Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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10

Beim Schein der Lampe lag Walter auf dem Sofa ausgestreckt, als das Walperl zur Tür hereingeschossen kam: »Fragen soll ich, ob S' net drunt mit der Herrschaft essen möchten?«

Walter richtete sich mühsam auf. »Weiß Gott, Walperl, ich ginge gern hinunter, aber ich kann mich kaum mehr rühren.«

»Da hast es! Aber 's Fräulen hat's eh gleich gsagt. Bleiben S' nur liegen, ich bring Ihnen 's Nachtmahl auffi.« Nach ein paar Minuten kam sie mit der Teeplatte und deckte den Tisch. Dabei tat sie einen brunnentiefen Seufzer.

»Ja, Walperl, ich hab mit ihm gesprochen.«

»Jesusmaria!« stotterte das Mädel, als stünde ihr das Jüngste Gericht bevor.

»Aus dem ist hart was herauszuholen.«

»Gelt, ja?«

»Aber ein bißchen was hat er mir doch gesagt.«

Dem Mädel glänzten die Augen. »Geh, was denn?«

»Daß Sie gesund sind und fest beisammen –«

»Beinand wird er gsagt haben?«

»Richtig, ja: fest beinand, rechtschaffen und fleißig, kuraschiert und lustig. Und daß einer, der zugreifen dürfte, mit Ihnen gut aufgerichtet wäre.«

Dem Mädel fuhr es heiß über das hübsche Gesicht. »Hat er gsagt? Warum greift er denn nacher net zu?«

»Weil –« Das brachte Walter nicht über sich: dem Mädel zu sagen, daß Bonifazius noch ein halb Dutzend sparsamer Jahre zu überklettern hätte, bevor er die Arme strecken dürfte. Er sagte nur: »Weil er auf die rechte Stunde wartet und sein Glück nicht pflücken will, bevor nicht die Kirschen reif geworden.«

Sinnend drehte Walperl das Gesicht zum Fenster. »Nnno, bis zur Kerschenzeit wär's nimmer gar so weit! Dös kunnt man derwarten.«

Walter lachte. »Wenn's auch ein bißchen länger dauert, der Bonifaz ist das Warten wert!«

Walperl nickte. »Gelt, ja?« Dann sah sie ihn dankbar an. »Vergeltsgott! Völlig aufgricht haben S' mich. Der Herr Pfarr im Beichtstuhl kunnt's net besser.« Sie ging und kam gleich wieder. »Da bring ich a Flaschl Franzbranntwein. Da müssen S' Ihnen einreiben. Dös hilft. Neulich hab ich mir beim Wäschmangen d' Muschkelatur überzogen. Da hat's mir gschwind gholfen.«

Walter richtete sich vorsichtig auf. »Ich danke Ihnen, Walperl.«

»Ihnen?« schmollte das Mädel. »Sagen S' doch du zu mir! Ich bin doch 's Madl im Haus. Und gut Freind sind wir doch auch mitanander, gelt?« In lachendem Wohlwollen nickte sie ihm zu und ging aus der Stube. Der Gewinn dieser neuen Freundschaft schien das Walperl in die rosigste Laune zu versetzen. Solang sie an diesem Abend in der Küche zu schaffen hatte, trällerte sie ein Liedl ums andre vor sich hin. Als sie aus der Stube das Klavier hörte, packte sie einen großmächtigen Blechzuber und lief zum Brunnen. Bonifaz ließ sich an diesem Abend nicht blicken. Nach einer ausgiebigen Geduldprobe huschte das Walperl in den finsteren Garten und griff an einem schwarzen Bäumchen herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte: ein Zweiglein mit drei Kirschen. In der Küche studierte sie diesen Barometer ihres Glückes. Die Kirschen machten es wie Walter und mahnten das Walperl zur Geduld. Es waren drei winzige, steinharte, grasgrüne Kügelchen. »Ui Jegerl!« seufzte das Mädel. Jetzt war's um den Anfang des Juli. So um die erste Augustwoche herum, da hat's im Scheidhof noch immer süße Kirschen gegeben. »Vier Wochen halt!« Mit diesem tröstenden Gedanken ging das Walperl zur Ruhe. Als sie am Morgen erwachte, guckte sie gleich zum Fenster hinaus, ob's auch ein Tag würde, der die Kirschen vorwärts brächte?

Je heißer an diesem Morgen die Sonne brannte, desto fröhlicher schaffte das Walperl. Dafür schien Mathild von einer Sorge befallen, die mit jeder Stunde wuchs. Gegen neun Uhr kam sie schon das drittemal in die Küche und fragte: »Hat der Herr Doktor noch immer nicht geklingelt?«

»Hab nix ghört. Der schlaft sich ordentlich aus, auf die gestrige Plag auffi.«

Als die Elfuhrglocke läutete, kam Mathild und sagte: »Walperl, ich fürchte, dem Herrn Doktor fehlt was.«

»Schauen wir halt!« Das Walperl sprang hinauf. Als sie droben die Tür der Wohnstube öffnete, bekam sie gleich einen Schreck. Es quoll ihr ein penetranter Alkoholgeruch entgegen. »Mar' und Josef!« Sie pochte an die Schlafzimmertür: »He! Herr Dokter? Was is denn?« Von drinnen hörte sie einen matten Laut. »Herr Dokter! Jesses!« Hastig steckte sie den Kopf zur Tür hinein. Da sah sie Glasscherben auf dem Boden liegen, und der Franzbranntwein, der zu einer Lache ausgeronnen war, erfüllte den ganzen Raum mit seinem schweren Dunst. Das erste war, daß Walperl alle Fenster aufriß. Dann trocknete sie mit der Schürze den Branntwein auf und klaubte die Scherben der Flasche zusammen. »Um Gotts willen! Herr Dokter? Was haben S' denn gmacht?«

Er lag im Bett und sah das Mädel verlegen und hilflos an. »Ich hab mich einreihen wollen. Da ist mir die Flasche ausgerutscht.«

»Warum haben S' denn nacher 's Glöckl net zogen?«

»Ich konnte nicht aufstehen. Wenn ich mich nur ein bißchen bewege, bekomme ich abscheuliche Schmerzen.«

»So is's schön!« stotterte Walperl erschrocken. »Warten S', da muß ich 's Fräulein fragen.« Sie rannte davon und kam mit einer Glasbüchse wieder in die Stube gesurrt. »'s Fräulen laßt Ihnen sagen, daß S' Ihnen deswegen net aufregen brauchen. Dös sind halt d' Arbeitsschmerzen, hat s' gsagt. Bis morgen gibt sich schon wieder alles. Aber Franzbranntwein haben wir kein' mehr. Drum hat mir 's Fräulen 's Opedeldokbüchsl mitgeben. Da tun S' Ihnen nur gleich einreiben!«

»Einreiben? Ich kann mich ja kaum bewegen.«

»Was machen wir denn da?« Das Walperl studierte. »Müssen S' Ihnen halt von mir einschmirben lassen.«

Er wurde dunkelrot über das ganze Gesicht. »Aber Walperl!«

»Machen S' keine Gschichten! Was sein muß, dös muß sein! Ich denk mir nix dabei. Denken S' Ihnen halt auch nix!« Kurz entschlossen knöpfte sie dem Patienten an der Brust das Hemd auf. Er machte noch einen Versuch, sich zu wehren, und ließ mit leisem Schmerzenslaut die Arme fallen. »No also!« Das Mädel lachte. »Ihr Wehdam is gscheiter als wie der ganze Philosoph!« Dabei schälte sie ihm das Hemd bis zur Hüfte hinunter. »Ah, da schau!« sagte sie mit schmunzelndem Wohlgefallen, fuhr mit dem Finger in die Opodeldokbüchse und rieb, was sie gefaßt hatte, auf den flachen Händen auseinander. »Her mit'm Arm!« Sie begann zu »schmirben«, so nachdrücklich, daß Walter, obwohl er die Zähne übereinanderbiß, die Kur nicht schweigsam übertauchen konnte. »Nur aushalten!« tröstete das Walperl. »Wie weher als 's tut, um so gschwinder hilft's!« Nach dem rechten Arm kam der linke an die Reihe, dann der Nacken und der Rücken. Das Walperl verband mit dem »Schmirben« eine so energische Massage, daß ihr selbst dabei ganz heiß wurde. »So! Jetzt eins von die Haxln her!«

Mit umständlicher Vorsicht streckte Walter das halbe Bein unter der Decke heraus. Walperl begann die Kur beim Knöchel und massierte kräftig weiter. Plötzlich zuckte Walter das Bein unter die Decke zurück. »Ich danke! Genug!«

Erschrocken fragte sie: »Hab ich's a bißl grob gmacht?«

»Nein. Aber ich danke. Mir ist schon besser.«

»No ja, wann S' meinen –«

Schweigend drehte sich Walter gegen die Wand und zog die Decke bis auf Kinn.

