Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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18

Den ganzen Nachmittag hatte der Pfarrer im Kaplanhause zugebracht. Als der Abend so schön wurde, sagte er: »Komm, Michele! Heut zündet unser lieber Herrgott ein feines Kerzl an. Das müssen wir brennen sehen!« Sie wanderten in den glühenden Abend hinaus, und der Hochwürdige war der Meinung, daß sich die Schönheit dieser Stunde nur mit einem einzigen Ding der Welt vergleichen ließe: mit dem Andante aus der »Kreutzersonate«. »Wenn meine zehn Klapperln nicht ein bißl aus'm Scharnier wären, tät ich dir heut das vorblasen, in der finsteren Stub.«

Michael schwieg und sah zum leuchtenden Himmel empor.

Als die graue Dämmerung sich um die Wiesen legte, sagte der Pfarrer: »Michele, jetzt müssen wir heim. Es kühlt ein bißl. Und so ein Katarrhl hat man gschwind. Da könntest du am Sonntag net predigen.«

»Ich? Den anderen predigen?«

»Ja, Michele! Am Sonntag mußt du predigen! Ich freu mich schon drauf, wieviel gute Sachen du sagen wirst.« Sie kamen zu einem Erlengebüsch, und dem Pfarrer verschlug es vor Schreck die Sprache. Auf dem Wiesenrain, im dunklen Schatten der Stauden, sah er Mariane sitzen. Das Mäntelchen von der Erde raffend, erhob sie sich und ging auf Innerebner zu. Herr Christian Schnerfer pflanzte sich mit flinkem Sprung zwischen den beiden auf. Der Zorn verwandelte seine sonst so milde Stimme in einen schrillenden Diskant: »Sie! Das sag ich Ihnen! Sie Frauenzimmer! Mein' Herrn Kaplan, den lassen S' mir in Ruh!«

Mariane, nach einem erschrockenen Blick in das bleiche, entstellte Gesicht des jungen Priesters, streckte die Hand. »Hochwürden! Verzeihen Sie mir!«

Michael nahm ihre Hand nicht. Ein tiefer, befreiender Atemzug hob seine Brust. »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen.« Seine Stimme klang, daß der Pfarrer freudig aufhorchte. »Sie haben mitgeholfen, aus mir einen Menschen zu machen. Dafür muß ich Ihnen dankbar sein.« Er grüßte und ging vorüber.

Der hochwürdige Herr Christian Schnerfer klammerte die Hand um Innerebners Arm. »Michele! Jetzt hast du das richtige Klangerl. So mußt du predigen am Sonntag.« Ein leises Schmunzeln: »Das Theater muß doch eine erzieherische Wirkung haben. Nie hab ich's glauben wollen. So viel hab ich mich dem Thildele schon gestritten drüber. Schau, sie hat recht.«

In der sinkenden Dämmerung kam jemand mit Keuchen hinter ihnen die Straße einhergerannt. Der Pfarrer wollte sich umgucken. Da sauste das Walperl an den beiden vorbei. »He! Mädel! Was ist denn?«

»Unser Herr is krank! Grad muß ich den Doktor holen.« Das Walperl rannte. Als es zum Roten Hirschen kam, stand der Doktor beim Zauntor. Er nickte nur und lief ins Haus, um die lederne Tasche zu holen.

Vor der Haustür wartete eine Kutsche auf ihren Fahrgast. Und unter dem Laubdach der Bäume, beim Schein zweier Windlichter mit großen Glaskugeln, saßen Aurelia und Philine, Jarno und Laertes um den Tisch, auf dem zwei Gedecke feierten. Die merkwürdigen Brüder und Schwestern schienen sich in Erregung zu befinden und spähten unter leisem Getuschel nach der Haustür. »Da kommen sie!« sagte Jarno. Das Geflüster, das um den Tisch gewesen, verwandelte sich in ruhiges Geplauder.

Ein bejahrter, vornehm gekleideter Herr, mit dem Hut in der Hand, und Willy Meister, die Sportmütze auf dem hübschen Kopf und einen leichten Überrock um die Schultern, waren auf dem Flur ins Freie getreten. »Da steht Ihr Wagen, lieber Hofrat!« sagte der wackere Jüngling, der in Tauris den blauen Mantel getragen. »Sorgen Sie nur, daß Ihr Kutscher stramm drauflosfährt. Oder Sie versäumen in Mitterwalchen den Zug.«

»Herr Graf! Ich bitte Sie –«

»Glückliche Reise!« unterbrach Willy Meister mit gereizter Schärfe. Er salutierte, als trüge er die Uniform, zog den Überrock enger um die Schultern und trat auf die dunkle Straße hinaus.

Nach kurzem Zögern ging ihm der andere nach. »Herr Graf! Das kann und darf nicht Ihr letztes Wort sein. Eine solche Antwort kann ich der Frau Gräfin unmöglich bringen. Denken Sie an die Verpflichtung, die Ihnen Ihr Name und Ihre Stellung auferlegen!«

»Etwas Vorsicht, lieber Hofrat! Was ich meinem Rang und Namen schuldig bin, das weiß ich selbst. Und die Sorge, in der Mama den drolligen Einfall hatte, Ihnen diesen strapaziösen Ausflug zuzumuten, begreif' ich nicht! Über die Befürchtung, von der Sie mir gesprochen haben, können Sie mit gutem Gewissen beruhigen.« Willy Meister dämpfte die Stimme. »Eine Laune. Nicht mehr. Das soll eine erledigte Sache sein, sobald ich heimkomme. Im übrigen – ich bin jung und will von meiner Jugend was haben. Der harmlose Scherz, an dem ich mich da beteilige, amüsiert mich. In drei Wochen bin ich wieder daheim. Dann soll sich Mama über mich nicht mehr zu beklagen haben. Das ist doch eine Antwort, die Sie ihr bringen können? Jetzt bitte ich, weiter keinen Eklat zu machen. Eine komische Rolle will ich nicht spielen. Meinen Handkuß für Mama! Und gute Reise, lieber Hofrat!« Willy Meister wanderte im sinkenden Dunkel die Straße hinaus. Bei einer Biegung des Weges blieb er stehen. Er hörte das Rollen des Wagens, lachte heiter vor sich hin und sah zum Himmel hinauf, als hätte er Sorge um das schöne Wetter. Schon dunkelten alle Berge. Der Hohe Schein aber leuchtete noch immer in matter Glut. Und zwischen den purpurgesäumten Wolken, die aus den Lüften herauswuchsen, brannte der gelbe Himmel.

Der Weg, der am Mühlbach entlang führte zum Waldtal der Sägmühle, war dunkel und menschenleer. Das jagende Wasser rauschte. In der tiefen Dämmerung lag die Blockmühle wie ein schwarzer Klotz am Waldsaum. Die Arbeit ruhte schon längst. Nur das stürzende, seiner Sklavenmühe ledig gewordene Wasser rumorte im Turbinenkanal. Am Wohnhaus waren die ebenerdigen Fenster erleuchtet, und Bertl, mit der brennenden Zigarre, stand wartend vor der offenen Haustür. Er wurde ungeduldig. »He! Rosl! Was ist denn?«

»Ja, ich komm schon!« klang aus dem Haus die Stimme der Sägmüllerin. Sie war in der Wohnstube, nahm ein Tuch um die Schultern und drehte über dem Tisch die Lampe ab. Dem Fritzele mußte sie noch gute Nacht sagen. Als sie in die kleine Stube trat, fuhr das Nannerl, das am Fenster stand, erschrocken zusammen. Frau Rosl sah das nicht. Sie ging zu dem Gitterbett und strich dem Kind mit zärtlicher Hand übers Haar: »Gut Nacht, Herzerl! Und tu schön schlafen!«

»Ja, Mammi! Und tu mein Großvaterle grüßen, gelt! Und die Tillitant!«

»Ja, Bubele! Gut Nacht!« Frau Rosl schloß am Bettl das Gitter. Weil das Fritzele trotz der Behandlung mit heißem Kamillentee von dem unfreiwilligen Bad im Mühlbach einen Schnupfen davongetragen hatte, sagte sie zum Nannerl: »Tust ihn noch ein paarmal gurgeln lassen und bleibst bei ihm sitzen, bis er schlaft! Gut Nacht, Mädel!«

Dem Nannerl, das neben der brennenden Kerze stand, wollte kein Laut aus der Kehle.

