte seine Torheit ihr genommen. Wie Feuer war in seiner Seele der Zorn, den er über sich selbst und seine Narrheit empfand. Daß Mathild ihm gut war, seit jenem Abend schon, an dem sie das Trio von Haydn spielte – das wußte und fühlte er.

Noch heute wollte er zu ihr in die Mühle! Und alles vor ihre lieben Füße hinschütten, was in seinem Herzen war, tief und heilig! Die heiße Stirn zwischen den Fäusten, sann er die Worte aus, mit denen er der Geliebten alles sagen wollte, und überhörte den leichten Schritt, der sich auf dem Kiesweg näherte.

Von der Straße, die der Wald verdeckte, klang das Rollen eines leichten Wagens, vor dem die Gäule gemütlich zu gehen schienen.

Immer sprangen die Forellen. Da wurde wohl den schwärmenden Mücken mit ihrer Nächstenliebe das Retten sauer.

Verhüllt von den schwarzen Schleiern, die vom Hute niederflossen, kam Mathild den Fußweg vom Scheidhof hergegangen. Sie wollte die Stätte besuchen, die ihr heilig war durch die Erinnerung an die Mutter. Erschrocken verhielt sie den Schritt, als sie den Scheidhofer auf der Bank gewahrte. So stand sie lange, ohne sich zu regen. Dann wandte sie sich ab, trat vom Wege hinaus auf den grünen Boden und ging durch den Wald zur Straße hinüber.

Immer tiefer färbte sich die Glut des Weihers. Über den Kronen der Bäume, die still um das Wasser standen, lag es wie der Widerschein eines großen Feuers.

Auf der Straße verstummte das Geräusch des Wagens. Dann rasselten die Räder wieder, und die Hufe der Gäule klapperten in flinkem Takt.

Walter blickte erwachend auf. Er nahm den Hut ab und strich mit der Hand über die Stirne. Wie ruhig war's in ihm geworden! Aufatmend trat er zu den Blumen hin und legte die Hand auf den grauen Stein.

»Wie sehn' ich mich, Natur, nach dir,
Dich treu und lieb zu fühlen!
Ein lust'ger Springbrunn wirst du mir
Aus tausend Röhren spielen!

Wirst alle meine Kräfte mir
In meinem Sinn erheitern
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit erweitern!«

Sein Gefühl in diesem Augenblick war heiße Dankbarkeit für jene Stunde, die ihn zu diesem Stein geführt.

Als er im leuchtenden Abend zur Villa kam, sah er das Walperl auf dem Brunnen sitzen, zusammengeduckt und mit verweintem Gesicht. Der Bonifaz war bei ihr und redete dem Mädel freundlich zu. Beim Anblick seines Herrn zog Venantius Gwack die Stirn in Falten und sagte: »Scheidhofer, heut hast wieder amal zwei linke Füß ghabt.« Verdrossen ging er davon.

»Walperl? Was ist denn?«

»Ja wissen S' denn nix, Herr Dokter?«

»Was soll ich denn wissen?«

»Unser Fräulen is furt! Den ganzen Tag is 's Fräulen dagwesen in der Villa und hat in die Stuben alles verhängt und hat ihre Sachen einpackt. Und vor eim halben Stündl is 's Fräulen davongfahren, in d' Stadt eini, zu eim Basl von ihrem Vater. Jetzt hocken wir da wie die einschichtigen Hehndln auf'm Mist.« So drollig das Walperl in seinem Schmerz das auch herausbrachte, auf Walter wirkte das Wort nicht heiter. Blässe war ihm über das Gesicht geronnen. Wie ein Verrückter sprang er ins Haus. Er wollte in die weiße Stube. Die Tür war verschlossen. Im Wohnzimmer waren alle Möbelstücke und das Piano mit grauer Leinwand bedeckt. Der Käfig mit dem Rotkehlchen war verschwunden. Und an Mathilds Zimmer wieder eine versperrte Tür.

