Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Übermütige Heiterkeit füllte das Herrenstübchen des Wirtshauses. Die merkwürdigen Brüder und Schwestern vom Thespiskarren hatten eine reichliche Mahlzeit eingenommen, saßen beim schwarzen Kaffee, und der Qualm der Zigaretten durchduftete die Wirtsstube mit Ägyptens Wohlgerüchen.

Die Blonde hatte bei einem Blick durchs Fenster gesehen, daß Walter kam. »Da naht sich unsres Friedens holder Bote.« Sie trällerte die Weise aus dem Freischütz: »Max bringt gute Zeichen mit!« In lustigem Aufruhr drängten alle zum Fenster. Nur die ruhig Stolze bewahrte ihre Würde und sagte zur Schwarzen: »Milka, wirf die Zigarette weg!«

»Ach, Unsinn, weshalb denn?«

»Alles Unweibliche irritiert einen teutschen Jüngling.«

»Schwester Aurelia!« fiel Jarno ein. »Keinen Vertragsbruch! Wer ist Milka? Ein Name, deinem Ohr so fremd wie meinem Herzen!«

»Kinder«, rief die Blonde, »ich bin rasend neugierig, wer siegen wird, die Kunst oder die Kirche!« Lachend huschte sie zur Stube hinaus. Die anderen folgten, als letzter der schlanke Reiter, der erst noch eine frische Zigarette aus einer goldenen Dose nahm, in deren Ecke ein Rubin funkelte. Als er in den Hof hinauskam, standen die anderen schon um Walter her, der seine papierene Friedenstaube der ruhig Stolzen hinreichte. »Der Pfarrer hat seine Zustimmung gegeben. Sie brauchen nur dieses Blatt beim Bürgermeister vorzuweisen.«

»Dank, edler Gönner!« sagte das schöne Mädchen mit Wärme. Und Jarno fiel ein: »Dieser Dank war uns allen aus dem Herzen gesprochen. Dürfen wir den Namen des fürtrefflichen Mannes kennen, dem wir verpflichtet sind?«

Walter zögerte, bevor er seinen Namen nannte. Er schien sich inmitten dieser merkwürdig stilvollen Menschen nicht behaglich zu fühlen.

»Ihr Name, Herr Doktor, wird goldene Wohnungen in unseren Herzen haben. Gestatten Sie, daß ich Sie mit meinen tapferen Mitkämpfern auf dem Felde der Kunst bekannt mache. Ich selbst, dessen Händen das Wohl und Wehe dieser auserlesenen Truppe anvertraut ist, heiße Jarno. Eigentlich sollte ich auf den Namen Serlo getauft werden. Aber Jarno gefiel mir besser. Das ist der Typus des geistig Überlegenen.«

»Und eines höchst verdorbenen Herzens!« kicherte die Blonde.

»Nicht vorlaut, Philinchen! Auch du kommst an die Reihe.« Jarno legte die Hand auf die Schulter der ruhig Stolzen. »Das ist Aurelia, die klügste von allen Schwestern. Ein Bild antiker Ruhe! Doch nur äußerlich. Auf der Bühne bricht die Flamme ihres Innern durch und zerreißt ihr das eigene Herz. Mit Vorliebe hört sie die Bekenntnisse schöner Seelen an und spielt in unbewachten Augenblicken gerne mit einem Dolch, an sich ein harmloses Instrument, kann aber unter Umständen gefährlich werden.«

Die anderen lachten, als wäre jedes Wort, das Jarno sprach, ein glänzender Witz. Sogar die ruhig Stolze schmunzelte. Nur der schlanke Reiter schien sich nicht auf der Höhe des Verständnisses zu bewegen und lachte manchmal, als wüßte er nicht recht, warum. Für Walter begann der Auftritt unerquicklich zu werden. Das alles klang ihm wie Unsinn, und dennoch fühlte er: das hat versteckten Sinn.

