Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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8

Walter hatte das Wirtshaus in einer Verstimmung verlassen, die er um so weniger begriff, je mehr er darüber nachdachte. Die klärende Stunde im Pfarrhof hatte ihm doch alles Schwere seines Lebens leichter gemacht, hatte ihm die Freundschaft eines seltenen Mannes gewonnen, den tröstenden Blick einer Schwester. Wie schön ihre Augen waren! Diese hellen ruhigen Augen!

Seltsam, daß er plötzlich die Augen Mathilds mit zwei anderen Augen vergleichen mußte. Mit jenen braunen halbverschleierten Samtaugen!

Was gingen ihn diese Leute an? Er hatte ihnen einen kleinen Dienst geleistet. Nun war das erledigt. Dennoch beschäftigte ihn der Gedanke an sie während des ganzen Heimwegs. Als er den Scheidhof erreichte und Mathilds leuchtende Rosen sah, war die dunkle Unruh plötzlich von ihm genommen. Die gleiche frohe Stimmung erfüllte ihn wieder wie am Morgen.

Das Haus war still, niemand begegnete ihm. In seinem Wohnzimmer fand er auf dem Tisch zwei Bücher: eine Auswahl Goethescher Gedichte und die Leiden des jungen Werther. Diese Bücher mußte ihm Mathild hergelegt haben. In seiner Freude lief er hinunter, um sich zu bedanken. Nur das Walperl war zu Hause. Mit grinsender Liebenswürdigkeit berichtete ihm das Mädel, daß der Forstmeister und das Fräulein in der Sägmühle wären und erst am Abend heimkommen würden. »Schade!« sagte er in einem Ton, daß ihn das Walperl verwundert ansah.

Droben in seinem Zimmer stellte er den Glaspokal mit den Rosen vor sich hin und begann den Werther zu lesen, so, wie er seine »dicken Bücher« zu lesen pflegte: neben dem Buch das blau linierte Heft für die Exzerpte, den Bleistift in der Hand. Gleich in Werthers erstem Brief kam eine Stelle, die er sich notieren mußte: »Was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf?« Dann ein Wort, das ihn berührte, als wäre es eigens für ihn geschrieben: »Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein.«

Immer wieder fand er solch einen persönlichen Klang, wie aus seinem eigenen Herzen herausgesprochen:

»Ich befinde mich hier gar wohl, die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend.«

»Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen.«

»Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß sie mir vom Halse!«

»Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt!«

Diese Worte, die er wie Sprache des eigenen Lebens fühlte, verwandelten den Leser, ohne daß er es merkte, in den Helden. Jeder Buchstabe wurde zu einem Pulsschlag seines Herzens. Noch etwas anderes geschah. »Eins der liebenswürdigsten Geschöpfe! Soviel Einfalt bei soviel Verstand, soviel Güte bei soviel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben!« Wie sich diese Schilderung mit Mathilds Wesen deckte! Als er dann erfuhr, daß Lotte schwarze Augen hatte, glaubte er's nicht mehr. Immer sah er an ihr die blauen Augen Mathilds, diese frohen, ruhigen Augen.

Während er von Albert las – dem braven Menschen, dem Lotte »so gut wie verlobt« ist –, legte sich etwas Beklemmendes um sein Herz. Er las in wachsender Erregung, seine Stirn glühte, seine Hände zitterten, und Mathilds Worte fielen ihm ein: »Ich hatte ein Gefühl, als wäre ein eisernes Tor vor mir aufgesprungen, und alles da drinnen brennt!« So war es jetzt in ihm selbst. Sturm in seinem Herzen, in seinem Kopf, in seinem Blut. Der brennende Streit zwischen dürstender Liebe und vernichtender Klarheit des Verlustes, der Rausch des taumelnden Gefühls, der Todeskampf einer Leidenschaft, die leben will und doch erlöschen muß – das faßte ihn wie ein Fieber. Alle gegensätzlichen Bilder des Buches: der Blumentraum des verrückten Schreibers, das blutige Drama des treuen Knechtes von Walheim, die flammende Selbstvernichtung Werthers – Wahnsinn aus Liebe, Verbrechen aus Liebe, Selbstmord aus Liebe, und dieser Zerstörung gegenüber das sichere Glück eines klaren und gesunden Herzens, das gerecht und gut ist – das alles floß für Walter zusammen in eine rauschende Woge des Lebens, die sich mächtig über ihn herwarf. Sein Blut brannte, sein heißes Gesicht war von Tränen überronnen, und das Herz schlug ihm bis an den Hals herauf, als er die letzten Worte las: »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.«