Frau Rosl sah sie an und lachte. »Kind, jetzt mußt du aber bald gescheit werden! Da hab ich was Schöns angefangt, daß ich dich in die Komödi hab gehen lassen. Ganz verruckt bist du! Und schau, seit gestern hast du noch allweil dein gutes Gewandl an! Tu doch ein bißl sparen! Und laß bis morgen dein verdrehtes Köpfl ausschlafen, gelt!« Lachend nickte sie zu dem kleinen Bett hinüber und ging aus der Stube.

Nannerl preßte das glühende Gesicht in die Hände.

Draußen bei der Haustür sagte Bertl verdrießlich: »Hörst, da kann man sich krank warten mit dir. Es wird stockfinster, bis wir zum Scheidhof kommen.«

»Geh, brumm doch net schon wieder!« Frau Rosl rief durch den dunklen Flur gegen die Küche: »Burgi! Du kannst dich schlafen legen! Die Haustür sperr ich ab.«

»Sag ihr, sie soll um elfe zum Vater kommen und soll dich abholen.«

Frau Rosl hob das Gesicht. »Bist doch du bei mir!«

»Ich kauf mir auf dem Heimweg noch ein Krügl im Hirschen. Heut muß ich mich ein bißl aufrappeln.«

Schweigend zog Frau Rosl die Haustür zu und drehte den Schlüssel um. Dann sagte sie: »Die Burgl hat streng geschafft und muß sich ausschlafen. Ich find den Weg schon allein. Fürchten tu ich mich net.« Sie schob den Hausschlüssel in die Tasche. Während sie über den Hof hinausschritt gegen den Mühlbach, trat sie plötzlich vor Bertl hin und nahm seine Wangen zwischen ihre Hände. »Bertele? Was hast du denn heut? Tust dich sorgen um den Vater?«

»Was dir einfallt! So ein Ritzerl in der Haut! Das muß doch heut schon wieder gut sein.«

»Aber was hast du denn nacher?«

»Langweil!«

Der kleinen Frau schossen die Tränen in die Augen. Bertl konnte das nicht sehen – so dunkel war es schon. »Freilich, den ganzen Tag in der Mühl! Hast recht, Bertl, such dir ein bißl Gesellschaft!« Dann sprang sie gegen den Garten hinüber.

»Was ist denn?«

»Dem Nannerl muß ich noch was sagen.«

Als Frau Rosl am Haus um die Ecke kam, erschrak sie, weil sie im schwarzen Schatten der Hecke was huschen sah. Sie guckte und lauschte. Im Garten war alles still. Nur drüben den Mühlbach hörte sie rauschen. Und am Waldsaum trillerte eine Nachtschwalbe. Ein Weilchen lauschte die kleine Frau, dann lachte sie vor sich hin. »Er hat Langweil, und ich hab Angst. Und alle zwei sind wir dumme Leut!« Sie sprang auf das erleuchtete Fenster zu und pochte an die Scheibe.

In der Stube fuhr das Nannerl vom Sessel auf, als hätte der Blitz durch die Decke geschlagen.

»Du, Nannerl! Das Gurgelsalz, wenn du noch eins brauchst, das steht auf dem Kasten, in dem grünen Schachterl.«

Der kleine Bursch in seinem Bettl nieste ein bißchen und sagte: »Gut Nacht, Mammi!«

Die Mutter war schon verschwunden, und das Nannerl griff mit zitternder Hand nach dem Glas. »Komm Herzele, tu noch ein bißl –« Ehe sie das ominöse Wörtl herausbrachte, fing Bubi schon zu greinen an. Das Gurgeln hatte sich beim Fritzele nicht der geringsten Sympathie zu erfreuen. Erst das heilige Versprechen, daß ihm Nannerl wieder ein Geschichtl von dem treuen Königssohn mit dem blauen Mantel erzählen würde, konnte Bubi veranlassen, das saure Geschäft zu erledigen. Dann mußte sich Fritzele schön unter die Decke huscheln, und das Nannerl fing zu erzählen an: »Da is amal a reicher und mächtiger König gwesen. Der hat an Königssohn ghabt, so viel lieb und schön, so viel tapfer und treu. Der hat Phyladexl gheißen, und an blauen Mantel hat er ghabt, mit lauter Sterndln drauf und mit goldenen Fransen um und um. Und der is amal im goldscheinigen Sommer aus seim schneeweißen Rößl aussigritten aus seim Königshaus –«

Erst vierundzwanzig Stunden war dieses Märchen alt und hatte sich im verdrehten Köpfl des Nannerl ausgewachsen zum lieblichsten Wunder des Lebens.

»Und da hat der Königssohn an Juchezer tan und hat zum Annemarannele gsagt – schau, hat er gsagt, mein goldscheinigs Königshaar hab ich mir abschneiden lassen für dich. Du bist die Beste, hat er gsagt, und die Schönste bist du. So lieb und brav wie du ist keine nimmer aus der gottsweiten Welt.«

»Hat er gsagt?«

»Auf Ehr und Seligkeit! Und 's Annemarannele hat er aufs Rösserl auffigehoben –«

»Schneeweiß« korrigierte Bubi, weil Nannerl das unentbehrliche Eigenschaftswort des königlichen Rößleins vergessen hatte.

»Aufs schneeweiße Rösserl! Und ums Annemarannele hat er den blauen Königsmantel ummigwickelt –«

Draußen in der Wohnstube tat die alte Kastenuhr drei Schläge, und das Nannerl zuckte zusammen, als hätte der Hammer auf ihr Herz geschlagen, nicht auf die Glocke in der Uhr. Stumm, mit großen Augen, lauschte das Nannerl.

»Bitti, tu verzählen!«

»Und da hat der Königssohn das Annemarannele zu seiner Königin gmacht! Und die zwei, die leben! Auf Ehr und Seligkeit! Die leben!«

Für das Nannerl war das Märlein zu Ende. Nicht für das Fritzele. »Was hat er denn nacher tan, der Königssohn? Und 's Annemarannele?«

»Sie sind halt Königsleutlen gwesen.«

»Was tun denn die Königsleut?«

Da wurde das Nannerl vom schönen Märlein im Stich gelassen. Was tun die Königsleut? Essen und trinken, in goldenen Betten schlafen und aufstehen, wenn die Sonne scheint. »Gut haben tun sie's halt.« Jeden Tag in die Kirch gehen und beten, Grillen fangen und Hasen schießen. Lauter solche Dinge treiben sie, bei denen ein vierjähriges Bürschl gähnen und einschlafen muß.