»Tritt näher, du heißes Herz!« sagte Jarno und winkte der Schwarzen. »Hier sehen Sie unsere Mariane, die geliebte Kreatur! Sie ist artig und natürlich, in mancher Hinsicht gefällig und in jedem Sinne leidlich. Der gute Norberg schenkt ihr zuweilen ein Stück Musselin zum Nachtkleide. Aus uneigennütziger Großmut, die ihre herrschende Leidenschaft ist, nimmt sie sich mit großem Eifer der Unmündigen liebreich an. Um es kurz zu sagen: ein süßes Geschöpf! Hat nur den einzigen Fehler, daß sie schläfrig wird, wenn von einem Puppenspiel die Rede ist.«

»Bruder Jarno«, sagte der Schwarzkopf mit den träumerischen Augen, »an dir ist ein Menageriedirektor verlorengegangen! Du hast eine Art, die wilden Tiere vorzuführen –«

»Ahnungsvoller Engel! Es ist als Regisseur doch meine Aufgabe, die Affen menschlich herauszuputzen und die Pudel tanzen zu lehren. Tritt näher, Philinchen! Noch näher!«

Die Blonde knickste im zierlichsten Menuettstil. »Spare dir die Mühe! Ich setze mich selbst in Szene.« Wie am Schnürchen plauderte sie das Folgende her: »Man nennt mich Philine, die angenehme Sünderin. Auf den Dank der Männer pfleg ich nie zu rechnen. Hab ich einen lieb, was geht's ihn an? Mein Haar ist blond, nur die Schramme fehlt auf meiner Stirn. Obwohl ich also nicht im geringsten gezeichnet bin, muß man sich doch hüten vor mir!« Sie streckte graziös das niedliche Füßchen über den Saum des Kleides vor. »Mein Pantöffelchen ist eine gefährliche Waffe!«

Die anderen klatschten. Nur Jarno zuckte die Achseln. »Man darf ihr den Handel nicht verderben. Ich bin ihr Freund, weil sie mir das Geschlecht so rein darstellt. Die wahre Eva!«

»Vor oder nach dem Sündenfall?« fragte der Schlanke.

»Bravo!« applaudierten die anderen, als wäre bei dem Schlanken solch ein Aufblitzen des Humors eine Rarität.

Walter, der wie auf Kohlen stand, wollte einen Versuch machen, sich zu verabschieden. Jarno nahm seinen Arm. »Noch einen Augenblick Geduld, Herr Doktor! Auch mein Bruder Laertes geizt nach der Ehre, sich vor Ihnen neigen zu dürfen.« Er winkte dem schönen Schwarzkopf. »Tritt näher und lege den Trauermantel deiner Seele in stolze Falten! Darauf versteht er sich. Im übrigen ist er ein wackerer Jüngling, ein großer Fechter vor den Damen. Aber die Limonaden, die sie brauen, findet er matt. Der arme Narr ist ein Weiberfeind.« Unter allen Scherzen Jarnos weckte dieser letzte das lauteste Gelächter. »Doch geht die Rede, daß er zur Abwechslung auch ein kleines Abenteuer nicht verschmäht. Ein solches will ich dir gönnen, Bruder! Nimm dieses inhaltsschwere Blatt, wandle zum Bürgermeister und bahne der Kunst eine Gasse! Wir andern wollen unser Werk mit Ernst bereiten!« Würdevoll verneigte er sich vor Walter.