Er sprang vom Sessel auf und wanderte zwischen den vier Wänden seiner Stube auf und nieder. Immer ruhiger wurde er. Beim Lesen hatte er mit dem Herzen eines Jünglings empfunden. Jetzt wog er den Wert dieses Buches mit dem Verstand des Mannes. »Das ist Feuer, mit dem man Wunden heilt. Das ist Flamme, die weisend hinausleuchtet über die dunkelsten Wege des Lebens.« Ihm war zumut, als wäre er in diesen Stunden ein besserer Mensch geworden, ein größerer, ein freierer. »Ein Buch, in dem alle Tiefen und Höhen des Lebens sind, alle Lust und aller Schmerz der Menschen, ihre Weisheit und ihre Narretei, alles Große und Kleine der Welt, alle Rätsel und alle Klarheit Gottes!«

Er trat zum Schreibtisch, nahm das Buch und suchte eine Stelle. »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes! Kannst du sagen: Das ist! Da alles vorübergeht! Da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach! in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Nicht die große seltene Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumele ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.«

Er blätterte zurück. Und las: »Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; wenn's dann um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: ach, könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes.«

Walter legte das Buch neben die Rosen auf den Schreibtisch. »Soll einer sich rühmen wollen, daß er mehr von Gott zu sagen weiß, als diese beiden Worte sagen, von Gottes Schatten und von Gottes Licht!« Er trat zum Fenster, sah nicht, daß sich die Helle des Tages schon zu dämpfen begann, sah nicht den Hohen Schein und seine klare Flamme. »Ein Gebetbuch!« sprach er leise vor sich hin. »Mathild hat recht!« Sinnend blickte er über die blühenden Lindenbäume und über die kahle, abgeerntete Wiese hin. »Heilige Zweieinigkeit des Vernichters und Erschaffers!« Sein Auge suchte das leuchtende Blau des Himmels. Kein Wölklein trübte die wundersame Klarheit der Höhe. Walter sprach es nicht aus, doch in der Tiefe seines Herzens fühlte er Werthers Gebet: »Vater, den ich nicht kenne! Rufe mich zu dir!« Was die Religion ihm versagt hatte, was keine Wissenschaft ihm gewähren konnte, das hatte ihm die Hand des Dichters gegeben: die Ruhe vor Gottes halbverschleiertem Antlitz!

Es litt ihn nicht länger zwischen den vier Wänden. Als er von der Veranda auf den Kiesplatz trat, grüßte ihn der milde, strahlende Glanz des Abends. Die Rosen in dunkler Glut. Das Grün der Bäume mit hellen Lichtern und tiefen Schatten. Die nahen Berge in ihrem Gezack von Gold und Blau, die fernen unter zartem Schleier. Über allem die leuchtende Höhe. Er atmete tief und dachte an die Stelle im Werther: »Die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele! Wie das Bild einer Geliebten?« Nie noch in seinem Leben hatte er ein Weib geliebt, nie noch an sich selbst erfahren, wie das Bild der Geliebten in der Seele eines Mannes ruht. Wie wundersam und heilig mußte das sein, wenn es ein Gefühl war, wie er es jetzt vor dieser Schönheit des Abends empfand: die leuchtende Welt um ihn her, der reine Himmel ganz in seiner Seele!

Ein Gefühl des Durstes war in seinem Herzen, in seinem Blut. Es zog ihn zum Weiher hinunter, er wußte nicht, weshalb. Der Weg, den er einschlug, führte ihn zum Scheidhof hinüber. Da saß der kranke Bauer auf der Steinbank, in seinen winterlichen Mummelkleidern, mit Kopf und Brust noch in der Sonne. »Guten Abend!« grüßte Walter. Der Kranke sah mit glanzlosen Augen mißtrauisch an Walter hinaus. Der nannte seinen Namen und sagte, daß er drüben beim Forstmeister in der Villa wohne. Mürrisch drehte der Bauer das Gesicht auf die Seite, als wäre ihm diese Neuigkeit nicht nur gleichgültig, sondern lästig. Da suchte Walter nach einem Wort, das dem Kranken Freude machen könnte. »Was haben Sie da für einen schönen Besitz! Der Scheidhof! Das ist wie ein kleines Königreich!«