Das Fritzele schlummert fest, als draußen der Hammer in der Kastenuhr die zehnte Stunde schlug. Wie versteinert saß das Nannerl in dem alten Lehnsessel und sieht am Fenster ein junges, hübsches, lachendes Gesicht, halb rot vom Kerzenschein, halb schwarz von der Nacht. Erschrocken springt das Nannerl auf, bläst die Kerze aus und steht mit Zittern in der Finsternis, mit Angst und Jubel, mit Sehnsucht und Furcht. Die Sohlen sind ihm neben dem kleinen Bett wie festgewachsen. Aber das schöne Märlein wickelt den blauen Mantel um die Zitternde und führt das Nannerl, ob es will oder nicht, auf leisen Zehenspitzen hinaus in die Stube, in den Flur, zur Haustür. Schade, daß die Märchen keine Schlüssel haben, um verschlossene Türen aufzusperren. Atemlos steht das Nannerl in der schwarzen Kühle des Flurs und wagt sich nimmer zu rühren, bis ein Stimmchen in seinem verdrehten Kopf was flüstert von einem Weg, der durch die Stube führt, durch die Kammer und mit einem Sprung durchs Fenster in die Nacht hinaus. Draußen schlingen sich zwei Arme um dieses junge, verlorene Leben, das an Märchen glaubt.

Schwül haucht die stumme Nacht durch das offene Fenster in die Kammer. Der Mühlbach rauscht, als läge er in weiter Ferne. In der großen Stube schlägt die Kastenuhr, wieder und immer wieder, lauter als zuvor, weil die Tür der Stube offen steht. Das Fritzele schlummert. Ein sausender Windstoß wirft den Fensterflügel gegen die Mauer. Das Kind erwacht. »Nannele!« Es legt sich wieder hin und schlummert weiter.

Da fällt ein Rauschen in die Nacht, als wäre der Mühlbach näher gerückt und flösse dicht am offenen Fenster vorbei. Ein blauer Schein zuckt auf, und während das Fenster für einen Augenblick mit tausend weißen und blauen Schnüren verhangen scheint, geht über das Hausdach ein dröhnendes Rollen hin. Das Kind wird munter und zieht sich in seinem Bettl am Geflecht des Gitters in die Höhe. »Nannele!« Ein Blitz fährt nieder, so grell, daß die ganze Stube in bleichem Feuer zu schwimmen scheint. Die Diele, das kleine Bett und das erschrockene Fritzele, alles ist für eine Sekunde schneeweiß geworden. Wieder die Finsternis. Unter dem Krachen des Donners bettelt das zitternde Bürschl: »Nicht, nicht! Bitti, nein! Bitti, nein!« Weil das Nannerl noch immer nicht kommen und helfen will, klettert das Fritzele in seiner Angst über das Gitter, macht einen Purzelbaum, ist geblendet von dem weißen Feuer, das in die Stube fällt, ist betäubt von diesem Schmettern und Krachen. Schreiend will es in der Finsternis das Bett suchen, in dem das Nannerl schlafen sollte, und wird von einem Regenguß überschüttet, den der Wind hereinpeitscht durch das offene Fenster. Bei dem weißen Feuer, das durch die Kammer flackert, sieht das Fritzele eine offene Tür und flüchtet hinaus in die Stube. Während der Donner rasselt, steht es frierend in der rauschenden Finsternis und schreit mit erwürgtem Schluchzen nach dem Vater. nach der Mutter.

Irgendwo eine kreischende Stimme: »Jesus, was ist denn da?«

In der Kammer klirrt das Fenster, ein Sessel fällt. Bei dem grellen Feuer eines Blitzes taumelt das Nannerl mit keuchendem Laut in die Stube. Zwei Arme, die von Nässe triefen, umklammern das schreiende Kind.

Als das Burgele, die alte Küchenmagd, mit der flackernden Kerze und im roten Unterrock aus dem Flur hereinstürzt, findet sie eine leere Stube und eine verriegelte Kammertür. »Hat sich 's Bübl wieder vor'm Wetter gforchten?« Lachend geht die Magd davon.

Immer wieder brennt es um die Fenster, weiß und blau. In den Lüften ist ein Hall, als wären alle Berge ins Stürzen geraten, und dumpfes Rauschen erfüllt die Nacht. Der Mühlbach ist ein tosender Riese geworden und strömt seine wirbelnden Wasser über die Wiesen hinaus und über die Straße. Das ist eine böse Stunde für den Einsamen, der durch die rauschende Finsternis den Heimweg zum Roten Hirschen sucht. Immer wieder muß er stehenbleiben, um die weisende Helle eines Blitzes abzuwarten. In Strömen rinnt es an ihm herunter. Dennoch geht er langsam. Bei jedem Schritt muß er den Weg erst suchen und mit dem Fuße tasten, ob er nicht ins Bodenlose tritt. Wie er aufatmet, als er das Dorf erreicht, die sichere Straße! Bei jedem Blitzstrahl leuchten die blauen Dächer und die weißen Mauern der Häuser vor ihm auf. Bald hier, bald dort in einem Gehöfte rennt ein Bauer am schwarzen Zaun entlang und guckt nach den Firsten, ob noch keiner brennt.

Mit den vier Glocken, die im Kirchturm hängen, läuten sie das Wetter an. Und die Sakristei ist erleuchtet.

Vor dem Zauntor des Wirtshauses steht Jarno unter dem Regenschirm und im Wettermantel. Beim Schein eines Blitzes sieht er den anderen kommen und schreit seinen Namen in das Rauschen hinaus.

»Ich komme, ja!«

»Gott sei Dank!« Mit langen Sprüngen zum Haus hinüber. »Hansi! Da kommt er!«

Ein jubelndes Lachen. Durch die rote, aus den Fenstern der Wirtsstube zitternde Helle huscht ein weißes Figürchen in den schwarzen Regen hinaus, und mit glückseligem Aufschrei wirft sich die niedliche Sünderin dem Heimgekehrten in die Arme. Er war für sie ein Spiel der Langweile. In dieser Stunde der Gefahr hat sie um ihn gezittert, hat ihn liebgewonnen. Lachend zieht sie den Triefenden zum Haus, an einem Mädel vorbei, das hinkend hinaustappt auf die Straße. Es ist die lahmende Häsin aus des Peterls Hasenstall. Bis zur Kirche muß sie laufen, um über die Dächer und Bäume hinausschauen zu können nach dem Hohen Schein. Das Feuer eines Blitzes durchleuchtet den Regen bis zum Scheidhof. Weiter in der Ferne ist auch bei der flammenden Helle alles ein undurchdringliches Grau. »Mar' und Josef!« stammelt die Zenz in ihrer Sorge. »Hat der heut a Nacht!«

Da hört sie im Rauschen und Rollen das feine Gebimmel eines Glöckleins. Ihr erster Gedanke ist Schreck. Das kann doch dem Mertl nicht gelten? Der ist gesund! Wem gilt es? Da klingelt's wieder. Eine Laterne kommt mit verschwommenem Schein durch die Nacht, und die Zenz kniet in das rinnende Wasser der Straße nieder, bekreuzt das Gesicht und faltet die Hände. Ein greller Blitz umleuchtet den Mesner mit dem Glöckl und der Laterne, den Pfarrer im weißen Chorhemd, in der einen Hand das Ziborium, in der anderen den Regenschirm. Um die beiden her ist ein blaues Gefunkel von tausend großen Tropfen, die nicht zu fallen, sondern regungslos in der Luft zu schweben scheinen. Dann alles erloschen in schwarzer Finsternis.

Der Pfarrer taumelt in der Schwäche seines Alters. Was hat dieser Tag über ihn gebracht! Noch kann er die Finger kaum bewegen, noch ist halb der Krampf in seinen Händen. Ängstlich klammert er die Faust um das Ziborium, weil er immer fürchtet, er könnte stolpern und das Heiligste fallen lassen. »Mesner! Ich seh den Boden nimmer. Tu net so wackeln mit der Latern!«

»Das tut der Wind, Hochwürden!«

Ein Blitzstrahl fuhr in den Bergwald, Strahl und Donner zugleich. Hinter dem unbeweglichen Tropfenschleier blauten die Baumkronen und Dächer des Scheidhofes.