Da rief der Schlanke: »Na, Jarno? Bin ich als Kunstjüngling à la suite gestellt?«

»Oh! Wenn Sie wünschen?« Jarno präsentierte den Schlanken mit zeremoniöser Geste: »Unser Meister! Und um ihn ganz zu nennen: unser Willy Meister! Ich könnte auch sagen: Willy von Meister.« Da lachten die anderen schon. »Er ist ein Kind aus bestem Hause. Am Tage schwebt er in höheren Regionen. Kommt die Nacht, so hüllt er sich in seinen Mantel, alle Lindors und Leanders im Busen, immer bestrebt, den Gegenstand seiner Leidenschaft zu adeln. Dabei entdeckte er seine Bestimmung fürs Theater, das er allzusehr liebt, um es recht zu kennen.« Jetzt gab es ein Klatschen und Lachen, daß Jarno die Verpflichtung fühlte, sich dankend zu verbeugen. »Aber auch einen Vorwurf hab ich ihm zu machen. Der ernsten Verpflichtung seines Namens, mit Vorliebe den Hamlet zu erklären, ist er bis heute nicht nachgekommen. Das ist aber auch das einzige, was er schuldig bleibt. Seine Gesinnungen sind edel, seine Absichten die lautersten, nur seine guten Vorsätze scheinen verwerflich. Kurzum: ein feiner Paradiesvogel!«

»Bravo, bravo!« scholl es von allen Seiten, und Willy Meister applaudierte wie ein Theaterhabitué im Ballett.

Walter, dem das Gesicht vor Unmut brannte, hielt den Augenblick gekommen, diese sonderbare Komödie für beendet zu betrachten. Ohne ein Wort zu sagen, zog er den Hut und ging in die Wirtsstube, um seine Mahlzeit einzunehmen. Mit verdutzten Augen sahen ihm die Schauspieler nach. »Es scheint, der gute Jüngling aus dem Philisterlande hat uns den Scherz übelgenommen?« sagte Mariane.

Philinchen kicherte: »Er hat ihn nicht kapiert.«

»Du bist wohl verrückt?« meinte Aurelia mit stolzem Achselzucken. »Das ist doch ein gebildeter Mensch. Auf kluge Augen versteh ich mich.«

»Besonders, wenn sie schön sind. Schöne Augen hat er.« Philinchen zwitscherte die Melodie auf dem Faust: »Lasse miiiich, lasse miiiich!«

»An die Arbeit!« mahnte Jarno. »Ihr, Mädels, sorgt euch um die Garderobe! Ich seh mich nach ein paar Leuten um, dann wird die Bühne aufgeschlagen.«

Mariane und Philinchen kletterten mit Lachen in den bunten Wagen, während Aurelia nach einigem Zögern rasch in das Haus trat. Dort sah sie Walter in der Bauernstube an einem Tische sitzen. Lächelnd ging sie auf ihn zu. »Verzeihen Sie, Herr Doktor!«

Die Brauen furchend, erhob er sich. »Womit kann ich dienen, Fräulein?«

»Nach der Art, wie Sie uns verließen, muß ich fürchten, daß der kleine Komödiantenscherz da draußen Sie verstimmte?«

Die Liebenswürdigkeit, mit der sie sprach, beschwichtigte seinen Ärger. »Ich muß gestehen, daß ich mir nicht sehr erquicklich vorkam. Das ist wohl nur meine Schuld. Ich habe diesen Scherz nicht verstanden.«

»Wirklich?« Sie lächelte ungläubig und sah ihn mit ihren halbverschleierten Samtaugen prüfend an. »Aber ich weiß, warum Sie das sagen. Und merke, daß Sie mir nicht böse sind. Das wäre mir leid gewesen. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für den Dienst, den Sie uns geleistet haben.« Dabei reichte sie ihm ihre Hand und umschloß seine Finger mit leisem Druck, so lind, wie sich der Kelch einer Rose anfühlt. »Sie kommen doch, wenn wir spielen?« Grüßend neigte sie den schönen, stolzen Kopf.