Er trat ins Freie und ging verstört aus das Mädel zu. Wütend wischte sie mit der Schürze über das verweinte Gesicht. Für Walters Schreck und Sorge schien sie nicht das geringste Erbarmen zu haben. »Natürlich! Wann sich einer net rührt! Hätten S' es gmacht wie der Bonifaz, und alls war gut!«

Die dunkle Mystik dieses Wortes verstand er nicht. »Aber Walperl –«

Das Mädel wurde immer wütender. »Walperl, Walperl, natürlich, jetzt können S' Walperl seufzen! Aber wie ich Ihnen gsagt hab, Sie sollen am Sonntag die Kirch net versäumen, da sind S' auf die Ohrwascheln gsessen und hinter Enkere narrischen Bücher! Haben denn Sö keine Augen net ghabt? Haben S' denn net gmerkt, daß sich 's Fräulen ihr Herzl aussidürstet um Enk? Und was für a guts Sterbstündl hätt er haben können, unser Herr, wann er 's liebe Glück in der Familli noch gsehen hätt! Was schauen S' denn so? Für alle sind die Göthianer dagwesen. Bloß für Enk net! Aber freilich, nimmst dir nix, so hast halt nix! Herrgott, es is schon wahr, was er sagt, mein Bub! Mit so eim philosophischen Lippl hast dein Kreuz hint und vorn!« Sie ließ ihn stehen und ging ins Haus, ohne zu ahnen, wie günstig ihre gereizte Predigt auf Walters verstörte Seele gewirkt hatte.

Er konnte lächeln. An einem der Rosenbäumchen strich er zärtlich mit den Fingern über die weißen Bastfäden, als wäre die liebe Hand noch da, die in einer Stunde des Schmerzes diese Fäden gebunden hatte. Wie rotes Feuer war der Glanz des Abends um ihn her. Die Baumkronen des Scheidhofes verdeckten den Hohen Schein. Doch Walter sah ihn mit den Augen seiner Seele. Und wie ein leuchtendes Wunder stand der weisende Schein seines Glückes vor ihm, von der Sonne redend, die wiederkommen muß an schönem Morgen.

»Dokterle!« Der hochwürdige Herr Christian Schnerfer kam aufgeregt über den Kiesweg hergezappelt. »Ja sagen S' mir nur, Dokterl, was ist denn mit unserm Thildele?«

»Die macht eine Reise.«

»Das können Sie so ruhig sagen?« Der Pfarrer atmete auf. »Wie das Kind heut bei mir war, um Adieu zu sagen, und wie ich von Ihnen geredet hab und die Tränen sind ihr übers Gesicht gefallen, da ist mir's wie ein kalter Schreck durchs Herz gefahren: es muß mit euch zwei was Ungutes geschehen sein?«

»Nein, Hochwürden! Wir haben uns lieb.«

»Gott sei Dank! Jetzt bin ich wieder leichter um eine Sorg. Und jetzt versteh ich's. Wie ich ihr gesagt hab, daß sie bleiben muß, ihrem Bruder und der armen Rosl zulieb, da hat sie mir zur Antwort gegeben: Das ist Schmerz, der mit sich allein sein will! – Das Thildele ist fort, damit sich die zwei armen Leutln in der Sägmühl draußen fester aneinanderhuscheln.«

Walter schwieg.

»Für mich ist's ein hartes Stückl!« Der Pfarrer trocknete mit dem blauen Taschentuch die glitzernde Stirn. »Unsere schöne Musik! Jetzt muß ich fasten!« Er seufzte. »Der Schullehrer spielt wohl ein bißl Klavier. Aber wie! Och du lieber Herrgott! Wie wird mir der meinen Bach und Beethoven zurichten!«

»Hochwürden!« Walter faßte die Hand des Pfarrers. »Kommen Sie mit mir hinauf! Wir wollen den Abend zusammenbleiben.«

»Vergeltsgott, Dokterl, ich muß wieder heim, ins Kaplanhaus zum Michele.«

Verwundert sah Walter auf, als er den zärtlichen Klang diesem Namens hörte. »Wie geht es ihm?«

»Gottlob, ein Bröserl besser! Heut hat der Doktor gemeint, daß wir über die Krisis hinüber sind.« Der Pfarrer faßte Walter an einem Joppenknopf und schmunzelte ein bißchen. »Dokterl, jetzt will ich Ihnen was zu raten geben.«