»O Jesus! Jesus! Wenn er's nur noch erlebt, daß ich ihn trösten und speisen kann!«

Wäre das nicht gekommen, wie wäre dem Pfarrer dieser Tag so schön gewesen, trotz Krampf und Schweiß und Sonnenstich auf der Glatze. Er hatte an diesem Tag einen Menschen gewonnen. Und sollte in dieser Nacht einen Menschen verlieren! Der liebe Herrgott machte dem hochwürdigen Herrn die Freude mit Schmerzen quitt. Bei der Nachricht, die er vom Walperl gehört hatte, war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. Und draußen im Scheidhof dieses traurige Bild: das Thildele mit dem versteinerten Gesicht und den flehenden Augen. Und Walter, der alles andere war, nur nicht der Philosoph mit dem sicheren Gleichgewicht des Lebens. Dann der Arzt mit seinem unerbittlichen Wort: »Verloren!« Und der lustige Sägmüller, der lachend in das Haus getreten war, um in Schreck zu erstarren! Und die Sägmüllerin mit dem verstörten Gesicht! Und der Kranke mit seinen ruhigen Delirien, in denen, so sinnlos sie auch durcheinanderflossen, noch immer ein Stück von aller Schönheit seines Lebens war!

»Obacht, Hochwürden, das Tor ist da.«

»Tu nimmer schellen, Mesner! Das Thildele könnt erschrecken.«

Der Mesner klingelte nicht. Aber droben im Torbogen läutete die Glocke. Das Walperl kam durch den rauschenden Regen von der Villa heruntergelaufen, um den Hochwürdigen zu führen. Sie bekreuzte sich und nahm dem Pfarrer den Schirm aus der Hand. Der Flammenschein eines Blitzes zuckte durch die Finsternis, und unter dem Rollen des Donners hörte man bei den Scheunen des Scheidhofes die schreiende Stimme des Bonifaz: »Her da mit die Bretter! Un auffi zu mir aufs Dach! Tummelts enk, Leut, oder 's ganze Heu geht drauf.«

In der Veranda stand eine brennende Laterne, und bei der Haustür empfing der Arzt den Pfarrer. »Schlecht geht es. Die rechte Seite ist völlig gelähmt, die Sehkraft schon halb erloschen. Aber Bewußtsein ist noch da, er schläft nur. Ein bisserl vorsichtig, Herr Pfarrer!«

Der Hochwürdige nickte stumm. Und das Walperl öffnete ihm lautlos die Tür der weißen Stube. Das Licht war so gedämpft, daß die vier stummen Menschen, die um den Kranken waren, ganz grau erschienen. Hell war nur die Tischplatte, auf die der Schein der verhängten Lampe fiel. Hier lag umher, was der Arzt aus seiner Ledertasche gekramt hatte.

Frau Rosl schlang den Arm um ihren Mann. »Komm, Bertele, der hochwürdige Herr ist da!« Sie führte ihn aus der Stube. Und Walter beugte sich zu Mathild nieder, die am Bett saß und die Hand des Kranken umschlossen hielt. »Fräulein!«

Mathild küßte die Hand des Vaters und erhob sich. Den Pfarrer konnte sie nicht grüßen. Sie mußte das Gesicht auf die Seite wenden und rasch aus der Stube gehen.

Jetzt war der hochwürdige Herr Christian Schnerfer mit dem Sterbenden allein. Lange stand er vor dem Bett und betrachtete das ruhig schlummernde Antlitz, um das der Lampenschatten seine Schleier webte. Dann trat er zum Tisch. Draußen flammte ein Blitz, und der Donner übertönte das Rauschen des Regens. Während der Pfarrer mit zitternden Händen das silberne Gefäß öffnete, in dem das viaticum clinicorum verschlossen war, fiel vom Saum seines Talares das Wasser in schweren Tropfen auf die Diele. Da hörte er hinter seinem Rücken eine matte, ruhige Stimme. »Hochwürden? Was machen S' denn da?«

In Schreck und Freude wandte sich der Pfarrer nach dem Kranken um und fand in der Ratlosigkeit des Augenblicks nur die stotternde Frage: »Sagen S' mir lieber, was Sie da für Geschichten machen?«

Der Kranke lächelte. »Ein kleines Spaziergangerl mach ich. Zu meiner lieben Frau. Passen S' auf, Pfarrerle, wie flink da mein lahmes Untergestell marschieren wird!« Er wollte dem Pfarrer die Hand reichen und konnte den Arm nicht heben. Der Sturm peitschte unter dem Widerhall des Donners den Regen an die Fenster. »Gelt, ein Wetter ist? Das wird seiner Feldfrucht gut tun. Heu hat er, Gott sei Dank, auf den Wiesen keins mehr liegen.«

»Aber! Herr Forstmeister! Sie reden ja ganz munter daher. Da kann's doch net so bös ausschauen?« Der Pfarrer beugte sich über das Bett. »Aber weil ich schon grad da bin – Gottes Segen ist allweil gut – möchten Sie da net das Heu in Ruh lassen und lieber das Herz ein bisserl vor dem Priester auftun, der allweil Ihr Freund gewesen. Und von dem Sie wissen, daß er ein Mensch ist.«

Ein Weilchen schwieg der Kranke. »Herr Pfarrer? Sie kennen mich. Glauben Sie, daß ich was getan hab im Leben, was ich mit Reu bekennen müßt?«

»Nein, Herr –« Der Pfarrer sagte nicht: Herr Forstmeister. Er sagte: »Herr Ehrenreich!«

»Daß ich meinen Namen verdien? Ist das Ihre Überzeugung?«

»Ja.«

»So wird auch unser Herrgott mit mir zufrieden sein.« Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Kranken. »Ein bisserl neugierig bin ich auf die große Gerechtigkeit – die ich schauen soll, wenn mir die Augen blind werden.«

»Mein lieber, guter Freund!«

»Irgendwo muß doch die Wahrheit sein.« Die Stimme des Kranken erregte sich. »Sieben Jahr lang hab ich den Kerl gesucht, der mein schönes Leben –« Das sprach er nicht zu Ende. »Lassen wir's gut sein! Ich hab meinem Kind versprochen, daß ich nimmer red davon. Aber dran denken will ich, bis mir das Herz kalt geworden.« Wie von Schmerz befallen, zog er die Brauen zusammen, schloß die Augen und sagte mit matter Stimme: »Hochwürden! Zu Gott komm ich bald. Jetzt will ich die Kinder haben. Mir wird ein bißl grau vor den Augen.«

Der Pfarrer zappelte zur Tür.

»Ist alles gut gegangen?« fragte draußen im Flur der Mesner.

»Freilich, freilich!« stammelte der Hochwürdige. »Der Herr Ehrenreich. Das ist doch ein Christ, wie wenig leben.« Er riß an der Wohnstube die Tür auf und hörte in de Stille, die er da fand, das Rotkehlchen zwitschern. »Thildele! Kinder! Euer Vater will euch haben.«

Mit ersticktem Laut, den ihr Hoffnung und Angst auf Herzen preßten, eilte Mathild, den anderen voraus, in die weiße Stube hinüber. »Papa!«

Der Kranke regte sich nicht. Doch sprechen konnte er: »Kind, mein liebes! Komm her zu mir!«

Mathild fiel nieder vor dem Bett und preßte die Wange auf die glühende, regungslose Hand des Vaters.