Als das Walperl hinunterkam, stand Mathild wartend bei der Treppe. »Wie geht es dem Herrn Doktor?«

»Passen S' auf, der Opedeldok hilft! Fest hab ich gschmirbt!«

». . . Du?«

»No freilich! Selber hat er sich kaum rühren können. Und ich sag Ihnen, Fräulen, wann er so bucklet dahermarschiert, möcht man gar net glauben, was für a sauberer Mensch dös is. Gwachsen is er wie a Zwiefelröhrl. Und so viel weißhäutlet is er. Wann er mit Federln gspickt war, tät er ausschauen wie der heilige Sebastian in der Kirch. Der is gradso schön weiß.«

»Du dummes Mädel, du!« sagte Mathild in brennendem Ärger, ließ das Walperl stehen und ging in die Stube.

Der Opodeldok wirkte ein Wunder. Schon am Nachmittag konnte Walter aufstehen. Je länger er durch die Stube wanderte, desto leichter wurde sein Schritt. Dann setzte er sich mit dem Werther ans offene Fenster. Er las nicht lang. Es trieb ihn hinaus in den schönen Abend. In der Veranda gab's einen kleinen Aufenthalt. Da saß der Forstmeister, und Mathild bei ihm, die dem Vater aus einem Buche vorlas. Der lachende Empfang, den der alte Herr seinem »auferstandenen Hauskameraden« bereitete, ließ Mathild Zeit, die Verwirrung zu überwinden, von der sie beim unerwarteten Anblick des Patienten befallen wurde. Walter wollte sich zu den beiden an den Tisch setzen. Der Forstmeister sagte: »Jetzt müssen Sie Bewegung machen! Das ist der richtige Schluß der Kur: ein paar Stunden stramm laufen. Dann haben Sie's morgen los!« Diesen Rat befolgte Walter, doch als er Mathild die Hand reichte, war es ihm anzumerken, daß er lieber geblieben wäre. Sie hatte kein Wort gesprochen, solange Walter in der Veranda war, hatte auch schweigsam seine Hand genommen und schien aufzuatmen, als er ging. Verwundert sah der Vater sie an. Sie nahm das Buch und begann mit ruhiger Stimme weiterzulesen.

Walter, der zwischen den Fliederbüschen hin und her marschierte, machte Armbewegungen und trank in tiefen Zügen die frische Luft. Doch so schön, wie ihm seine Sehnsucht in der Stube droben den Abend gezeigt hatte, war's heute nicht. Etwas schwül Verschleiertes hing über der Landschaft, der Hohe Schein war von bläulichem Dunst umwoben, und im Westen stieg eine Wolkenwand herauf, deren Säume wie Feuer brannten.

Nach einem Rundgang durch die Wiesen und Felder kam Walter bei Anbruch der Dämmerung zur Scheune des Scheidhofes, gerade als Bonifaz mit einer Sense heraustrat. »Guten Abend, Herr Dokter! Was macht 's Buckerl?«

Walter lachte. »Es geht schon wieder. Das brave Walperl hat mich so energisch ›eingeschmirbt‹, daß die Kur Wunder gewirkt hat.«

»Die hat feste Arm, ja!« nickte Bonifaz. »Wann die ebbes angreift, gibt's aus!«

Nachdenklich betrachtete Walter den Knecht. Dann fragte er: »Gehen Sie noch mähen?«

»Für d' Heimküh muß ich a paar Schober Gras umschlagen.« Bonifaz schmunzelte. »Dös war a Gschäftl für Ihnen. Was meinen S'?«

Walter preßte die Faust in den Rücken. »Wenn ich nur könnte!«

»Probieren S' es! Gift muß man mit Gift vertreiben.« Lachend wetzte der Knecht die Klinge.

»Ich probier's!« sagte Walter entschlossen und griff nach der Sense.

Während der Knecht hinüberging zu den Ställen, fing Walter mit vorsichtigem Schwung zu mähen an. Gleich beim ersten Hieb zuckte ihm in allen Muskeln der Schmerz wieder auf. Er mußte die Zähne übereinanderbeißen wie am Morgen, als das Walperl mit dem Opodeldok über ihn gekommen war. Die Kur der Sense wirkte nicht minder heilsam, dazu entschieden ruhiger auf sein Blut. Heiß wurde ihm auch jetzt. Aber dieses langsame Ausbrennen seines Körpers war kein Feuer in Qual, sondern ein Erglühen in Behagen. Immer leichter ging ihm der Sensenschwung aus Armen und Hüften, jede letzte Spur von Starrheit erlosch in seinem Körper. Jede Bewegung wurde für ihn was Frohes und Selbstverständliches, alle Plage der Arbeit war ihm verwandelt zu Freude an seiner Kraft. Er hörte nicht, wie sie im Dorf den Abendsegen läuteten, sah nicht, daß der Himmel sich dunkel überzog. Halblaut eine Weise summend, machte er Schritt um Schritt mit der schwingenden Sense, und rauschend fielen vor seinem Hieb die Gräser. »He! Jesusmaria!« schrie Bonifaz, als er mit dem Handkarren von der Scheune kam. »Mensch! Sö schlagen mir ja den ganzen Garten um!«

Lachend ließ Walter die Sense rasten. »Jetzt hab ich's heraus: wie das schmeckt, wenn einem die Arbeit zur Freude wird!«

»Da haben S' ebbes derpackt fürs Leben!«

Aufatmend hob Walter ein Grasbüschel vom Boden und wischte die Sense ab. Dann legte er dem Knecht die Hand auf die Schulter und sagte: »Bonifaz! Wir beide, hoff' ich, schlagen noch manche Wiese miteinander um!« Er ging zur Villa hinüber, deren Fenster schon erleuchtet waren, und sprang die Treppe hinauf, um sich zu waschen und umzukleiden. Das Walperl guckte aus der Küche heraus. »Herr Jegerl! Wie der schon wieder hupft! Ja, der Opedeldok halt!« Als sie eine Viertelstunde später das Nachtmahl für ihre Herrschaft in die Stube trug, kam Walter hinter ihr zur Tür herein. »So allein da droben, das halt ich nicht aus. Wenn Sie mir's erlauben, trink ich meinen Tee bei Ihnen.« Das wurde ein heiterer Abend. Bis in die Küche hinaus konnte das Walperl den Philosophen lachen hören. Auch das Klavier hörte sie, packte gleich den Eimer und lief zum Brunnen. Gemütlich war's da nicht. Die Nacht stockfinster, nur manchmal durch ein Wetterleuchten erhellt. Ein scharfer Wind fuhr über die Baumkronen, so daß man bei ihrem Rauschen das Chopinsche Nokturno, das Mathild spielte, nur verschwommen aus der Stube hörte.

Noch ehe der Eimer vollgelaufen war, kam richtig das Glühwürmchen angerückt. »Jesses, du!« Wie üblich spielte Walperl die Verwunderte. »Was tust denn da?«

»No, auf d' Musi möcht ich halt a bißl lusen.«

»So?«

»Ja.«

Sie schwiegen und lauschten, bis das Walperl sagte: »Schön spielt s' heut wieder. Aber so viel traurig.«

»Dös mag ich gern. Bei die Leut hab ich's am liebsten, wann s' lustig sind. D' Musi gfallt mir am besten, wann's traurig tut! Da kann man sich ebbes denken.«

»Was denn?«

»Allerhand.«

Das Walperl fuhr mit dem Näschen in die Luft. »Jetzt hab ich an Tropfen gspürt. Heut wird's noch ghörig schütten.« Sie lachte. »Da kriegen die Kerschen an Saft.«

»Die Kerschen? Wie kommst denn da drauf?«

»No, so halt!« stotterte Walperl. »Weil der Herr Dokter heut so gredt hat davon. Ob s' net bald reif sein kunnten?«

»Da hat's noch lang hin!« Bonifaz blies in die Pfeife, daß die Leuchtkäfer flogen.