Als sie ging, brachte die Kellnerin für Walter die Suppe: einen kleinen See von Fleischbrühe mit einem großen Speckknödel drin. In Wohlgefallen sah das Mädel der Schauspielerin nach. »Kreuzsackra! Is dös a saubere Person!« Sie lachte. »Wann ich a Mannsbild war, meiner Seel, bei der tät's mir auf a paar Todsünden net ankommen!«

Ans der Schwelle erschien ein Mädchen – oder war's eine junge Frau? – ein paar Jahre über die zwanzig, ärmlich gekleidet, mit einem irdenen Krug in der Hand. Aus dem blauen Kopftuch, unter dem sich dicke, rotblonde Zöpfe um die Stirne wanden, sah ein schmales, hübsches Gesicht heraus, müd und abgehärmt, mit traurigen Augen. »Kellnerin«, rief sie schon zur Tür herein, »'s Bier für'n Vater, bitt schön!« Dann trat sie in den Flur zurück. Dabei sah man, daß sie ein bißchen hinkte.

»Ja, Zenz, gleich komm ich!« Die Kellnerin rückte den Brotkorb vor Walter hin und ging aus der Stube.

Zenz? Von zweien hatte Walter diesen Namen schon gehört: vom Moosjäger in der Nacht beim Weiher und auf der Fahrt nach Mitterwalchen von dem alten Kutscher, der das Leben mit einem Hasenstall verglichen hatte. Als die Kellnerin wiederkam und ein Brathuhn für Walter auftrug, fragte er: »Die Zenz? Wer ist das?«

»Dem Peterl sein Madl.«

»Peterl? Das ist euer Kutscher?«

»Der Ihnen gführt hat, ja.«

»Dann ist das also die Zenz mit dem Bübchen, das der Pfarrer auf den kurzen Namen Maxl taufte?«

Die Kellnerin schien zu verstehen, wie das »kurz« gemeint war. Sie schmunzelte. »Ja! Hinterm Stall draußt haben s' a Stüberl. Da hausen s' beinander, alle drei. Haben tun s' nix, aber zammhalten tun s' wie die Kletten. ›Meine Haserln‹, sagt der Peter allweil.« Sie wurde durch heiteres Gelächter unterbrochen, das man vom Hof herein hörte. »A lustigs Völkl! Die lachen dem Teufel 's Ohrwaschl weg. Und viel müssen s' verdienen mit der Komödispielerei. So a feins Bürscherl is dabei, dös muß der Kassierer sein, der hat dem Wirt an Hunderter als Gutstand geben. Und mir zehn Markln Trinkgeld. Der gfallt mir.«

Walter hörte nur halb auf das Geplauder des Mädels. Der Moosjäger, die Zenz, der alte Peterl mit seinem Hasenstall und noch mancherlei Dinge schwirrten in seinen Gedanken durcheinander.

Draußen lachten sie wieder. Im Schatten einer Linde, neben dem bunten Wagen, standen die Schauspieler um Laertes, den wackeren Jüngling her, der das Abenteuer, von dem er zurückgekommen, mit Feuer erzählte. Der Bürgermeister hatte es ihm angetan. »Kinder, ein Kopf! Jeder Zoll ein König! Als er mir das gestempelte Blatt überreichte, das war, als hätte er eine Provinz zu verschenken. Ich war in Versuchung, Majestät zu ihm zu sagen und einen Kniefall zu machen. Aber während ich die kostbare Urkund an meinem Busen berge, öffnet sich plötzlich die Tür –«

»Und es speit das doppelt geöffnete Tor?«

»Den Kaplan hervor!« Das gab einen fidelen Aufruhr. »Kinder, jetzt kam eine Szene! Grandios! Als er hörte, daß ich die Bewilligung schon in der Tasche habe, wurde er blaß. Eine Blässe, die jede Louise beschämen könnte. Dann ging's los! Donner und Doria! Kinder? Wißt ihr, was das Theater ist?« Laertes kopierte mit Faust und Stimme den Zorn des Kaplans: »Eine Brutstätte des Lasters!«

Philinchen und Willy Meister lachten, Aurelia zog unwillig die Brauen zusammen, und Mariane fuhr mit zornblitzenden Augen auf: »Das hast du dir ruhig sagen lassen?«

»Gott bewahre! Ich habe die Heiligkeit unseres Tempels verteidigt wie Posa das freie Glück der Niederlande. Aber die Litanei ging weiter. Wißt ihr, was von uns ausströmt? Der Gifthauch der Sünde!«

»So 'n Quatschkopf!« sagte Jarno gelassen.