»Was hab ich davon?« murrte der Kranke mit einem Gesicht, als hätte er was Bitteres zu schlucken bekommen. »Wäre mir eh lieber, es tät mir bald einer den ganzen Krempel abladen vom Buckel!« Dann schlug er mit dem Hammer auf die Steinbank. Eine Magd kam aus der Tür gelaufen und führte den Kranken ins Haus, der für Walter keinen Blick mehr hatte, keinen Gruß. Aus dem Flur hörte man noch ein leises Wimmern und die ungeduldige Stimme der Magd: »No, no, no, nur net gar so wehleidig!«

Walter folgte einem Wiesenweg, der an den Scheunen vorüberführte. Da vernahm er den Hammerschlag der dengelnden Knechte. Ans dem Takt der vier Hämmer hob sich einer mit besonders hellem Klang heraus. Das war der Hammer des Fazifanzerl. Bei einer Scheune saß er, mit drei anderen Knechten, zwei alten und einem jungen, jeder rittlings auf einem Holzschragen, der den kleinen Amboß trug. Die Sensenklingen blitzten im Abendschein wie rot glühende Schwerter. Einer der Knechte summte zum Hammerschlag einen Ländler, die beiden anderen pfiffen dazu. Nur Bonifaz war stumm und dachte an nichts als an die Schärfe seiner Sense. Walter trat zu den Leuten und guckte eine Weile zu. »Warum müssen denn die Sensen so geklopft werden?«

Die drei Knechte lachten. Bonifaz, ohne den Hammer ruhen zu lassen, sagte: »Daß s' Schneid kriegen.«

»Kann man sie denn nicht schleifen?«

»Na! Der Schleifstein macht kurze Schneid. Die is fürs Harte. 's Gras gibt nach. Da braucht's Schneid, die zaach und lang is. Die macht bloß der Hammer.« Bonifaz stand auf. »Für heut tut's es, Leut!« Auch die Knechte legten die Hämmer fort. Jeder steckte seine Sense an den hölzernen Schaft und schlug den Keil in diese. Bonifaz ließ den Wetzstein ein paarmal über die Klinge ziehen, dann trat er zum Saum der Wiese und tat mit der Sense einen Schlag. Das hohe Gras fiel unter dem Hieb zu einer schönen Schwade hin, mit leisem Geräusch, das sich anhörte wie ein Seufzer. »D' Schneid is gut!« sagte er, hob ein Grasbüschel auf und wischte die Klinge ab.

»Mähen Sie morgen?« fragte Walter.

»Ja. Auf der Weiherwiesen.«

»Wird da das Fräulein mitmachen?«

Bonifaz hob das Gesicht. »Ja! Auf der Weiherwiesen hat 's noch allweil mitghalten.«

Mit raschem Schritt trat Walter auf den Knecht zu:

»Herr Bonifaz! Möchten Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Kommt drauf an, was für ein'?«

»Bitte, zeigen Sie mir, wie man mäht!«

Die drei Knechte lachten, als hätte sich die dümmste Geschichte der Welt ereignet. Bonifaz schmunzelte. »Ah so? Da möchten S' leicht mithalten? Auf der Weiherwiesen?« Dann sagte er freundlich: »In Gotts Namen, kommen S' her! Wann einer schaffen will, muß man ihm z'Willen sein.« Er ging mit der Sense zur Wiese, während Walter in heißem Eifer den Rock herunterriß und zu Boden warf.

»Aber Mensch!« sagte einer der Knechte zu Bonifaz. »Wirst ihm ja doch dei' Sens net geben? Die beste am Hof! Wart a bißl, ich hol ihm die alte aussi!« Bonifaz schüttelte den Kopf. »Der muß die beste haben. Mit der schlechten bringt er nix zamm. Da verdrießt's ihn gleich. Schickst ein' in d' Arbeit eini, so mußt ihm an Gusto machen. Also, Herr, packen wir's an!« Fazifanzerl war ein guter Pädagog der Arbeit. Zuerst erledigte er die Theorie: wie man die Sense faßt, fest im Ausschwung, locker im Hieb; wie man sich beugen muß, daß die Klinge flach über die Erde gleitet; und nicht allein mit den Armen dürfe man ausholen, sondern der ganze Oberkörper müsse sich auf den Hüften schwingen; das gäbe dem Hieb die Schneid und Kraft. Der Theorie folgte die Praxis: Bonifaz begann zu mähen und machte zuerst die Sache falsch; dann kam der richtige Hieb. »So müssen S' es machen!« Er reichte Walter die Sense hin: »Also! Kuraschi!«

Mit einem Ernst, der etwas Weihevolles hatte, faßte Walter die Sense. »Fest im Ausschwung, locker im Hieb!« murmelte er und zog mit der Sense aus. Ein Zischen im Grase, surrrr, und Walter spürte einen zuckenden Schlag in den Armen. Die Sensenklinge war mit der Spitze tief in den Boden gefahren. »Ach Gott!« Erschrocken guckte er die verbogene Klinge an.