»'s Jahr is gut!« meinte Walperl optimistisch. »Da kann's gschwind gehn mit der süßen Frucht.« In der Stube war das Klavier verstummt, und trotz des Sturmes, der mit Rauschen anwuchs, hörte man den Philosophen lachen. »Jetzt kann er wieder lustig sein!« sagte das Mädel. »Aber heut in der Fruh is er daglegen wie 's Leiden Christi. Ja. Nobel hat ihn der Opedeldok aussigrissen.«

»Vom Opedeldok hat er mir nix gsagt. Aber von dir. Ghörig mußt druckt haben.«

»Ja. Fest hab ich gschmirbt.« Mit Humor erzählte das Mädel die Geschichte der Kur. Auch das Gleichnis mit dem heiligen Sebastian wiederholte sie. »A bildsaubers Mannsbild is er.«

»Da kann 's Fräulen amal ihr Freud dran haben.«

Es war so finster, daß Bonifaz nicht sehen konnte, wie groß das Walperl die Augen aufriß: »Warum denn 's Fräulen?«

»No, die zwei haben anand doch gern.«

»Mar' und Josef!«

»Aber sei fein gscheit und red nix drein! D' Lieb muß wachsen wie a Blüml, dös keiner anrührt.«

»Jesses, jesses, jesses!« Weiter kam das Walperl nicht. In Strömen begann der Regen zu fallen, und ein Blitzstrahl überleuchtete Tal und Berge mit bläulicher Helle.

»Sakra! Jetzt heißt's aber tummeln!« meinte Bonifaz und sprang zum Scheidhof hinüber. »Gut Nacht, Madl!«

»Gut Nacht, Bub!« Hurtig stülpte Walperl den vollen Eimer um – sie hatte das laufende Wasser im Haus – und huschte zur Veranda.

Die ganze Nacht währte das Strömen und Gießen, das Flammen und Grollen. Erst als der Tag zu grauen anfing, wurde es still in den Lüften. Es kam ein Morgen, schön in seiner Kühle, mit erfrischten Farben, im Gefunkel der hängenden Tropfen.

Beim Geläut einer Glocke verließ das Walperl in ihrem bescheidenen Sonntagsstaat die Villa. Aufmerksam guckte sie nach den Kirschen. »Jetzt schießt ihnen der Saft ein!« Flink eilte sie ins Dorf, um noch rechtzeitig zur Frühmesse zu kommen. Da hätte sie sich Zeit lassen dürfen. Als sie die Kirche betrat, saß der Kaplan noch im Beichtstuhl. Ein halb Dutzend frommer Weiblein stand auf der Paß, um das Gewissen erleichtert zu bekommen. Das letzte Beichtkind in der wartenden Reihe weckte die Neugier aller Kirchgänger. Es war eine Dame, die ein weißes Kleid trug und den Kopf mit einem schwarzen Spitzentuch umwickelt hatte. Als sie in den Beichtstuhl trat, machte der Kaplan eine Bewegung, bei der ihm das Beichttuch über das Gesicht herunterglitt. Kaum hatte er sich wieder verhüllt, als die Dame plötzlich aus dem Beichtstuhl zurücktrat und die Kirche verließ. Der Kaplan erhob sich, das Gesicht so weiß wie das Chorhemd, das er trug. Er warf einen ratlosen Blick zur Kirchentür und ging in die Sakristei.

Nach der Messe hatte das Walperl Besorgungen zu erledigen; bis sie fertig wurde, riefen schon die Glocken zum Hochamt. Unter der milden Sonne strömten die feiertäglich gekleideten Leute der Kirche zu, während das Walperl mit dem Henkelkorb zum Scheidhof wanderte. Dabei guckte sie immer voraus, als sollte was Besonderes die Straße daherkommen. Bonifazius Venantius kam auch. In einem hechtgrauen Lodenanzug, mit grünen Tuchstreifen auf der Hose, mit Hirschhornknöpfen an der Joppe, ein rotes Seidentüchl um den Hemdkragen, auf dem Hut zwei weiße Adlerflaumen und ein Nelkensträußl. Sein Arbeitsgewand kleidete ihn besser. In der steifen Feiertagsherrlichkeit sah er aus wie eine Holzfigur, die man bemalte, bevor sie noch fertig geschnitzt war. Aber dem Walperl gefiel er so gut, daß ihr vor Stolz das Blut ins Gesicht fuhr. Doch in dieser Freude bitterte ein Wermutstropfen. Neben dem Bonifaz ging im schillernden Seidenstaat die Schrottenbacher-Vev mit den feinen Zeugstiefelchen. »Hat s' ihm schon wieder abpaßt!« murrte das Walperl. Als sie am Bonifaz vorüberging, sagte sie spitzig: »So? Hast dir an Unterhaltung aufzwickt?«

Bonifaz schmunzelte. »Wie man's halt findt auf der Straß.«

Dieses sonderbare Kompliment überhörend, guckte die Vev dem Walperl nach und sagte spöttisch: »Die kunnt sich auch besser gwanden für d' Feiertäg!«

»Die spart.« Auch Bonifaz guckte sich um. »Ganz gut schaut s' aus! Auf 's Materali kommt's net an.«

Das Walperl hörte nichts von dieser Unterhaltung. Auf der Straße sah sie ihre Herrschaft kommen: den Forstmeister im Rollsessel, den das Fräulein schob. Mathild trug ein hellblaues Kleid mit breitem Leinenkragen, über den blonden Flechten einen blauen Matrosenhut mit weißem Band. So schlank und fein war sie anzusehen, in ihrer Einfachheit so lieblich und reizvoll, als hätte der Schöpfer dieses sonnigen Morgens sie als besonderen Schmuck in den schönen Feiertag gestellt. Ihre Wangen blühten, ihre Augen glänzten, nicht so ruhig wie sonst, doch wärmer und tiefer. Auch in ihrer Stimme war ein leiser Klang von Erregung, während sie mit dem Walperl die häuslichen Dinge des Tages beredete. Das Mädel guckte immer an ihr hinauf, mit merkwürdig studierendem Blick. »So viel gfallen tut mir 's Fräulen heut!«

»Ja Geiß!« Der alte Herr blickte lächelnd auf. »Heut hast du die richtigen Festtagsaugen.« Er hob den Kopf: »Da vorne seh ich den Sonnweber. Vielleicht können wir ihn noch einholen? Warum nur der die ganzen Tage her nimmer bei uns war?« Ein Schatten ging über die Sonntagsfreude in Mathilds Augen, während sie den Sessel in Bewegung brachte.

»Gspaßig!« dachte das Walperl. »Daß s' gar nix gredt hat vom Herrn Dokter? Ich red allweil vom Bonifaz.« Daheim fand sie die für Walter bestimmte Frühstücksplatte hübsch gerichtet, und auf dem Herd kochte schon das Wasser für den Tee. Ein paar Minuten später hörte sie die Klingel, und als sie die Platte hinaufbrachte, saß Walter hemdärmelig auf dem Gesims des offenen Fensters in der Sonne. Das Mädel sah ihn mit großen Augen an. »Was dös für a Sonntag heut sein muß! Mit Ihnen muß er auch ebbes angstellt haben. Völlig anders schauen S' aus, gar nimmer wie a Philosoph.«

Er lachte. »Wie schaut ein Philosoph denn aus?«

»No, so halt, wie S' daherkommen sind beim Loschiesuchen, so bucklet und traamhappet, als ob er net bis auf fünfe zählen kunnt. Und blast man, so fallt er um. Jetzt schauen S' aus wie einer, den 's Leben freut.«

»Ja, Mädel!« Er preßte die Fäuste auf seine Brust. »Mich freut das Leben.«

»Da müssen S' es auch genießen! 's Beste vom Sonntag haben S' heut schon versäumt.«

»Das Beste?«

»Ja«, sagte sie ernst, »die Kirch haben S' verschlafen.«

»Herrje!« Er schlug mit drolligem Entsetzen die Hände zusammen. »Da muß ich schauen, daß ich zu meinem Gebetbuch komme.« Er holte vom Schreibtisch ein Buch und legte es neben die Tasse, die ihm das Walperl gefüllt hatte.