»Und ihr, Mädels, wißt ihr, was ihr seid? Die geschminkten Hände des Teufels! Fallstricke für reine Herzen! Die ausgebrüteten Eier der Schlange, deren Lügenkunst die Menschheit um das Paradies betrog!« Da deutete Laertes nach der Straße. »Lupus in fabula! Jetzt gibt's ein Lämmerschlachten!«

Michael Innerebner kam vom Haus des Bürgermeisters her, im Sturmschritt. »Den Kerl müssen wir anulken!« erklärte Philinchen energisch. Mariane schob sie zurück: »Den überlaßt mir!« Langsam, in ihrer wiegsamen Art, ging sie auf das Zauntor zu. Innerebner schien nicht die Absicht zu haben, die Schale seines Zornes abermals über die Schauspieler auszugießen. Mit bleichem Gesicht, ohne Mariane eines Blickes zu würdigen, wollte er auf der Straße vorübergehen. Da vertrat sie ihm den Weg, sah mit bittenden Augen zu ihm auf und sagte leise: »Hochwürden, wollen Sie mir erlauben –«

»Ich bitte mir den Weg nicht zu verstellen!« unterbrach er sie heftig.

Ihr schönes Gesicht nahm einen Ausdruck an, als hätte sie eine tiefe Kränkung erfahren. »Die Straße ist breit. Sie können mir doch ausweichen?« Das tat er nicht, sondern blieb vor ihr stehen und betrachtete in Zorn ihr Gesicht. Keinen Blick von seinen Augen wendend, lächelte sie ein wenig und trat zurück. »Ihr Weg ist frei. Ich glaubte zu einem Priester zu sprechen, dessen Rat ein trostbedürftiges Herz nicht vergebens anrufen würde. Statt des Priesters finde ich einen harten, unverständigen Menschen.«

Dunkle Röte glitt ihm über Stirn und Wangen. »Wie ich Ihr Trostbedürfnis aufzufassen habe, das glaub ich trotz meines Unverstandes zu verstehen. Von der Komödiantin hab ich nichts anderes zu erwarten als eine Komödie, die für Zuschauer berechnet ist. Sonst hätten Sie mich nicht hier auf der Straße belästigt. Wer ein Anliegen an den Priester hat, sucht ihn dort, wo er für alle zu finden ist: in der Kirche!« Er ging an ihr vorüber.

»Danke, Hochwürden! Ich werde Ihren Rat beherzigen.« Langsam das Gesicht über die Schulter drehend, sah Mariane dem jungen Priester mit ihren funkelnden Glutaugen nach.

Innerebner hatte den Weg zum Pfarrhof eingeschlagen. Als er in den kühlen Flur trat, fiel sein Blick auf das Kreuzbild. Nach einem Augenblick des Zögerns ging er darauf zu, nahm die Knie des hölzernen Bildes zwischen seine Hände und küßte sie. Die Schwester des Pfarrers machte verwunderte Augen. Das hatte der Kaplan noch nie getan, sonst hatte er nur immer den Hut gezogen.

Droben im Musikzimmer saß Pfarrer Schnerfer am Tisch, vor einem aufgeschlagenen Notenheft, in das er kleine, beschriebene Papierblättchen hineinklebte. »Oh? Grüß Gott, Herr Kaplan! Gleich bin ich fertig!« Wahrend er das sagte, bestrich er solch ein Blättchen mit Kleister, drückte es achtsam auf eine Stelle des Heftes und tupfte es mit seinem blauen Taschentuche fest. »Sooo!« Er blickte lächelnd auf. »Also? Was ist los?«

Hut und Stock in der Hand, trat Innerebner zum Tisch. »Herr Pfarrer?« Seine Stimme zitterte vor Erregung.