»Macht nix!« sagte Bonifaz ruhig. »'s erstemal is mir's gradso gangen.« Mit seinen eisernen Fäusten bog er die Klinge zurecht. »So! Probieren S' es wieder!«

Jetzt versuchte Walter die Sache mehr mit Vorsicht als mit Kraft. Ein paar Hiebe gelangen ihm leidlich. Freilich, das halbe Gras blieb immer stehen, doch die andere Hälfte fiel. Das machte ihn mutig. Surrrr, da stak schon wieder die Klinge im Boden.

Unverdrossen kurierte Bonifaz den Schaden. »Nur net auslassen! Gahlings haben S' den Vortl!« Und richtig, als der Abend grau zu dämmern anfing, hatte Walter die Sache herausgefunden, und die Hiebe fielen so tadellos aus, daß der Mähprofessor zufrieden nickte. »Gut geht's! Wann S' morgen Lust haben, können S' mithalten.« Bonifaz schmunzelte. »Da wird 's Fräulen aber schauen!«

Glücklich auflachend hob Walter den Rock vom Boden, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und reckte den Körper.

»Tut Ihnen der Buckel weh?«

»Gott bewahre!«

»No also, jetzt schlafen S' Ihnen ghörig aus! In der Fruh um drei wirf ich a Steinl auf Fenster auffi.«

Walter hatte ein Goldstück aus der Börse genommen. Aber Bonifaz schob die schenkende Hand zurück. »Na, na, lassen S' es gut sein! 's hat mir Freud gmacht.«

Lachend faßte Walter den Knecht um die Hüfte und schob ihm das Goldstück in die Westentasche. Da lachte auch Bonifaz und ließ es geschehen.

Auf dem Weg zur Villa malte Walter sich das so aus: jetzt wollte er kein Wörtchen sagen, am Morgen ganz heimlich aus dem Hause schleichen, und wenn dann Mathild zum Heuen auf die Wiese käme – »Da wird 's Fräulen aber schauen!« Doch als ihm Walperl im Flur der Villa mit grinsender Freundlichkeit in den Weg trat, um nach seinen Wünschen für das Abendbrot zu fragen, platzte er mit seinem Geheimnis gleich heraus: »Walperl! Ich hab mähen gelernt. Der Bonifaz hat mir's gezeigt.«

Das Mädel riß die Augen auf. »Der Bonifaz?« Sie hätte es leichter geglaubt, wenn ihr Walter erzählt hätte, daß er nur noch ein Gespenst wäre, dessen irdischer Leib unter den Fäusten des Fazifanzerl den Garaus gefunden.

Nach dem Bekenntnis, daß er einen gesegneten Appetit verspüre, sprang Walter die Treppe hinauf, mußte aber plötzlich innehalten. Es war ihm wie ein scharfer Stich durch den Rücken gefahren. Gleich war's wieder vorüber. Droben zündete er die Lampe an, wusch sich und machte sich's bequem. Da kam auch schon das Mädel mit dem Tee. Während sie schweigend den Tisch deckte, erzählte Walter die herrliche Geschichte dieses Abends. Dabei bekam der Bonifaz als Mensch wie als Prediger der Arbeit einen strahlenden Heiligenschein. Je länger das Mädel dieser Hymne aus den Fazifanzerl lauschte, desto deutlicher zeigte sich in ihrem hübschen Gesicht der Ausdruck einer zutraulichen Rührung.

»Ja, Walperl! Dieser Bonifaz ist ein Prachtmensch. Stark und gesund, ruhig und sicher, ehrlich und gut.«

»Gelt ja?« Das Mädel seufzte.

»Warum müssen Sie da seufzen, Walperl? Sie sollten sich doch darüber freuen, daß er mir so gut gefällt, Ihr Bonifaz!«

Dem Mädel fuhr das Blut ins Gesicht. »Mein Bonifaz? Lassen S' mich aus! Der is dem Scheidhofer sein Bonifaz! Sonst is er gar nix! Der!« Sie ging zur Türe.