Das Mädel machte schiefe Augen. »A schöns Betbuch! Dös is ja eins vom Fräulen ihre Göthianerbüchln.«

»Glaubst du denn, daß da was Unrechtes drin steht?«

»Was unser Fräulen hat, is allweil ebbes Guts. Aber ich hab amal in so a Göthianerbüchl einiguckt. Da is a verliebts Liedl dringstanden:

Gibt's eine, die so an lieben Mund
Und so runde Backeln hat?
Und nacher is noch ebbes rund,
Da sieht man sich net satt!

No ja«, das Walperl schmunzelte, »so was darf eim ja gfallen, sonst hätt's unser Herrgott net gmacht. Aber beim Beten sollt man doch an ebbes anders denken!« Weil er so herzlich lachte, wurde sie ein bißchen verlegen. »Ja, lachen S' nur! Unser Herrgott hat Ihnen eh schon gstraft. Weil S' die Kirch verschlafen haben, drum haben S' unser Fräulen heut noch net gsehen. Da därf Ihnen leid drum sein! Wie 's Fräulen heut ausgschaut hat!« Da fiel ihr die Warnung des Bonifaz ein. »Lassen wir's gut sein! Blümln, wann s' wachsen, soll man net anrühren.« Sie ging zur Tür. »Am nächsten Sonntag verschlafen S' die Kirch net, gelt!« Mit dem Bewußtsein, ein gutes und christliches Wort gesprochen zu haben, verließ sie die Stube.

Es dauerte nicht lang, und Walter kam über die Treppe heruntergesprungen, in hellem Sommeranzug, das Hütl schief über dem Braunhaar. Sein »Göthianerbüchl« unter dem Arm, sauste er durch die Veranda. In seiner Art, sich zu bewegen, war etwas, als hätte er's verlernt, einen ruhigen Schritt zu machen. Auf der Höhe des Hügels, nicht weit vom Haus des Scheidhofers, fand er einen Platz, der ihm gefiel. Im Schatten der Ulmen stand eine Bank mit einem Tisch davor. So steif zu sitzen, das paßte ihm nicht. Hinter den Bäumen, wo die Sonne schon den Nachtregen vom Gras getrocknet hatte, warf er sich auf den Boden, umzittert von den Strahlen, die durch das Gezweig der Ulmen spielten. Im Schatten glitzerten noch die Wassertropfen, und an vielen Blumen war im Kelch noch ein Gefunkel, als läge zwischen den bunten Blättchen ein Diamant verborgen.

Als Walter das Buch aufschlug, faßte ihn gleich die erste Strophe der »Zueignung« im innersten Herzen. Wieder solch ein Klang, wie eigens für ihn gesungen:

»Der Morgen kam, es scheuchten seine Tritte
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.«

Im Dorf wurde zur Wandlung geläutet. Walter hörte nicht. Er las und las. Dann mußte er auflachen. Er hatte das »verliebte Liedl« gefunden. Freilich lautete die Strophe, die das Walperl zitiert hatte, im Buch ein bißchen anders.

»Das schwarze Schelmenaug dadrein,
Die schwarze Braue drauf.
Seh ich ein einzigmal hinein,
Die Seele geht mir auf.
Ist eine, die so lieben Mund,
Liebrunde Wänglein hat?
Ach, und es ist noch etwas rund,
Da sieht kein Aug sich satt!«

Er lächelte. »Schwarze Augen?« Nachdenklich begann er das Liedchen wieder von vorne zu lesen. Die dürstende Sehnsucht, die da stammelt und mit Verlangen die Arme streckt, floß ihm auf dem Klang der glühenden Verse ins eigene Blut. Mit brennenden Wangen las er Lied um Lied. Immer wieder der gleiche Schrei der Sehnsucht, der stammelnde Jubel des Gewinnes! Während er las, stand immer eine Gestalt vor seinem Blick, eine herrliche Mädchengestalt, neben ihr die lustige Kellnerin, der es auf ein paar Todsünden nicht ankäme, wenn sie ein Mannsbild wäre. Walter hielt im Lesen inne und schloß die Lider, als möchte er dieses Bild von sich abwehren, sich dem Blick dieser dunklen Augen entziehen.

Dann griff er wieder nach dem Buch. Das sprach zu ihm wie mit dem Lächeln eines Rätsels:

»Sieh, das Gute liegt so nah,
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da!«

Betroffen sah er diese Zeilen an. Aber das war nicht die Stunde, in der er das Rätsel seines Glückes hätte lösen können. Bei allem Sturm seines Blutes schoß ihm jenes Wort aus dem »Werther« durch den Sinn: »Der natürlichste Trieb der Menschheit ist das Zugreifen!« Und in seinen Ohren klang das Liedchen, das die Knechte gesungen:

»Wann dir ebbs gfallen tut,
Schleun di und sag's!
Wann dir ebbs haben möchst,
Greif dir's und pack's!«

Wie ihm das gefallen hatte! Im kühlen Grau jenes Morgens, der ihn zu einem Tag der Arbeit führte! Dieser frohe, schaffende Tag! Bei dieser Erinnerung war ihm zumut, als hätte sich eine beruhigende Hand auf den Aufruhr seiner Sinne gelegt. Und da las er:

»Ich weiß, daß mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen.
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus läßt genießen.«

War das nicht die gleiche Lehre, wie jenes kecke Volkslied sie predigte? Nur reiner und schöner? Das offene Buch auf den Knien, blickte er über die Wiese hinaus, auf der sich die Blumen mit ihren funkelnden Tropfen in der Sonne wiegten. Als er weiterlas, waren seine Gedanken nur halb bei dem Buche. Da sprang ihm ein Zauberwort ins Herz: »Trinke Mut des reinen Lebens!«

Dieses Lied vom »Schatzgräber«? War das nicht wie ein Lied seines eigenen Schicksals? Krank am Herzen, hatte er seine zwecklosen Tage freudlos hingeschleppt, alle Kreise des Wissens gezogen, Höhen und Tiefen beschworen und in dunklen Gründen nach den unfindbaren Schätzen der Ruhe gewühlt. Und da war das Leben vor ihn hingetreten und hatte seinem Durst die Schale gereicht! Er hatte Vergessenheit geschlürft, Freude gekostet und Kraft getrunken. Was zögerte er noch, aus dem Gewinn dieser Tage den Reichtum seiner Jahre zu formen? Was hinderte ihn, den »neuen Weg« zu gehen, der ihn aus kalter Tiefe emporführen würde zu allem frohen, hohen Schein des Lebens? Gab es für ihn, der frierend in Finsternissen gewühlt hatte, ohne zu finden, eine bessere Lehre als die Predigt dieser sonnigen Tage und die Mahnung dieses Liedes:

»Trinke Mut des reinen Lebens!
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
Nicht zurück an diesen Ort.
Grabe hier nicht mehr vergebens!
›Tages Arbeit! Abends Gäste!
Saure Wochen! Frohe Feste!‹
Sei dein künftig Zauberwort!«

Er schloß das Buch. Da war auch in der Kirche das Hochamt vorüber, und die Glocke läutete zum Segen. Mit träumendem Lächeln saß er noch, als er ganz in der Nähe eine drängende Stimme hörte: »Vorwärts! Plag dich halt a bißl! Sonst derleben wir's nimmer, daß wir zum Bankl kommen.« Und der Scheidhofer, den die Magd vom Haus herüberführte, wimmerte: »Jesus! Tu mich net so hart angreifen! Langsam, Madl! Wie Glasscherben hab ich's unter die Füß!« Das kostete Mühe, bis die Magd den Kranken zur Bank brachte. Dann rannte sie ins Haus zurück, und der Einsame saß in sich versunken, die Hände in die Ärmel der Pelzjacke eingewühlt wie in einen Muff.