»Was, Hochwürden?«

»Raten S' einmal, von was der Michele im Fieber träumt? Aber das erraten S' net! Ich sag's Ihnen lieber gleich. Wissen S', von was er träumt? Vom schönen Griechenland!« Heiter vor sich hinlachend, ging der Pfarrer davon. Walter sah ihm betroffen nach. Er hatte das seltsame Wort im Zusammenhang mit der stillen Freude des hochwürdigen Herrn sowenig verstanden wie den dunklen Orakelspruch, mit dem sich das Walperl auf den Bonifaz berief. Dieses letztere Geheimnis sollte für ihn eine rasche Lösung finden. Kaum war er allein, kam das Walperl auf ihn zugegangen, an der Schürze nestelnd, ein kampflustiges Geflimmer in den sonst so gutmütigen Augen. »Scheidhofer«, sagte sie, »wie sich alls jetzt anschaut, müssen wir zwei mitanand auf gleich kommen. Daß ich Enk net im Stich laß, wo S' allein dahocken im Haus, dös versteht sich von selber. Aber an mich und mein' Buben muß ich auch denken.«

»Dein Bub! Meinst du den Bonifaz?«

»Wen denn sonst?«

»So weit seid ihr miteinander?«

»Ja! Kunnt sein, daß wir noch a bißl weiter sind. Kurz und gut, heiraten müssen wir halt. Wie gschwinder, wie besser!«

Jetzt hatte er jenes mystische Wort verstanden. Heiß fuhr ihm das Blut ins Gesicht. Dazu lachte er. »Müssen?«

»No ja, mögen tun wir schon auch.«

Walter sah das Mädel eine Weile schweigend an. Dann sagte er: »Geh, Walperl, und hol den Bonifaz!«

Sie machte einen Zuck, um davonzulaufen, blieb stehen und blickte dem Scheidhofer fest in die Augen. »Sie, dös sag ich Enk, schimpfen dürfen S' mein' Buben net! Dös tät ich net leiden.«

»Ich werde nicht schimpfen. Geh nur und hol ihn!«

Walter setzte sich auf den Brunnen. Rings um ihn her war dunkle Glut, und der reine Himmel brannte über ihm. Etwas so Heißes, Dürstendes war in seinem Herzen, daß er zitternd das Gesicht in die Hände drückte.

Das Pärchen kam, Walperl ein bißchen verlegen, Bonifaz so ruhig, wie er immer war.

Walter sah die beiden an und suchte einen leichten Klang des Vorwurfs in seine Stimme zu legen: »Aber! Bonifaz! Wie ist denn das jetzt mit den sechs Jährchen, die du noch warten wolltest?«

»Waaas?« fuhr das Walperl erschrocken auf.

Lachend nickte Bonifaz Venantius Gwack vor sich hin, guckte von der Seite das Walperl an und strich sich mit der Hand übers Haar. »Mein! 's Griechenland is mir halt übern Verstand einigrumpelt. Wann ebbes stärker is wie du, da mußt nachgeben. Schimpfen S' auf'n Göthinger! Ich kann nix dafür.«

»Da geht nur morgen gleich zum Pfarrer, daß er eurem Heidentum den christlichen Segen gibt! Fürs andere sorg ich schon. Daß du bei mir bleibst, Bonifaz, das ist abgemacht. Verlange, was du für richtig hältst, und das geb ich dir. Das Walperl behält seinen Lohn wie bisher. Drüben im Scheidhof geb ich euch die zwei großen Stuben im Oberstock und laß euch eine Küche hineinbauen. Da könnt ihr gemütlich miteinander hausen. Seid ihr zufrieden?«

So zufrieden waren sie, daß sie zu danken vergaßen. »Jesses! Bub! Jesses!« Walperl streckte die Arme an ihrem Griechen hinauf, und Bonifaz drückte das Mädel an sich, daß es stöhnte. »Gelt, Schatzl, jetzt kannst wieder schlafen?«

Walter hatte sich abgewandt. In der sinkenden Dämmerung ging er auf die Wiese hinaus und ließ sich auf den Baumstock nieder, auf welchem Mathild an jenem Abend ruhte, als der alte Herr die beiden aus der weißen Stube geschickt hatte, damit sie die in Schönheit brennende Erde schauen möchten.

So glanzvoll wie an jenem Abend war es heute nicht. Nach dem heißen Tag war in den Lüften ein feiner Dunst, der die leuchtenden Farben dämpfte und wie ein bläulicher Schleier über dem Tal und um die Berge hing. Nur draußen in der Ferne, auf dem Hohen Schein, waren die Wälder anzusehen wie ein welliges Rosenfeld, auf dem alles Grün versunken liegt unter purpurnen Blüten. Gleich einem gezackten Goldstreif blinkten im roten Wald die Linien des neuen Weges. Und über den taghellen Almen hob sich die reine, schöne Fackel des Berges in das tiefe Blau der kommenden Nacht.


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