»Kind! Willst du mir's leichter machen? Wirst du mutig und stark sein, wie deine Mutter war?«

Ein Zittern lief über ihren Körper. »Ja, Vater!« Sie richtete sich auf und küßte ihn auf die Wange. »Liebe, das bleibt ein ewig Ding!«

»Dann ist um dich keine Sorg mehr in meinem Herzen.« Der matte Klang seiner Worte erlosch im Rollen des Donners. »Was für ein Wetter das ist! Da mußt du gleich in der Früh deine Rosen aufbinden. Eh die Sonn herauskommt, mußt du das tun. Und Bertl – ich seh den Buben nicht – wo ist denn der Bertl?«

Der stand neben der Schwester. Mühsam bezwang er das Schluchzen, das ihm in die Kehle stieg. »Vater! Ich bin bei dir.«

»Richtig, ja – ganz gut seh ich dich. Wo ist denn deine Hand? Und schau, lieber Bub, das muß ich dir noch mal sagen: die Brücken mit den weiten Bogen – nein, Bub! Sei du groß in deiner kleinen Stub! Und die Rosl? Gelt, die Rosl ist auch da? Freilich, Rosele, ich seh dich schon! Und gelt, du bleibst meinem Buben sein festes Glück?«

Frau Rosl konnte ihre Tränen nicht bezwingen. Und ihr Hochdeutsch hatte sie ganz vergessen. »Ja, Vater, dös bleib i, so gut i's versteh!«

»Und sag mir, Geiß, wo ist denn –« Ein leises Lächeln. »Jetzt weiß ich nimmer: soll ich Philosoph sagen oder Scheidhofer? – Wo ist er denn?«

Walter faßte die Hand des Sterbenden.

»Richtig!« Ein Weilchen schwieg der Kranke, tief atmend. Dann befiel es ihn wie Unruh, und seine Stimme kämpfte um jeden Laut. »Der Pfarrer! Der soll – soll –«

»Was soll ich, Herr Ehrenreich?«

»Hochwürden! Dem da soll bleiben, was mir gehört hat in Ihrem Herzen! Dem helfen Sie, gelt? Und – das hätt ich schier vergessen – der Sonnweber – ich will den Sonnweber haben! Dem muß ich noch was sagen –« Die Stimme des Kranken wurde zu unverständlichem Geflüster. Der Arzt nahm rasch den Schirm von der Lampe und beugte sich forschend über das fieberglühende, von Schmerz und Sorge redende Gesicht.

Es war in der Stube hell und weiß. Der Lampenschein machte die nassen Wangen der Menschen glitzern, die in lautloser Angst um den Kranken standen, und warf ihre Schatten schwarz an die lichte Wand. Auch draußen war es still geworden. Nur noch das Gurgeln in den Dachrinnen und das eintönige Geräusch der Traufe. »Den Sonnweber hol ich«, lispelte der Pfarrer, »ich muß das Heilige heimtragen in die Kirch, dann bring ich den Sonnweber mit.«

Die Sägmüllerin nickte mit verweintem Gesicht, als der Hochwürdige zur Tür ging. Die andern merkten nicht, daß einer die Stube verließ.

Das feine Gebimmel des Mesnerglocke, und gleich darauf ein schwerer Schritt im Flur.

Bonifaz erschien auf der Schwelle, in Hemdärmeln, von Nässe triefend. Das grobe Linnen klebte ihm an den Muskeln, und sein Gesicht glühte. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach dem Bett, in dem ein Sterbender lag, und dämpfte kaum merklich die Stimme, als er zu Walter sagte: »Herr, ins Stadeldach hat's a Mordsloch einigrissen. Mit Bretter haben wir's überhops vernagelt. Und 's Wetter schaut a bißl lichter drein. Aber in aller Fruh müssen die Zimmerleut her, oder 's Heu kunnt hinsein. Darf ich um d' Arbeitsleut schicken?«

Erschrocken trat Walter auf Bonifaz zu und drängte ihn hinaus in den Flur. »Aber Mensch! Wie können Sie denn –«

»No ja! Wann aber 's Heu naß wird!«

»Dann tun Sie doch, was Ihnen gut scheint! Mir is alles recht.«

»Aber wann Enk 's Heu von der Weiherwiesen anschimmelt, 's beste vom Scheidhof? Dös kunnt Enk ebba doch net recht sein?«

Walter, ohne zu antworten, schloß die Tür.

Augenscheinlich hatte der junge Scheidhofer in dieser Minute keinen guten Eindruck auf seinen Knecht gemacht. »Auf den Bauern bin ich neugierig!« Den Kopf schüttelnd, wollte Bonifaz davon.

Da hatte ihn das Walperl beim triefenden Ärmel. »Um Gottes willen! Bub! Wie schaust denn aus?«

»Mein! Naß halt!« erwiderte Venantius Gwack. »Laß aus! Ich muß umanandspechten, was alles passiert is. Herrgott, is dös a Wetter gwesen!« Bonifaz sprang in die Nacht hinaus.

Das Mädel ging ihm durch die Veranda nach und schlich auf den Zehenspitzen zum Fenster der weißen Stube. Während sie sich bekreuzte und zu beten anfing, guckte sie in Sorge und Erbarmen durch eine Spalte der Gardinen. Sie sah nur den breiten Rücken des Arztes.

Der stand am Tische, kramte in seiner Ledertasche und machte was zurecht. Dann trat er an das Bett und schnitt mit einer Schere am Arm des Kranken den Hemdärmel auf. Er griff nach etwas, das unter einem Tuch auf dem Tische lag. Als die Nadelspitze den entblößten Arm berührte, bewegte sich der Kranke. Dann lag er wieder ruhig in den Kissen, die Augen offen, kein Zeichen von Schmerz in den Zügen. Unter gleichmäßigem Atem hob und senkte sich seine Brust. Manchmal ging es ihm wie ein Lächeln um die bärtigen Lippen.

Draußen in der Nacht kein Laut mehr. Sogar die Traufe war still geworden. Als der Arzt ein Fenster öffnete, um durch frische Lust dem Kranken das Atmen zu erleichtern, sah er am stahlblauen Himmel die Sterne blitzen. Es strömte in die weiße Stube herein, so frisch, als wäre schon die Ahnung eines schönen Morgens in diesem Hauch der Nacht. Immer leichter schien der Kranke zu atmen. Nun ging ein Zittern durch die graue Wolke seines Bartes, die Lippen bewegten sich, und Mathild beugte sich nieder, um den flüsternden Laut zu erhaschen.

»Das – ich will – das will ich noch mal hören. Von der Mutter, das –«

Keines von den andern hatte die lispelnden Worte vernommen. Nur Mathild hatte verstanden. Die Hand des Vaters küssend, erhob sie sich, ging aus der Stube und ließ die Tür weit offen, auch drüben die Tür der Wohnstube.. Durch die Stille kam es herübergeschwommen wie ein tönender Traum, mit zarten, schmeichelnden Klängen: das Präludium von Chopin, das die Mutter gespielt hatte an jenem letzten Abend, bevor sie sich niederlegte, um nimmer aufzustehen. Ein wundersames, zärtliches Lied, singend von allen klaren Tiefen einer Menschenseele, von allem Zauber eines lächelnden Sonnentages! Doch wie das Pochen eines furchtsam gewordenen Herzens tönt in der Harmonie eine ruhelose Note, immer die gleiche. Das wächst und schwillt wie eine läutende Glocke im Gewitter, und läutet immer das gleiche: sterben mußt du! sterben! sterben! Gleich brausenden Wogen, aus denen die Vernichtung flutet, rauschen die Klänge und dämpfen sich wieder und finden Ruhe. Jene rastlose, leis gewordene Note klingt wie Tropfenfall, wenn nach still gewordenem Wetter der Himmel sich klärt. Wie das Fallen von Tränen ist es, die sich in Klang verwandeln. Und aus dem bangen Atem dieser Trauer hebt sich lieblich und zart jene singende Stimme.