Walter blickte durch eine Lücke der Bäume in dieses gelbe, zerfallene Gesicht. »Tod! Wie du das Leben predigst! Elend! Wie lehrst du die Freude schätzen!« Aufatmend sah er in den Glanz des Morgens. Dann sprang er auf und ging zur Bank hinüber.

Der Scheidhofer, als er den Schritt vernahm, zuckte zusammen. Nun schien er wieder beruhigt. Greinend fragte er: »Was wollen S' denn?«

»Ich möchte mich bei Ihnen für eine Freude bedanken.«

»Weiß nix! Hab keim Menschen a Freud gmacht. Lassen S' mich in Ruh!«

»Dann muß ich es Ihnen gegen Ihren Willen sagen, daß ich Ihnen für einen Tag Arbeit zu danken habe, den ich auf Ihrer Wiese beim Weiher mitmachen durfte. Dieser Tag hat mir Freude, Gesundheit und Kraft gegeben.«

Der Scheidhofer machte ein verdrießliches Gesicht. »Ah so? Ja, der Faz hat mir verzählt. Und gut, sagt er, is 's Heu worden.« Er seufzte. »Was hab ich davon? Die Küh haben ihr Freud, wann 's Heu gut is. Aber ich? D' Milli vertrag ich nimmer. Was hab ich davon?«

Schweigend betrachtete Walter den Kranken. Dann legte er Hut und Buch auf den Tisch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»'s Bankl is breit. Hocken S' Ihnen her!«

Walter ließ sich nieder. »Was für ein schöner Tag das ist!«

»Was hab ich davon?«

»Daß Sie die Wärme fühlen, die von der Sonne kommt.«

»Freilich, ja! D' Sunn macht warm. Und d' Sunn laßt unser Herrgott scheinen, sagt der Kaplan. Von der Höll weiß er's noch besser. Da kennt er sich aus!« Leis kicherte der Kranke und schob die dürren Hände in die Sonnenlichter, die auf der Tischplatte flimmerten. »Ja, ja! 's Warmhaben is allweil noch ebbes für die letzten Tag, wann 's Frieren anhebt. Amal, da hab ich a Dackerl ghabt, Flora hat s' gheißen. Junge hat s' kriegt, in zehn Jahr an die fufzg. Und alle hat s' überlebt. Halb blind is s' worden, räudig und lahm. Aber 's Warmhaben hat ihr allweil noch gschmeckt. Allweil is s' in der Sunn glegen. Muß ich's halt auch so machen. Ja! So viel gütig is unser Herrgott, weil er ein' allweil noch ebbes gnießen laßt.«

Die Dienstleute des Scheidhofes kehrten vom Kirchgang zurück, eins ums andere kam zur Bank, wünschte dem Scheidhofer guten Morgen und fragte, wie es ihm ginge.

»Wie's halt gehn muß!« Das war seine Antwort. Und als ihn Walter nach seinem Leiden fragte, erwiderte er: »Der Dokter hat allweil an anders Wörtl und allbot an anders Flaschl. Spüren tu ich allweil 's gleiche. Schön langsam auffressen tut's mich halt.«

Da kam der Bonifaz in seinem steifen Sonntagsstaat, mit dem roten Nelkensträußl auf dem Hut. Er schwatzte freundlich mit Walter und grüßte den Bauer, ohne zu fragen, wie es ihm ginge. Die Krankheit des Scheidhofers schien für den Bonifaz eine Sache zu sein, über die kein Wort mehr zu verlieren war. Und die Augen, mit denen der Kranke an dem Knecht hinaufblinzelte, hatten keinen wohlwollenden Blick. Walter dachte: »Der fühlt die Grausamkeit der Natur, die seinem erlöschenden Leben diesen kraftstrotzenden Menschen gegenüber stellt.« Während Bonifaz die Arbeit der kommenden Woche besprach, nickte der Bauer immer – dann murmelte er spöttisch: »Gut machst alles! Der sich hinter meiner einisetzt in' Scheidhof, kann sei' Freud dran haben. Bei dem verdienst dir a nobles Trinkgeld!«

»Ich bin gut zahlt und tu mei' Schuldigkeit!« sagte Bonifaz kurz, beinah grob. »An dös, was nachkommt, denk i net.« Er lüftete den Hut und ging davon.

»Scheidhofer?« fragte Walter erregt. »Warum kränken Sie diesen braven Menschen, statt ihm zu danken für seine tüchtige Arbeit? Was haben Sie gegen den Bonifaz?«

»Ich? Ah na! Mit dem bin ich zfrieden. Wie länger als er da is, allweil mehrer wird der Scheidhof wert. Acht Tausend tragt er im Jahr! Ehnder amal, wie meine Leut noch glebt haben, is alles aufgangen, bei Butz und Stingel. D' Freud auf der Welt, die kostet ebbes. Aber jetzt –« Die Augen des Kranken begannen wie in Zorn zu funkeln. »Jetzt kann ich sparen. 's Elend is billig. Viel hab ich mir derspart. An ganzen Haufen!« Er lachte. »Die Kirch, die der Scheidhofer baut amal, wird allweil schöner. Kommt einer, der mir gibt, was ich verlang, so wird verkauft auf der Stell. Alls muß ich beinand haben! Ehnder mach ich d' Augen net zu. Alls muß ich haben! Und nacher wird baut.« Er lachte wieder. »Sakra! Gibt dös an Endstrumm Turm! Und Glocken! Und silberne Leuchter! Und scheckete Fenster!«

»Sie wollen den Scheidhof verkaufen? Um Ihr Vermögen für den Bau einer Kirche zu stiften?«

»Meint der Kaplan. Ja!« Mit zwinkernden Augen hob der Kranke das Gesicht. Ein Zug von spöttischer Verschlagenheit umspielte seinen welken Mund. »Die Sach hat noch a Hakerl. Hab ich die Kirch da baut, so fahrt mei' sündhafte Seel in Himmel auffi, sagt der Kaplan. Aber ich bin a gsellschäftlicher Mensch.« Der Scheidhofer blinzelte ins Blau hinauf. »Z'erst möcht ich wissen, was ich da droben für Kameradschaft sind. Mein Weib is im Fieber gstorben. Wer weiß, ob der letzte Segen noch gholfen hat? 's Madl, freilich, die kunnt droben sein! Die hat noch die letzte Ölung kriegt, wie ihr 's Nattergift schon brennt hat im jungen Blut. Aber mein Toni hat beim Fensterln 's Gnack brochen, wie er aussigstiegen is aus der süßen Freud. Den müßt der Tuifi gholt haben, wann's wahr is, daß uns der Herrgott alle Süßigkeit als Todsünd rechnet. Und mein Hans und mein Seppl sind bei Orleans gfallen. Fürs Vaterland, heißt's allweil. Ja, ja, 's Vaterland wird schon ebbes ghabt haben davon. Aber wann ich auffikomm in Himmel und frag unsern Herrgott: Mensch, wo sind denn meine Buben? Und der Herrgott sagt mir: Mensch, da mußt a bißl tiefer anfragen! Was hab ich denn nacher von der Kirch und von der Seligkeit?« Der Kranke griff mit zitternden Händen ins Leere. »Ich will ebbes haben davon.« Zwischen den Fliederbüschen hörte man einen Schritt. Der Scheidhofer fuhr zusammen und murmelte mit galligem Zorn: »Hat ihn der Tuifi schon wieder da! Unser Herrgott hat Ruh geben am Sonntag. Der muß am Sonntag auch noch wuhlen.« Als Walter den Kaplan gewahrte, wollte er sich erheben; doch der Scheidhofer faßte ihn am Rock und bettelte: »Tun S' mir den Gfallen und bleiben S'! Is einer da, so hab ich mein' Fried.«

Wo der Kiesweg aus den Fliederbüschen heraustrat, blieb Innerebner stehen, als besänne er sich, ob er nicht umkehren solle. Dann kam er mit raschen Schritten zur Bank.

»Grüß dich Gott, Michael!« sagte Walter.