»Walperl! Kommen Sie ein bißchen her zu mir!«

Sie kam wie ein geduldiges Lämmlein.

»Zu mir dürfen Sie Vertrauen haben. Ich bin dem Bonifaz gut geworden. Das ist einer von den Menschen, die dem Schöpfer Ehre machen. Und Sie, so ein braves und nettes Mädel! Das ist doch selbstverständlich. daß ihr beide euch liebhaben müßt.«

Walperl nickte. »Man sollt's meinen, ja!« Dann kamen ihr die Tränen, und sie wollte davonlaufen.

Er haschte sie bei der Rockfalte. »Nicht ausreißen! Ehrlich! Warum müssen Sie denn da weinen?«

»Weil –« der schluchzende Bock begann das Mädel zu stoßen, »weil ich ihn so viel gern hab, den Lausbuben, den bockbeinigen. Aber der hat a Schlößl vorm Schnabel! Jetzt dauert die dalkete Gschicht schon ins dritte Jahr, und gar nix geht füranand.«

»Sie sind doch überzeugt, daß er Sie lieb hat?«

»No ja, freilich! Aber herstellen tut er sich allweil vor mich wie a verriegelts Haustor.«

»Wo meinen Sie denn, daß da der Haken sitzt?«

»Dös frag ich mich selber allweil.« Das Mädel trocknete mit der Schürze die Augen. »Oft schon hab ich mir denkt, er hat mir dö Gschicht mit dem unverschämten Maler verübelt. Aber kann ich denn mehr tun, als so an Kerl aussifuiern, daß er an Purzelbaum schlagt! Im Herbst amal, da hab ich den Bonifaz gradaus drum angredt: Tust mir's verübeln? Da hat er in seiner lacheten Ruh so gsagt: ›Ah na! Ich weiß doch, wer bist! Unser Herrgott laßt halt söllene Saubartln umanandlaufen, da kannst nix machen!‹ hat er gsagt.«

»Brav, Bonifaz!«

»Was hat's mir gholfen? Allweil zruckhalterischer is er worden. Und gar nimmer auskennen tu ich mich. Schier jeden Abend kommt er mit'm Pfeifl zum Brunn. Auf d' Musi möcht er lusen, sagt er. Und ich weiß doch, daß er meintwegen kommt. Aber glauben S', er tat a Wörtl reden? Oder tat mir den Arm um'n Hals legen und – no ja, wie man's halt macht, wenn man eins gern hat.«

»Vielleicht ist er so schüchtern?«

»Ha!« Das war ein kurzes spöttisches Lachen. »Der Bonifaz? Und a Traumichnet? Da kennen S' ihn schlecht! Wann er sich denkt: dös ghört mein – da hat er an Griff wie der Adler!« Walperl zeigte das mit der Hand, so energisch, daß Walter lachen mußte. Dieser Mangel an Ernst schien das Mädel zu kränken. »Da is fein nix Lustigs dran!«

»Sie haben recht, die Sache ist Ernst. Da müssen wir zusammenhelfen. Dem Bonifaz sein zruckhalterisches Geheimnis müssen wir herausbringen.«

Sie sah ihn schmachtend an. »Meinen S', wir richten was aus?«

»Sicher! Morgen, beim Heuen, will ich gleich ein bißchen auf den Busch klopfen.«

»Was da aussikommt, da bin ich neugierig!« Seufzend ging Walperl auf der Stube.

Walter legte sich früh zur Ruhe. Wie wohl ihm das tat: sich in den Kissen strecken zu können! Weil er den Schlaf nicht gleich zu finden meinte, hatte er den Werther mit ins Bett genommen. Wie das Buch sich im Zufall aufschlug, begann er beim Schein der Kerze zu lesen: »Daß ihr Menschen, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Was will das alles heißen! Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein!« Er ließ das Buch sinken, um mit seinen Gedanken der weiten Fernsicht dieses Wortes nachzuwandern. Dabei hörte er die Kirchturmglocke neun Uhr schlagen. Und vor dem Fenster sah er noch einen blaßgelben Streif des Himmels.