Walter stand am offenen Fenster der weißen Stube, als nach allem Sturm der Töne dieses wundersame Lied zu klingen begann. Tiefste Erschütterung war in seiner Seele, und zugleich eine Freude, die von der kommenden Sonne sprach. Seine Augen hingen an dem alten Herrn. Er sah nicht einen Sterbenden, sah den Lebenden in seiner ruhigen Kraft. Und hörte seine feste, klare Stimme, hörte ihn sagen: »Das ist unter allem, was Klang geworden, das Schönste! Und wie sie das spielte, Doktor! Jede Saite eine tönende Faser ihres Herzens.«

Der letzte leise Klang verschwebte.

Lautlos kam Mathild in die weiße Stube, erschöpft, in den Augen einen suchenden Blick der Angst.

Bei ihrem Anblick war es in Walter, als müßte er sie in seine Arme nehmen, um sie zu bergen an seiner Brust.

»Thildele«, stammelte Bertl, »schau nur, wie er daliegt, so gut und ruhig! Der kann doch keine Schmerzen nimmer haben!«

Erschrocken eilte Mathild an das Bett und sah, daß die Brust des Vaters atmete. Schweigend kniete sie nieder und hielt seine Hand umschlossen.

Draußen graute schon der frühe Sommermorgen, als der hochwürdige Herr wiederkam und den Bürgermeister brachte. Der große, stattliche Mensch mit dem schönen Apostelkopf, als er zur Tür hereintrat, warf einen scharfen, huschenden Blick nach dem Bett und über die Menschen hin, die um den Sterbenden waren. Und atmete tief auf – wie einer, dem es leicht um das Herz wird. Er drückte die Hand der Sägmüllerin und sagte zu Bertl mit seiner milden, guten Stimme: »So bin ich meiner Lebtag net erschrocken! Aber 's Gottvertrauen laßt net aus bei mir. A Mensch, wie Enker Herr Vater, därf net sterben. So arm kann unser Herrgott d' Welt net machen!« Er trat auf Bett und musterte ruhig den Schlummernden, der die bewegungslosen Augen offen hatte und wie in weite Ferne zu blicken schien. »Gut schaut er aus! Der macht sich schon wieder.« Ein forschender Blick zu Mathild hinüber. »Und wie ich ghört hab, will er mir ebbes sagen? Dös sagt er mir noch. Als a Lacheter und Gsunder!«

Mathild zog wie in quälendem Schmerz die Brauen zusammen.

Der Bürgermeister blieb zu Füßen des Bettes stehen, und während er den Kranken unverwandt betrachtete, sprach ihm die frohe Hoffnung, die sein braves Herz erfüllte, deutlich aus den schönen Augen.

Still rannen die Minuten. Im Scheidhof drüben krähte ein Hahn, und irgendwo in der Nähe ließ sich das Gurren zweier Tauben hören.

Wie würzig die Luft war, die der bleiche Morgen hereinhauchte durch das Fenster!

Immer ruhiger atmete der Kranke.

Gebeugt saß der Pfarrer auf einem Sessel. Seit er gekommen, hatte er noch kein Wort gesprochen. Es lag ihm wie Blei in den Gliedern, wie Blei auf den Augen. Er hatte mit dem Schlaf zu kämpfen, und manchmal war er für eine Minute der Besiegte.

Im Garten schlug eine Amsel. Und lustig schwatzende Menschen gingen über den Hof, der Zimmermann mit seinen Gesellen.

Wieder waren dem hochwürdigen Herrn die Lider zugefallen. Da weckte ihn eine Hand, die sich auf seinen Arm legte. Als er aufblickte, stand der Arzt neben ihm und winkte mit den Augen hinüber zum Bett. Der Pfarrer konnte nicht aufstehen, faltete nur die Hände im Schoß und warf einen erschrockenen Blick auf Walter.

Das Licht des Morgens wurde weiß und ließ das friedliche Gesicht des Schlummernden, der die Augen offen hatte, wie Wachs erscheinen. Sonnweber beugte sich über die Fußlehne des Bettes und stierte in dieses Gesicht, das der Morgen so weiß machte. »Jesus!« stammelte Bertl. Und der Arzt ging aus der Stube.

Mit ersticktem Laut sprang Mathild vom Sessel auf, befühlte die Wangen des Vaters und umklammerte die erkaltende Hand. »A Kreuzl!« keuchte der Bürgermeister. »So gebts ihm doch a Kreuz! Wie könnts ihn denn ohne Kreuzl sterben lassen!« Er hob sich mit dem Knie auf die Fußlehne des Bettes. Mathild streckte die Arme, um das zu hindern. Da hatte Sonnweber schon das kleine, gußeiserne Kruzifix erfaßt, das an der Mauer hing. Halb sich hinwerfend über das Bett, schob er dem Toten das Kreuz unter die verkrüppelten Finger. Und atmete auf, als hätte er das heiligste Werk seines Lebens getan.

Während Bertl sich schreiend vor dem Toten niederwarf, schlang Walter die Arme um Mathild: »Der Vater ist ohne Schmerz gestorben. Sein Leben war Sonne, sein Tod ist ein heiliges Wohnen in uns.« Sie konnte nicht sprechen, nicht weinen. Zuckend überließ sie sich den stützenden Armen und klammerte sich an Walter, wie nur der tiefste Schmerz und die Liebe einen Menschen umschlingen kann. Walter fühlte die Liebe, die in seinen Armen, an seinem Herzen zitterte, und die Trauer dieser Stunde floß ihm zusammen mit der Freude seines Glückes.

Der Pfarrer trat zu den beiden. »Doktor! Wir müssen das Kind hinausführen. Draußen wird sie weinen können.« Und die Sägmüllerin half ihrem Mann von den Knien auf: »Geh, Bertele, komm! Und denk an dein' Buben! Der Vater und d' Mutter sind überall bei dir.« Sie zog den Taumelnden aus der Stube.

Sonnweber blieb allein zurück. Zögernd trat er an die Langseite des Bettes, beugte sich nieder und spähte mit funkelndem Blick in das stille, wächserne Gesicht. Als er sich lächelnd aufrichtete, sah er im weißen Licht des Morgens diese offenen Augen glänzen. Das war, als hätten sie sich bewegt. Den großen Menschen befiel das Zittern eines Kindes. Kreidebleich war er geworden, wollte aus der Stube und stand doch wie angewurzelt. Taumelnd stieß er mit dem Knie gegen die Bettlade – dem Toten glitt die Hand mit dem kleinen Kreuz von der Brust – und Sonnweber stürzte nieder, streckte verstört die Arme und lallte: »Tu mir's verzeihen – tu mir mei' Lumperei verzeihen –« Er hörte einen Schritt, wollte erschrocken aufspringen, war wie gelähmt und drückte zitternd das kalkweiße Gesicht auf die Fäuste.

Der hochwürdige Herr Christian Schnerfer, der in die Stube getreten war, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sonnweber, wir haben viel verloren. Auch wir zwei. Einen Freund, so herzensgut und redlich, finden wir nimmer im Leben.«

Nach einer stummen Weile antwortete der Bürgermeister mit seiner schönen, warmen Stimme: »Unser Herrgott macht's, wie er will. Die irdisch Unvernunft muß sich einischicken ins Unerforschliche. Mit'm Klagen kommt einer net weit. In Gotts Namen!« Er bekreuzte das Gesicht und erhob sich. Wieder erschreckten ihn die offenen Augen des Toten. »Gelten S', Herr Pfarr – dös hat sich mei' Freundschaft verdient, daß ich ihm d' Augen zudrucken därf?« Ohne eine Antwort auf diese Frage abzuwarten, fuhr er dem Toten mit hastigem Griff ins Gesicht, drückte ihm die kalten Lider zu – und atmete auf wie ein Erlöster.