Verwundert guckte der Bauer. Da legte ihm der Kaplan die Hand auf die Schulter. »Scheidhofer! Schicken Sie diesen Menschen fort! Gift für Eure Seele ist jedes Wort, das Euch dieser Leugner sagt.«

»Ich? Ein Leugner?« Ruhig sah Walter zu dem zornbrennenden Gesicht des jungen Priesters auf. »Nein, Michael!«

Ohne zu antworten, faßte Innerebner den Arm des Kranken. »Kommen Sie, Scheidhofer!«

»Laß den kranken Mann doch in der Sonne sitzen! In seiner Stube ist es einsam und kalt.«

Verdutzt hatte der Bauer bald den Kaplan, bald wieder seinen Nachbar auf der Bank betrachtet. Der Gegensatz zwischen dem Zorn des jungen Priesters und der heiteren Ruhe Walters schien ihn zu belustigen. Er fing zu kichern an. Da zuckte er unter dem harten Griff, den er an seinem Arm verspürte. »Kommen Sie, Scheidhofer!« Der Kranke klagte wie ein eigensinniges Kind: »Ich mag net. In meiner Stuben is kalt, hat er gsagt. Und recht hat er.«

»Scheidhofer!« Die Stimme des Kaplans hatte scharfen Klang.

»Lassen S' mich sitzen da! In der Sonn is's gut! Warum denn ins eiskalte Haus eini?«

Innerebner stand schweigend und nagte an der Lippe.

Da lachte Walter. »Du wirst ihm sagen müssen, warum du meine Nähe für so gefährlich hältst. Wenn du schweigsam bleibst, könnte der Scheidhofer denken, ich hätte ein Verbrechen begangen.«

»Das hast du auch begangen!« fuhr Innerebner auf. »Einen Mord an deiner Seele und an den Seelen der Deinen!«

»Waaas?« fragte der Bauer, halb ungläubig und halb erschrocken. »Umbracht haben S' wen?«

»Nein, Scheidhofer, so gefährlich war's nicht!« Walter lachte wieder. »Innerebner wollte Ihnen nur sagen, daß ich Geistlicher hätte werden sollen.«

»Und daß du eidbrüchig wurdest, ein Verräter am Altar!«

»So drückt er sich aus!« wandte sich Walter heiter an den Kranken. »Bei mir heißt es: daß ich ehrlich meinen Weg suchte, um ein glücklicher Mensch zu werden.«

»Ah so?« Das dünne Gekicher des Kranken bekam einen seltsamen Klang. »Da haben S' Ihnen viel vermessen! Aber Mensch sein und 's Glück finden?«

»Scheidhofer!« siel Innerebner mit bebender Stimme ein. »Was Ihr da redet, ist sündhaft.«

»Schon wieder amal? Warum denn?«

»Weil es Lästerung gegen den Willen Gottes ist. Nicht Menschen sollen wir sein, mit aller Torheit und Sünde des Lebens, sondern fromme Christen, die sich in Demut und Reue vor der Zuchtrute Gottes beugen.«

»Ja, ja, so sagt er allweil, der Herr Kaplan!« In Spannung blinzelte der Bauer zu Walter hinüber. »Was täten denn Sie sagen?«

»Daß Gott nicht mit der Rute zuschlägt wie ein schlechter Schulmeister. Er hätte die Menschen nicht erschaffen, wenn es nicht sein Wille wäre, daß wir an unserem Leben Freude haben.«

Es flimmerte in den Augen des Kranken. »No? Was sagen S' jetzt, hochwürdiger Herr?«

Innerebner umklammerte den Arm des Bauern und suchte ihn von der Bank zu ziehen.

»Aber Michael! Ein Kranker! Er will in der Sonne bleiben. Oder brauchst du, um als Priester zu diesem dürstenden Herzen zu reden, die kalte Stube? Wegen des wirksameren Kontrastes mit der heißen Hölle, von der du ihm mehr als nötig zu erzählen scheinst?«

Die funkelnden Augen auf Walter gerichtet, schien Innerebner nach einem Wort zu suchen, das wie ein Faustschlag wirken sollte. Er fand es nicht.

»Warum schweigst du? Da sitzt ein Mensch, der den Priester nötig hat, weil ihm der Schmerz den Glauben an Gott zerschlug. Zeig ihm die schöne Kirche, die du seinem irrenden Herzen erbauen willst! Daß es dir bei deiner Seelsorge für den Scheidhofer nur um eine backsteinerne Kirche zu tun ist, mit gemalten Fenstern, die der Sonne den Weg versperren? Michael, das glaub ich nicht. Von deinem ehrlichen Willen bin ich überzeugt. Also sprich!«

Da war es stille zwischen den dreien. Man hörte nur das Geflüster des Laubes und die schweren Atemzüge des Kranken, der lauernd zu dem bleichen Gesicht des jungen Priesters hinaufschielte.

»Rede doch! Oder reicht hier die Formel nicht, die du aus dem Seminar herausgetragen ins Leben? Hat dein Herz alle menschliche Sprache verlernt? Steh nicht so stumm! Du bist der Priester. Ich bin der Gottesflüchtling. Doch wenn ich den priesterlichen Rock trüge, wüßt ich, was ich dem Scheidhofer sagen würde.« Walter faßte die Hand des Bauern. »Ich würde Euch sagen, Scheidhofer, daß Euer Zorn gegen das Leben und Euer Zweifel an der Liebe des Schöpfers ein häßlicher Undank ist. Habt Ihr nur ein halbes Gedächtnis, Mann? Fällt Euch nur alles Bittere und Harte ein, das Euch die Not der Erde auf Herz und Schultern legte? Warum denkt Ihr nicht an das Frohe und Schöne, mit dem der Schöpfer Euch beschenkte. Gab er Euch nicht eine lachende Kinderzeit in der Liebe von Vater und Mutter? Gab er Euch nicht die Kraft der Jugend, den Stolz der Arbeit und den Segen der Ernte? Hat er Euch nicht ein Weib in die Arme gelegt? Habt Ihr nicht gejauchzt im Glück Eurer jungen Liebe?«

»Meiner Seel, dös is wahr!« stammelte der Scheidhofer. »Die Säuberste hab ich mir gnommen. Und gjuchezt hab ich, grad wie a Narr!«

»Und Eure Kinder? Hat Euch der Glanz ihrer Augen nicht stolz und froh gemacht?«

»Wahr is's! Wahr! Mein Madl mit ihre lieben Guckerln, und meine Buben in ihrer lustigen Kraft! Aber jetzt? Was hab ich davon?«

»Das Bewußtsein, daß Ihr reicher wart, als es andere sind, die keine Freude verlieren können, weil sie nie eine Freude erlebten. Seht mich an, Scheidhofer! Hinter mir liegt ein Leben ohne Glück, ohne Licht und Wärme. Und der da? Glaubt Ihr, daß er glücklich ist? Der hat unter dem schwarzen Rock ein Herz, das den Durst seines Lebens nicht stillen darf. Alles muß er entbehren, was die Liebe des Schöpfers Euch in Fülle gegeben hat.«

»Wahr is's! Viel hat er mir geben. Aber alles hat er mir wieder gnommen.«

»Nein, Scheidhofer! Gott hat Euch nichts genommen. Sterben müssen wir alle. Daß Euer Weib und Eure Kinder ihr Leben nicht froh erfüllen durften bis zum Alter? Das hat doch der Schöpfer nicht verschuldet. Wollt Ihr Gott dafür verantwortlich machen, daß Euer Mädel beim Beerensuchen barfuß lief, statt Schuhe zu tragen, durch die keine Natter beißt? Und daß Euer Bub im Rausch einen Fehltritt machte? Und daß Eure beiden Ältesten auf dem Schlachtfeld verbluten mußten, weil uns Frankreich das friedliche Leben auf deutschem Boden nicht vergönnt? Scheltet auf den Unverstand der Menschen! Der hat Euch arm gemacht. Der Schöpfer in seiner Liebe hat Euch nur gegeben. Und habt Ihr denn wirklich alles verloren, was er Euch gab? Eure Hände sind leer. Aber die Sonne könnt Ihr doch auch nicht greifen, und sie wärmt Euch doch! Denkt an Euer Weib! Steht es nicht da vor Euch, schmuck und froh wie in der Zeit Eures schönsten Glückes? Denkt an Eure Kinder! Seht Ihr sie nicht lachen, seht Ihr nicht ihre Augen? Für Eure Hände sind sie gestorben, nicht für Euer Herz. Scheidhofer, Ihr seid ein reicher Mann!«

Da klammerte der Kranke die dürren Finger um Walters Arm. »Der is der Pfarr! Der da!« Heiser lachend sah er zu Innerebner auf. »Was bist denn du? 's höllische Fuier und der Tuifi! Dös is alls, was d' hast! Der hat den Herrgott und d' Ruh! Der is der Pfarr! Was bist denn du?«

Innerebner streckte die Hand. »Scheidhofer –« Die Stimme versagte ihm, und er ging davon wie in ratloser Flucht.