»Wollen S' Ihnen net ein bisserl niedersetzen?«

Der Kaplan blieb stehen. »Wie ich beim Bürgermeister erfahren mußte, haben Sie den Komödianten die Bewilligung erteilt. Sie wußten wohl nicht, daß ich die Vorstellungen bereits verboten hatte?«

»Doch.«

»Herr Pfarrer?«

»Lassen S' mich ausreden! Ich habe für diese Zustimmung zwei Gründe gehabt. Der erste: daß Sie, mein lieber Herr Kaplan, zu einen. solchen Verbot kein Recht haben. Sie sind keine politische Behörde. Womit ich noch gar nicht sagen will, daß die politische Behörde mit ihrem ewigen Verbieten allweil recht hat. Man soll die Menschen so erziehen, daß sie das Ungehörige von selber unterlassen. Mit dem Verbieten ist nichts geholfen. Im Gegenteil. Unser lieber Herrgott selber hat mit dem Verbieten keine guten Erfahrungen gemacht. Wär dem ersten Menschenpaar der Apfel der Erkenntnis nicht verboten gewesen, sie hätten ihn hängen lassen.«

»Das ist Lästerung!« unterbrach der Kaplan empört.

»So? Meinen S'? Ich soll mir wohl von Ihnen vorschreiben lassen, wie ich mir die alttestamentarische Geschichte vom Sündenfall für mein Verständnis auslegen muß?«

»An Gottes Wort soll man nicht deuten!«

»Herr Kaplan!« Auch der Pfarrer war ein bißchen laut geworden. Er legte die Hände auf das offene Notenheft, als wäre das für ihn ein Talisman der Ruhe. »Sempre piano. Reden wir in aller Ruhe von der Sach, um die sich's handelt. Sie haben ein Verbot ausgesprochen, zu dem Sie nicht berechtigt waren. Haben den Leuten sogar mit der Gendarmerie gedroht. Das war eine ungehörige Überschreitung Ihres Amtsbereiches. Bei so was tu ich nicht mit.«

Innerebner sagte beklommen: »Ich muß zugeben, daß ich mich durch die Erregung zu einer Drohung hinreißen ließ, die meiner nicht würdig war. Aber zu diesem Verbot berechtigte mich meine Sorge als Priester.« Atemschöpfend trat er dicht vor den Pfarrer hin. »Haben Sie die Leute gesehen?«

»Nein.«

»Dann sehen Sie sich diese Menschen an! Der Hauch der Verdorbenheit –«

»Net übertreiben, Herr Kaplan! Heilige werden s' freilich keine sein. Das kann man von Schauspielern nicht verlangen. Und wir zwei sind doch auch keine Heiligen. Wenigstens von mir weiß ich's gewiß. Bei Ihnen kenn ich mich noch nicht aus.«

»Ich verbitte mir jeden Spott!«

»Ich red in allem Ernst. Tun S' nicht so aufgeregt! Ein bißl Komödispielerei ist wirklich keine Veranlassung, daß man zittert und schnauft.«

»Hätten Sie diese Menschen gesehen, die höhnische Frechheit dieser Burschen, die Schamlosigkeit dieser – dieser Damen, denen die Natur noch mit allem zu Hilfe kommt, was verführen und verwirren kann! Dann würden auch Sie die moralische Gefahr empfinden, die ich in jedem Wort und Blick dieser Leute erkennen muß.«

Lächelnd schüttelte der Pfarrer den Kopf. »Ich glaub kaum, daß ich so was empfinden würde. Ah ja, vor dreißig und vierzig Jahr! Da hab ich auch allweil Gefahren gesehen – für andere. Aber dann hat sich's immer herausgestellt, daß es nur eine Gefahr für mich war. Och, du lieber Herrgott! Da hab ich oft gemeint, ich müßt mit dem Teufel raufen wie der Bauer am Sonntag mit seinem Rausch. Zuletzt bin ich immer draufgekommen, daß es eigentlich gar nie eine Gefahr von außen war, sondern ein Pulsschlag meiner eigenen Jugend.«