Merkwürdig, daß er an diesem Abend vergessen hatte, nach dem Hohen Schein und seiner Flamme auszuschauen? Wie weit mochte wohl der Moosjäger an diesem Tag mit dem neuen Weg gekommen sein? Deutlich meinte er den Mamertus Troll zu sehen, eine von Dämmerung umflossene Riesengestalt, die ruhelos den Pickel schwang. Bei jedem Schlag auf den Felsgrund sprühte eine Garbe bläulicher Funken auf wie Hunderte von Leuchtkäfern. Plötzlich lachte der Moosjäger. Nein! So lacht der lustige Sägmüller. In dieses Lachen klang eine helle Mädchenstimme: »Gute Nacht, Bertl! Schönen Gruß daheim!« Das hatte geklungen, als war' es drunten in der Veranda. Dennoch schien es in der Stube zu sein, in der weiten grünen Stube. Da gingen Hunderte von Menschen in einer langen Reihe, die Männer in weißen Hemdärmeln, die Weibsleute mit roten Kopftüchern und eine feine, schlanke Gestalt in lichtem Kleid. Dieses Kleid hatte rings um den Saum einen sonderbaren Aufputz: einen Kranz von großen, schillernden Samtaugen, die sich immer schlossen und groß wieder öffneten. Alle diese Augen sahen einen jungen, leichenblassen Menschen an. Der trug einen blauen, altmodischen Frack und gelbe Beinkleider. Auf der Stirne hatte er einen dunklen Fleck, von dem ein roter Tropfen über das bleiche Gesicht heruntersickerte. Dazu spielte der lustige Sägmüller lachend das Cello, immer falsch, der Pfarrer blies die Flöte, ganz fein, und der Bonifaz dengelte mit goldfunkelndem Hammer die Sense. Eine ganz irrsinnige Musik war's. Dann plötzlich endete sie mit einem scharfen, klirrenden Ton. Walter fuhr auf. Die Stube um ihn her war dunkel. Wieder jenes scharfe Klirren. Ein Steinchen war ans Fenster geflogen.

»Der Bonifaz!«

Walter sprang aus dem Bett und hörte die Kirchturmglocke drei Uhr schlagen. Sechs Stunden Schlaf waren ihm gewesen wie eine träumende Minute. Als er Licht machen wollte, sah er, daß die Kerze bis in die Leuchterhülse niedergebrannt war. Er mußte in die Stube hinaus und die Lampe anzünden. Das braune Touristengewand hatte er am Abend schon zurechtgelegt. Hastig kleidete er sich an. In der Wohnstube fand er das Frühstück, das Walperl noch am Abend für ihn gerichtet hatte: ein Glas Milch, Brot, Butter und Landschinken. Um keine Zeit zu verlieren, trank er nur die Milch. Auch ein kleines Paket lag auf dem Tisch. Er wußte nicht, was das bedeuten sollte, und ließ es liegen. Um niemand aus dem Schlaf zu wecken, schlich er auf den Fußspitzen die Treppen hinunter und aus dem Haus.

Mit linder Kühle hauchte der Wind. Alle Farben noch verschleiert vom Grau der Dämmerung. Aber die Berge begannen sich schon aufzuhellen, und ein zarter Schein war von Osten über den Himmel gegossen, während im Westen noch einzelne Sterne funkelten. »Guten Morgen!« sagte Bonifaz, der mit zwei Sensen vor der Veranda stand. »Heut wird er nobel, der Tag! Und 's Gras biegt sich vor lauter Tau. Da macht's gute Schneid.« Er reichte Walter einen Lederriemen, an dem ein kleiner Holzköcher hing.

»Was ist das?«

»Der Kumpf mit'm Wetzstein. Den müssen S' umlegen! Der richtige Mähder muß sein' Kumpf haben.«

Walter schnallte den Riemen um die Hüfte. Als er die Sense nahm, sah er, daß die Griffe mit Leinwandstreifen umwickelt waren. »Warum denn das?«

»Daß S' keine Blasen kriegen! Sonst tät's Ihnen gleich verdrießen. Fünf Stund müssen S' aushalten. Packt einer d' Arbeit an, so muß er dabeibleiben. Bis um neune haben wir d' Wies umgschlagen, unser fünfe. Nacher können S' rasten.«

»Unser fünfe!« wiederholte Walter lachend. Es machte Freude, daß ihn der Bonifaz als gleichwertig mitzählte.

»So, und jetzt aussi! Der richtige Mähder muß den ersten Schlag schon gmacht haben, eh daß d' Amsel singt.«

Walter schulterte die Sense. Sie gingen zum Scheidhof hinüber, wo die drei Knechte mit ihren Sensen wartend auf der Steinbank saßen. Der Jüngste von den dreien hatte einen Henkelkorb auf den Knien. »An d' Arbeit, Leut!« sagte Bonifaz und schritt mit Walter den Wiesen zu.


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