»Michael!« Walter sprang auf.

Der Bauer hielt ihn fest. »Bleiben S' bei mir, Herr! Tausend Sachen muß ich Enk fragen.«

Das konnte Innerebner noch hören. Auf der Straße schien er die Menschen nicht zu sehen, die an ihm vorübergingen. Die Stirn mit Schweißperlen bedeckt, erreichte er sein Haus, das neben der Kirche stand, vom Pfarrhause durch den Friedhof getrennt, ein kleines Gebäude in einem verwahrlosten Gärtchen, darin das hoch aufgeschossene Unkraut alle Blumen zu ersticken drohte. Innerebner zog die Glocke. Seine Wirtschafterin, eine alte hagere Person mit verdrießlichem Runzelgesicht, öffnete die Haustür und sagte: »A Weibsbild hockt in der Stuben. Die muß ebbes Pressants haben.«

Er trat in das Zimmer. Heiße Röte schlug ihm über das Gesicht, als er Mariane gewahrte, die sich mit leisem Gruß erhob. Sie trug das weiße Kleid wie am Morgen in der Kirche; den Schleier hatte sie über das Haar zurückgestreift. Das ganze Zimmer war erfüllt von einem süß duftenden Parfüm. »Was suchen Sie in meinem Haus? Lassen Sie mich in Ruhe!« knirschte Innerebner in Jähzorn.

Sie lächelte, als hätte sie eine Kränkung tapfer zu überwinden. »Einen freundlichen Empfang hab ich nicht erwartet. Aber daß Sie gegen eine Dame so unhöflich sein würden, hätt ich doch nicht gedacht. Ich will Sie auch nicht länger belästigen und bereue diesen Weg. Was mich hergetrieben hat, nach langem Kampf mit meinem Stolz, das will ich für mich behalten. Nehmen Sie an, daß ich das Bedürfnis fühlte, mich bei Ihnen zu entschuldigen – wegen meines unvernünftigen Benehmens in der Kirche.«

Schweigend trat er von ihr zurück, als empfände er den aus ihren Kleidern strömenden Duft wie eine Qual.

»Ich habe Ihren Rat befolgt und den Priester in der Kirche gesucht. Dieser Entschluß ist mir schwer geworden. Als ich ihn mir abgerungen hatte, war mir wohl. Wieviel Ruhe hoffte ich zu finden. Doch als Sie mich durch das Gitter ansahen, mit diesen unerbittlichen Augen, hat mich eine solche Angst befallen, daß ich nicht den Mut hatte zu bleiben!« Ihre schönen Augen flehten.

»Geben Sie sich keine Mühe!« Innerebner lachte rauh. »Auf dem Theater müssen Sie große Erfolge haben. Ich merke, Sie sind eine gute Komödiantin.«

Mariane richtete sich auf, wie in tiefster Seele verwundet. »Sie irren sich, Hochwürden! Ich bin eine Stümperin. Wenn meine Kunst von mir begehrt, daß ich wahr die Menschen darstelle, so verlangt sie vor allem, daß ich die Menschen auch kenne. Ich merke jetzt, wie kurzsichtig meine Augen sind. An Ihnen hab ich nur den Rock gesehen, nicht was daruntersteckt. In der Schutzlosigkeit meiner Jugend hab ich schon manche Torheit begangen, die mich Tränen kostete, wenn die Enttäuschung kam. Aber daß mich meine Sehnsucht nach Seelenruhe gerade zu Ihnen führen mußte, das war der dümmste Streich meines Lebens.« Sie ging zur Tür.

Er atmete auf wie ein Erlöster.

Schon die Klinke in der Hand, wandte sie das Gesicht, mit Tränen in den Augen. »Noch keine Enttäuschung ist mir so bitter geworden. Wer und was Sie sein mögen, das weiß ich nicht. Alles andere, nur nicht der Priester, den ich in der Bedrängnis meines Herzens zu finden hoffte. Verzeihen Sie diesen Irrtum!« Große Tropfen lösten sich von ihren Wimpern.

Innerebner streckte wortlos die Hände nach ihr. Sie wollte gehen. Da überfiel es sie wie eine Anwandlung von Schwäche, daß sie sich an den Türpfosten stützen mußte, um nicht zu fallen. »Fräulein!« schrie er, sprang zu ihr hin und fing sie in seinen Armen auf. Ihre Augen waren geschlossen. Wie leblos fiel ihr Kopf an seine Brust, daß ihr Haar seine Wangen berührte, seine Lippen. Nur ein paar Sekunden dauerte das. Dann schlug sie die Augen auf und wand sich erschrocken aus seinen Armen. Er hatte den Blick eines Irrsinnigen. »Fräulein!« stammelte er und hielt ihre Hand umklammert. »Sie sollen sich nicht getäuscht haben in mir. Ich bin ein Priester. Auch ein Mensch will ich sein. Der alle Not Ihres jungen Herzens verstehen soll!« Er wollte sie von der Tür fortziehen. »Schütten Sie Ihr Herz vor mir aus! Was ich an Trost in meiner Seele habe, das will ich Ihnen geben. Alles! Alles!«

Mariane schüttelte den Kopf. Sie befreite ihre Hand und lächelte mit nassen, glänzenden Augen. Dann eilte sie aus der Stube, als müßte sie einer Gefahr entfliehen. Er starrte die Tür an, die sich hinter ihr geschlossen hatte, und blickte suchend in der Stube umher, als wäre da irgendwo die Ruhe für den Sturm, der ihn erfüllte. Eine Stube wie die Zelle eines Mönches. Nur das nötigste Gerät. An den weiß getünchten Wänden ein paar Heiligenbilder, wie sie in den Stuben der Bauern hängen. In der Ecke ein hohes Kruzifix, unschön, grell bemalt, mit einem plump gezimmerten Betschemel davor. Auf diesen Schemel warf er sich hin und drückte das Gesicht in die Hände. Da hörte er den dumpfen Hall der Haustür. Das riß ihn in die Höhe und zog ihn zum Fenster. Er sah sie draußen durch den Garten gehen. In ihrem weißen Kleid sah sie aus wie eine Heilige, mit einem flimmernden Schein um das schwarze Haar. Und wie schön ihr Gang in der Sonne war, die jede Form ihres Körpers mit brennenden Linien nachzeichnete!

Ruhig, mit gesenkten Augen, ging sie davon. Bei einer Wendung der Straße ballte sie den Schleier zusammen, hauchte ein paarmal auf das Gewebe und drückte es an die Augen. Als sie in die Nähe des Wirtshauses kam, konnte sie schon das heitere Schwatzen der merkwürdigen Brüder und Schwestern hören. Die hatten ihre Mittagstafel im Freien decken lassen, unter dem Schatten der Ulmen. »Na also, da kommt sie ja!« rief Jarno. Und Philinchen zwinkerte: »Na, du schattende Kainsseele! Wo warst du denn?«

»Auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten.«

»Wer sucht, der findet!« behauptete Willy Meister und ließ den Pfropfen einer Schaumweinflasche knallen.

»Ach, Unsinn!« zwitscherte Philinchen. »Was soll man denn finden in diesem gottverlassenen Nest?«

»Oh!« Die ruhig Stolze wiegte lächelnd den schönen Kopf.