In der Tür erschien das Walperl, mit der Schürze vor den Augen. Während die drei vor dem Bette knieten und für den Toten das Vaterunser beteten, kam der Arzt in die Stube, kramte sein Zeug in die Ledertasche und ging wieder.

»In Ewigkeit, Amen!« Der Pfarrer trat an das Bett und legte dem Toten auf der Brust die Hände übereinander.

»Zwei Kerzen mußt anzünden!« sagte Sonnweber zum Walperl. »Dös muß sein, wann einer gstorben is. Die arme Seel hat kei' Ruh auf der ewigen Straß, wann ihr 's Licht net zunden wird!« Sich wieder bekreuzend, verließ er die Stube. Auf der Veranda fand er die anderen. Bertl saß auf der Bank, hielt die Schwester umschlungen, streichelte ihr das Haar und sprach mit erstickten Worten auf sie ein. »Uns hast du, Thildele! Mich und die Rosl! Gelt, uns hast du!«

»Und mich!« sagte Sonnweber. »Auf mich können S' Ihnen verlassen. Dös wissen S', gelt?« Er drückte Mathilds Hand. Dann wandte er sich ab und ging hastig davon, als hätte er eine Rührung zu verbergen, die der sicheren Kraft seiner Natur und der Würde seines Lebens übel anstand. Sein Schritt war wie der aufrechte, feste Gang eines Menschen, dessen Dasein leicht wurde und die letzte Sorge verlor.

Der Pfarrer kam aus dem Haus. »Kinder! Meine lieben Kinder!« Verstummend nahm er Mathild in seine Arme. Erst nach einer Weile konnte er wieder sprechen. »Du bist deiner Mutter und deines Vaters Kind! Ein besseres Trostwort kann ich für dich nicht finden. Wenn dir das Herzl gar zu weh wird, musizieren wir und spielen das Allerbeste. Das tröstet!« Da sah er den Blick, mit dem die Augen Walters an Mathild hingen. »Dein junges Leben hast du doch auch. Und hast auf ein Glück zu hoffen, auf ein festes und treues Glück!« Mathild löste sich stumm aus seinen Armen. »Schau, Thildele, jetzt muß ich heim und muß mich ein Stündl niederlegen. Sonst kann ich heut die Meß nimmer lesen. Tu dich auch ein bißl ausruhen. Die Natur will ihr Recht.«

»Ich danke, Hochwürden! Für alles!« Mit einem Blick, der den Pfarrer in Sorge aufschauen machte, drückte sie ihm die Hand. Dann trat sie ins Haus.

Auf den Stufen der Veranda strauchelte der hochwürdige Herr. So übel war es an diesem Morgen um seine Beine bestellt. Walter sprang zu ihm hin. Und Frau Rosl sagte zu ihrem Mann: »Den Pfarr müssen wir heimführen! Schau nur, der kann ja schier nimmer stehen.« Das war nicht nur Erbarmen mit dem müden Greis, der Sägmüllerin war es auch darum zu tun, ihren Mann heimzubringen, zu dem tröstenden Anblick seines Buben. Bertl nickte. »Den Vater möcht ich noch mal sehen!« Von Schluchzen befallen, taumelte er in den Flur. Und Frau Rosl huschte neben ihm her, wie man ein Kind behütet.

»Vergeltsgott«, hatte der Pfarrer zu Walter gesagt, »jetzt haben S' mich grad noch beim Zipfel erwischt. Sonst hätt ich die Meß heut lesen können mit einem Pflaster auf dem Schnabel.« Er sah die beiden im Haus verschwinden und tat einen tiefen Seufzer. »So was Natürliches ist der Tod. Und so viel weh kann er den Menschen tun, die leben müssen. Wenn ich an das Thildele denk –« Der Pfarrer sprach nicht weiter. Er faßte Walters Hand, sah an ihm hinauf und flüsterte: »Herr Doktor? Hab ich recht gesehen, wenn ich glaub, daß Sie dem Thildele gut sind?«

»Ja, Hochwürden! Für Leben und Sterben!«

»Gott sei Lob und Dank! Jetzt kann ich heimgehen ohne Sorg.«

Frau Rosl kam mit ihrem Mann. »Gelten S', Hochwürden, der Bertl darf Ihnen heimführen?« Dabei nahm sie den Arm ihres Mannes, um ihn zu stützen. Der Sägmüller sprach kein Wort und ließ sich fortziehen. In der weißen Helle des Morgens, dessen mattblauer Himmel schon einen Schimmer der kommenden Sonne hatte, gingen die drei den Kiesweg hinunter, der mit zerschlagenen Fliederblättern bedeckt war. Beim Tor des Scheidhofes kam ihnen eine erregte Weibsperson entgegengelaufen. Walter meinte die Magd aus der Sägmühle zu erkennen. Warum aber fingen Bertl und Frau Rosl plötzlich zu laufen an? Warum ließen sie den hochwürdigen Herrn allein? Walter wollte schon zum Pfarrer hinunter. Da kam der Bonifaz um die Ecke geschossen: »He! Scheidhofer!«

»Nicht so laut! Es liegt ein Toter im Haus.«

»Jesus! Hat's ihn ummigrissen?« Der Knecht entblößte den Kopf. »Gott gib ihm die ewig Ruh! Is a Prachtmensch gwesen, der Herr Ehrenreich! Schad drum! Aber für an jeden kommt sein Stündl. Soll's uns lang gnug ausbleiben!« Er setzte den Hut wieder auf. »Der Wind hat 's ganze Stadeldach verschoben in der Nacht, und da weiß der Zimmermeister net, wie weit er sich mit der Arbeit einlassen därf. Kommen S' mit ummi, Herr!«

»Nein, Bonifaz! Machen Sie das, wie Sie wollen!«

»Himmelsakra!« fuhr es dem Knecht in Unmut heraus. Er wurde gleich wieder ruhig. »Da müssen S' Ihnen schon selber hinstellen auf d' Füß! Jetzt sind S' amal der Bauer, jetzt müssen S' Enk kümmern um Enker Sach! Sonst schauen Enk d' Leut am ersten Tag für an Lippl an – wann S' allweil mich fürischieben.« Er packte den Scheidhofer am Arm und zog ihn mit sich fort. »Wir müssen a neus Dach aufsetzen. Der Alte hat alls verschlampen lassen, derzeit er auf'n Verkauf denkt hat. Aber teurer als wie auf vierhundert Mark därfen S' Ihnen net einlassen. Der Zimmermeister is einer, der gern auffidruckt.«

»Danke, Bonifaz! Und dann rufen Sie mir die Leute vom Scheidhof zusammen! Ich möchte ihnen die Hand drücken als Herr.«

»Da is keiner daheim. In aller Fruh hab ich d' Leut aussigschickt, daß s' d' Weiherleiten umschlagen. Da kriegst a nobels Heu! 's Wetter halt auf a paar Tag. Heut in der Nacht hat's ausrebellt und gibt an Fried.«

Die Sache bei der Scheune drüben wurde flink erledigt. Ein neues Dach! Und fest! Der Zimmermann verlangte sechshundert Mark. »Vierhundert«, sagte Walter, »keinen Pfennig mehr!«

»Ah, der is gut!« Der Meister lachte. »Da tat ich ja draufzahlen.«

Ohne zu antworten, ging Walter an der Scheune entlang, um das verschobene, mit Brettern ausgepickte Schindeldach genauer zu betrachten.