»Hochwürden! Ich bitte Sie! Nehmen Sie diese Bewilligung wieder zurück!«

»Tut mir leid, Herr Kaplan, das wird sich nicht machen lassen. Ich habe diese Bewilligung noch aus einem andern Grund gegeben: weil ich einem Herrn, der mich darum gebeten hat, gefällig sein wollte.«

Innerebner zog die Stirne zusammen. »Horhammer?«

Der Pfarrer schmunzelte. »Wie gut Sie sich aufs Raten verstehen!«

»Diesem Renegaten«, rief der Kaplan in Zorn, »diesem Gottesflüchtling haben Sie Ihr Haus geöffnet?«

»Ja. Und hoffentlich kommt er recht oft zu mir.«

»Dann gehen unsere Meinungen allerdings so weit auseinander, daß ich –«

»Was, daß?« Der Pfarrer stand auf und schob sich aus der Bank heraus. »Ich will Ihnen was sagen, Sie Speiteuferl, Sie unverständigs! Sie haben mir neulich verschiedenes von ihm erzählt. Ich will annehmen, daß Sie das alles im Seminar auch so gesehen haben. Jetzt weiß ich, daß das alles anders war.«

»Wirklich?« Innerebner lachte.

»Ja! Und wenn Ihnen oder mir das Leben so grausam mitgespielt hätte, wer weiß, was wir zwei getan hätten?«

Innerebner richtete sich auf. »Was ich getan hätte, das weiß ich.«

»So?«

»Ich hätte mich gedemütigt um der Sünden meiner Eltern willen und hätte Gott mein Leben mit frommer Inbrunst zu Füßen gelegt.«

»Ja, ja! Das unverfälschte Seminargsangl!«

»Hochwürden! Ich dulde keine Beleidigung.«

»Da haben S' recht! Ich laß mir auch nix gfallen. Aber jetzt möcht ich Sie in aller Güt ersuchen, daß Sie so ein Wörtl, wie mit den ›Sünden der Eltern‹ schön für sich behalten, wenn der Zufall Sie mit dem Herrn Doktor zusammenführen sollte.«

»Zusammenführen? Dieser Meineidige ist für mich nicht auf der Welt. Mögen Sie Ihre Schwelle durch den Fuß dieses Menschen beflecken lassen! Ich gehe den Weg meiner unerbittlichen Pflicht. In meiner Natur liegt es nicht, Kompromisse zu schließen.«

Dem Pfarrer wurde die Stirne rot. »Kompromisse! Sagen S' doch lieber ein deutsches Wort! Zugeständnis! Und wissen Sie, womit ich grad beschäftigt war, wie Sie gekommen sind? Schauen S' her, da hab ich eine Sonate von Beethoven! Wundervoll, aber schauderhaft schwer für meine steifen Knöcherln. Ganz richtig blasen kann ich da nicht alles. Entbehren möcht ich es auch nicht gern. In Gottes Namen, mach ich halt Zugeständnisse, pick mir auf die ganz schwarzen Stellen weiße Papierblattln und schreib mir die Sach ein bisserl leichter drauf. Der große Meister Beethoven wird das dem alten Pfarrer Schnerfer nicht übelnehmen. Wenn ich auch nur Achtelnoten blase, empfinden tu ich die Zweiunddreißigstel.«