»Na ja, dein Doktor! Dieser Biedermeier mit Strupfen sei dir unbestritten überlassen.«

»Ich habe doch gar nicht von ihm gesprochen.«

»Aber gedacht hast du an ihn. Spiegelbergerin, dir kenn ick!« Die anderen lachten. Nur Mariane schwieg. »Mädel?« fragte Jarno. »Warum so pangsiv?«

»Über ein schauspielerisches Problem denke ich nach. Wie der Tartuffe zu spielen ist?«

Das gab verdutzte Gesichter. Und Bruder Laertes fragte: »Was ist dir nicht klar an ihm?«

»Muß er von der ersten Szene an mit durchsichtiger Maske gespielt werden? Oder so, daß seine Heuchelei und Lüsternheit im Anfang nicht zu merken ist, und daß er den Eindruck macht, als wäre echtes Gefühl in ihm?«

Eine lebhafte Debatte erhob sich. Jarno und Bruder Laertes vertraten die Meinung, daß der Darsteller des Tartuffe, um die Pointe der Komödie nicht vorwegzunehmen, zuerst mit einem Schein von reinlicher Wahrheit wirken müsse.

»Schein von Wahrheit? Das ist doch Unsinn!« erklärte Philinchen energisch. »Wahrheit ist Wahrheit. Und überzeugt. Ist nur ein Schein vor ihr da, so weiß man doch gleich, daß alles Schwindel ist. Es gibt keinen Schauspieler, der aus dem Tartuffe einen Heiligen machen könnte, an den man fünf Minuten glaubt. Was ein Lump ist, wirkt als Lump, in jeder Beleuchtung. Für die Gemeinheit gibt's keine Schminke.«

»Meinst du?« fiel Schwester Aurelia ein. »Ich sage dir, es gibt Männer, die das Blech ihrer Gefühle so fein zu polieren wissen, daß es aussieht wie pures Gold.«

»Natürlich! Du mußt das wissen! Bei deiner ausgedehnten Erfahrung!«

Unter dem Gelächter der anderen legte Aurelia beleidigt den schönen Kopf zurück. »Mit dir kann man nicht debattieren. Immer wirst du persönlich.«

»Das ist das Recht meiner Individualität. Objektiv sein? Die Kritiker sind's doch auch nicht. Warum soll ich es sein?«

»Aber Kinder!« mahnte Jarno. »So löst man doch keine künstlerische Streitfrage. Was meinst denn du selber, Mariane?«

»Ich glaube, daß Aurelia recht hat.« Es blitzte in ihren Augen. »Jetzt weiß ich, wie der Tartuffe zu nehmen ist. Beinah hätt ich mich täuschen lassen. Sein Gold ist Blech, und die Politur soll abfallen. Tableau!« Sie lachte.

Bruder Laertes schüttelte den Kopf. »Dunkel ist der Rede Sinn! Mädel? Spinnst du? Oder bist du unter die Mystiker gegangen?«

»Neulich hat sie doch die Helena im zweiten Teil gespielt!« zwitscherte Philinchen. »So was färbt ab. Aber nu was Lustiges, Kinner! Was machen wir mit dem angebrochenen Nachmittag? Da draußen ist so was wie'n See. Ich schlage vor, wir machen die berühmte Kahnpartie und laden den Kaplan dazu ein. Der muß den Landgeistlichen markieren.«

Man lachte. Dann kam ein anderer Vorschlag: »Wir setzen uns in den Wald und extemporieren ein Stück.«

»Bei der Hitze? Ich danke!«

»Was Besseres: Herr von Meister muß den Hamlet erklären!«

Dieser Vorschlag wurde mit Bravo aufgenommen. Aber Mariane sagte: »Heute nachmittag wird probiert. Mittwoch wollt ihr spielen. Ich muß meine drei Proben haben.«

»Ach, Unsinn! Das machst du doch so! Für die Bauern wird's gut genug.«

»Nicht für mich. Um euch den Spaß nicht zu verderben, hab ich die Rolle übernommen. Wenn ich auf der Bühne stehe, hört aller Spaß für mich auf. Ich will meine drei Proben haben.«

»Na also, ja!« Philinchen seufzte. Dann puffte sie die ruhig Stolze an den Arm. »Um dich zu versöhnen, will ich dir eine Freude machen: guck mal, da kommt dein süßer Doktor!« Alle sahen zur Straße hinüber, von der sich Walter dem Wirtshaus näherte, so rasch, als gält' es eine wichtige Sache zu erledigen.

»Kinder, ein blaues Wunder!« sagte Jarno. »Mit dem muß was passiert sein, was ihm die Knochen streckte.«

Wieder puffte Philinchen die kleine Faust an Aureliens Schulter. »Die Liebe zu dir! So was erzieht.«

Die ruhig Stolze erhob sich, und als Walter den Hut zog, rief sie mit ihrer schönen Stimme: »Guten Tag, Herr Doktor!« Sie sah, daß er ins Wirtshaus treten wollte. »Kommen Sie doch zu uns! Das ist kein Tag für die Stube.«

»Danke, Fräulein!« Er stand zu weit von ihr, als daß sie sehen konnte, wie heiß ihm das Blut in das sonnverbrannte Gesicht gestiegen war. »Ich muß gleich wieder fort.« Er trat ins Haus.

»Sirene!« Philinchen lachte. »Das ist ein Odysseus mit Watte in den Ohren. Aber heute gefällt er mir. Sein hoher Gang, seine edle Gestalt. Aurelchen, mein Seelchen, den mach ich dir abspenstig.«

Willy Meister sagte pikiert: »Da möchte ich denn doch bitten!«

Erstaunt hob die niedliche Sünderin das Näschen. »Fremdling, wer bist du? Bitte unseren Vertrag nicht zu vergessen!«

»Weiß schon, Paragraph eins!« Geärgert brannte sich Willy Meister eine Zigarette an. »Aber schließlich ist man doch auch noch da. Alles hat seine Grenzen.«

»Es fragt sich nur, wo sie gezogen werden.«

Auch die lustige Kellnerin fand, als Walter in die Wirtsstube trat, alle Ursache, über Walters verändertes Aussehen zu staunen. »Sakra, Herr Dokter! D' Langentaler Luft schlagt Ihnen aber gut an!«

»Gelt ja?« Er wollte mitlachen, doch wie in unbehaglicher Schwüle nahm er den Hut ab und warf einen Blick durchs Fenster. »Die Luft hier bekommt mir so gut, daß ich lange bleiben werde. Sehr lange!« Wie kräftig er dieses »sehr« betonte! Jetzt konnte er auch lachen. »Hunger macht sie aber auch, die Langentaler Luft! Bringen Sie flink was zu essen! Und kann ich einen Wagen nach Mitterwalchen bekommen?«

»Ja, der Peterl is daheim.«

»Er soll gleich einspannen! Und sagen Sie dem Wirt, daß ich den Wagen auch morgen noch behalte.«

Eine Viertelstunde später stand der Schimmel vor der Haustür. Walter kam und sprang in den Wagen, so hastig, als ginge die Fahrt nach einem Bahnhof, und als hätte der Zug schon gepfiffen. »Los, Peter! So schnell, wie der Schimmel kann.«

Drüben, beim Tisch der merkwürdigen Brüder und Schwestern, hoben sie die Köpfe und guckten. Da schwang der Peterl schon die Peitsche. »Hüh, Schimmele!« Und der Wagen rollte auf die Straße hinaus. Als es um die Ecke ging, atmete Walter auf wie einer, dem was Bedrückendes von der Seele gefallen. Leis lachte er vor sich hin. »Flink, Peter!«

»Pressiert's denn gar so?«

Behaglich lehnte Walter sich in die ledernen Polster zurück. Als der Scheidhof vor ihm auftauchte, mit den grünen Baumkronen, mit dem Blumenduft, der das kleine Königreich in der Sonne umhauchte, war in Walters Augen der Blick eines Glücklichen. Lächelnd flüsterte er die Stelle auf dem »Werther«: »Wie wohl ist es mir, daß ich entschlossen bin!«

Für Werther waren diese Worte der Entschluß zum Tode, für Walter Horhammer, der an einem Tag der Arbeit das dicke Buch von den Welträtseln in den Scheidhofer Weiher geschleudert hatte, waren sie der Wille zu frohem Leben.


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