»Du, da bist angrumpelt!« flüsterte Bonifaz dem Meister zu. »Mein Herr versteht sich auf d' Arbeit!«

»In Gotts Namen!« Der Zimmermann kratzte sich hinter den Ohren. »Muß ich's halt machen um vierhundert. Der Kundschaft z'lieb.«

»Ja, du, und nimm dich zamm mit der Arbeit!« zischelte Bonifaz. »Dös hat er mir schon gsagt, mein Herr: wann d' Arbeit net bummfest gmacht is, zahlt er net aus und laßt's auf an Prozeß ankommen. Der is von die Scharfen einer, weißt! Sonst kann er gut sein. Aber wann ebbes net in der Ordnung is, hat er den Tuifi. Bald er so auffahrt in der Wut, da tat ich mich net mucksen trauen. Ich tu mei' Pflicht und Schuldigkeit und komm gut aus mit ihm. Derkenntlich is er allweil, weißt!« Eine so lange Rede hatte Bonifazius Venantius Gwack in seinem Leben nicht oft gehalten.

Mit dem Hut vor der Brust ging der Zimmermeister auf Walter zu. Der Akkord wurde auf Handschlag abgeschlossen. »Vierhundert!« Und wo soll das Bauholz geschlagen werden? Im Weiherwald, meinte der Meister. Da hätte er's schön bequem gehabt. Walter schüttelte den Kopf. »Das ist gesunder Bestand, der noch im Trieb ist. Da wird mir kein Baum geschlagen. Man soll das Bauholz vom Hohen Schein holen, von der Schluchtleite. Dort sind die meisten Überständer. Geschlagen darf nur werden, was gipfeldürr ist, aber noch nicht kernfaul. Wenn die Hölzer liegen, komm ich hinaus und sehe mir jeden Baum drum an.«

Der Meister nickte zustimmend. »A bißl weit haben wir auffi. Aber ich merk schon, der Herr Scheidhofer laßt seim Wald nix anhaben. Müssen wir halt auffitappen zum Glutberg!« Er rief die Gesellen vom Dach herunter, um sich gleich auf den Weg zu machen.

»Herr, jetzt haben S' mir aber gfallen!« sagte Bonifaz ernst. »Besser hätt ich selber net anschaffen können. Auf'n Wald haben S' an Verstand.«

Walter sah zur Villa hinüber. »Bonifaz! Jetzt mußt du mich heimlassen!«

»In Gotts Namen! Ich kann mir ja denken, daß Sie 's Fräulen net gern allein lassen heut!« Bonifaz zog den Hut.

In Walter war's wie ein Gefühl des Vorwurfs, daß er für einige Minuten aller Trauer dieser Stunde hatte vergessen können. Dennoch empfand er dankbar den Ruhetrost, den ihm die kleine Sorge um seinen Besitz gegeben hatte. Und nach der durchwachten Nacht erquickte ihn die frische Luft. Er sah nicht die zerschlagenen Fliederbüsche, nicht den Wust von Reisern und Blättern auf allen Wegen. Nur den geklärten Himmel sah er, die Morgenglut der Berge, den blauen Duft, der Wälder umträumte, und den Strahlenglanz der Sonne, die durch die Waldschluchten des Hohen Scheins ihr Feuer schon hinflutete über lange Streifen des Tales.

Da stockte sein Schritt. Mit heißer Welle schoß ihm das Blut zum Herzen. Bei den Rosenbäumchen, die um den Brunnen waren, stand Mathild, noch immer in dem lichten Kleid, das sie in der Nacht getragen. Mit halbgelösten Strähnen hing ihr das schimmernde Blondhaar um das bleiche, steinerne Gesicht. Sie hatte alle Rosen geschnitten, die mit schönen Kelchen die Sturmnacht überdauert hatten; auf dem Rand des Brunnens, neben einem Strauß Levkojen und Reseden, lagen sie in einem großen Busch beisammen. Auch alle zerschlagenen Blüten hatte sie abgelöst; die waren in einem Körbchen, das auf dem Boden stand. Mit weißen Bastfäden band sie jetzt die knospenden Zweige auf, die der Sturmwind losgerissen hatte. An den meisten Bäumchen hatte sie das schon vollendet, nur wenige waren da noch, die auf Mathilds Hilfe warteten, zerzaust und zerschlagen, mit Tropfen behangen wie mit Tränen, die anderen standen mit kleinen, gerundeten Kronen, von den weißen Bastfäden durchzogen, alle Knospen gegen das Licht gewendet, wie sie im Frühling aussehen, nach der ersten zärtlichen Sorge des Gärtners.

Einen Baststreifen aus dem Fadenbündel ziehend, das sie um den Nacken hängen hatte, ging Mathild zu einem anderen Bäumchen. Walter trat zu ihr und fragte: »Darf ich helfen?« Sie schüttelte den Kopf, tat ihre Arbeit und schien ihn nicht mehr zu sehen. Er hatte nicht den Mut, zu sprechen. Eine Angst erwachte in ihm, die sein Herz umklammerte. Seit er Mathild in der Todesstunde des Vaters an seiner Brust gehalten, schien sie eine andere geworden. Sie hatte keinen Blick mehr auf ihn gerichtet, kein Wort zu ihm gesprochen, seinen Trost nicht gehört, seine Sorge nicht gesehen. Hatte ihn jener selige Augenblick getäuscht, in dem er ihre Liebe zu erkennen glaubte?

»Mathild?«

Von ihm abgewendet, stand sie vor dem letzten der Rosenbäumchen. Nur einen einzigen Zweig hatte sie noch aufzubinden, dessen knospenschwere Spitze gebrochen war. Sie löste das geknickte Reis vom Ast und schlang den weißen Faden um den Zweig.

»Mathild!«

Im Schweigen des schönen Morgens begann eine kleine Glocke zu tönen – die Glocke, die man läutet, wenn eins im Dorfe gestorben ist. Von Zittern befallen, preßte Mathild die Hände über das Gesicht. Dann trat sie zum Brunnen, raffte die Blumen an ihre Brust, und durch die Sonne, die schon herfiel über den freien Kiesplatz, ging sie zum Haus hinüber. Er stammelte ihren Namen und wollte folgen. Sie war schon im Flur verschwunden. Und als sie in die weiße Stube trat, schloß sie hinter sich die Tür und stieß den Riegel vor. Eine Weile stand sie wie in halber Ohnmacht an die Mauer gelehnt.

Tiefe Dämmerung war in der Stube. Das Walperl hatte die Läden geschlossen, die nur durch kleine herzförmige Ausschnitte ein bißchen Licht hereinließen. Auf den Tisch hatte das Mädel ein Kruzifix gestellt und hatte auf silbernen Leuchtern zwei geweihte Kerzen angezündet, deren Flackerlicht über die stillen wächsernen Züge des Toten zitterte.

Vor dem Bette niederbrechend, schüttete Mathild die Blumen über die Brust des Vaters, umschlang seinen Hals und grub das Gesicht in die Kissen. »Ich hab's getan, Papa! Alle waren aufgebunden, bevor die Sonne kam. Für wen sie blühen werden, das weiß ich nicht.« Strömendes Schluchzen zerdrückte ihre Stimme. Und während sie im Krampf ihres Schmerzes die Augen in die Kissen preßte, glitt von der Brust des Vaters ein Teil der Rosen und Levkojen zu ihr hin und legte sich um ihr Haar, das in der Kerzenhelle schimmerte.


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