»Ihr Gleichnis versagt. Ich bin kein Flötenspieler.«

»Das weiß ich. Aber schauen S', Herr Kaplan, noch viel schwerer, als der Beethoven zu blasen ist, sind die großen Symphonien unseres lieben Herrgotts nachzupfeifen, die hellen Straßen seines unerforschlichen Willens und die dunklen Wege unseres greifbaren Lebens zu verstehen. Was da der Mensch nicht richtig blasen kann, das muß man ihm halt auch ein bißl erleichtern. Jetzt bin ich an die vierzig Jahr lang Priester. Und mich hat mein Beruf gelehrt, daß es das schönste Vorrecht des Priesters ist, Zugeständnisse zu machen. Der große Meister da droben wird's nicht übelnehmen. Im Gegenteil!«

Hochmütig legte der Kaplan den Kopf zurück. »Meine Auffassung unseres Berufes ist eine andere.«

»Sie werden's schon auch noch lernen: Zugeständnisse zu machen, zuerst für sich selber und dann für andere.«

»Niemals!« erwiderte Innerebner mit schroffer Härte. »Das sind Anschauungen, die ich nicht teilen kann, nicht teilen darf! Aber ich beginne manches zu verstehen, was mir gesagt wurde, bevor man mich hierherschickte.«

Ein rascher und ernster Blick. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß ich jetzt begreife, warum ein Priester mit so laxen Prinzipien auf dem Boden der Stadt, wo die Kirche gegen das wuchernde Giftkraut des Unglaubens ihren schwersten Kampf zu führen hat, für die Dauer unmöglich wurde.«

Dem Pfarrer schoß das Blut ins Gesicht. Er rückte das Käppl und murmelte: »Sempre piano, Manndele, sempre piano!« Dann trat er vor Innerebner hin, sah ihm in die Augen und sagte ruhig: »Ja! In der Stadt bin ich unbequem geworden. Weil ich immer die Meinung vertreten habe, daß ein Priester kein Politiker sein soll, kein Volksversammlungstrommler, kein Zeitungsschreiber, kein Hetzer und Wahlagent. Gar nichts anderes soll er sein als ein Seelsorger und Lebenshelfer. Wegen dieser laxen Anschauung bin ich für die ecclesia militans in der Stadt unmöglich geworden. Man hat mich aufs Land versetzt.«

»Wo Ihre Lauheit im Dienst der Kirche zu einer Gefahr für die Ihnen anvertrauten Seelen wird, die Sie einem Renegaten zuliebe dem Gifthauch der Verführung preisgeben!«

Jetzt war's um die Ruhe des Pfarrers getan. »Herr Michael Innerebner!«

»Ihr Zorn wird mich nicht einschüchtern. Jetzt hab ich begriffen, weshalb ich an Ihre Seite gestellt wurde. Ich werde meine Pflicht erfüllen und frage Sie zum letztenmal: wollen Sie die Bewilligung, die Sie den Komödianten gaben, zurücknehmen?«

»Nein.«

»Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Ich werde der ersten Vorstellung beiwohnen, soviel Überwindung mich das auch kosten mag. Bei dem geringsten Wort, das mein priesterliches Empfinden oder mein sittliches Gefühl verletzt, werde ich die Vorstellung unterbrechen und die Zuschauer aus dem Saal weisen. Dann wird es sich zeigen, wer von uns beiden vor unseren geistlichen Oberen recht behält, Sie mit Ihren biegsamen Zugeständnissen oder ich mit meiner unbeugsamen Strenge.« Innerebner verließ die Stube, ohne zu grüßen.

Der Pfarrer sah die Tür an. »Da hört sich doch alles auf! So ein Bürscherl, so ein grünes!« Seufzend griff er nach der Flöte. Durch die Stube wandernd, blies er eine Tonleiter in Moll, erst langsam, dann immer schneller. Plötzlich unterbrach er das Spiel, legte die Flöte fort und schob, in Schmerz das Gesicht verziehend, die rechte Hand unter den Talar. »Natürlich! Grad jetzt muß ich den Krampf kriegen! Wo ich das bisserl Musik so notwendig brauchen könnt.«


 << zurück weiter >>