Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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Als er zum Scheidhof hinüberkam, hörte er den Bonifaz im Stall mit den Pferden reden. Lachend trat er über die Schwelle und sagte: »Grüß Gott, Bonifaz! Wissen Sie schon das Allerneueste?«

Der Knecht warf den Strohwisch fort, mit dem er den Hals des Sattelpferdes trocken gerieben, und breitete dem dampfenden Gaul eine Kotze über den Rücken. Dann nahm er den Hut ab und streckte die Hand. »Grüß Gott, Herr Scheidhofer!«

Walter lachte. »Gelt, ich hab recht gehabt, als ich sagte: wir zwei werden noch manche Wiese miteinander mähen.«

»Jetzt kommt's schon so, ja!«

»Sie bleiben bei mir? Gelt, Bonifaz?«

»Ja, Herr, da muß einer bleiben.«

Ruhig sagte der Knecht das vor sich hin. Und Walter hatte keine Ahnung, was dieses kurze Wort für das Glück und Leben zweier Menschen bedeutete und wieviel opferwillige Redlichkeit da vor ihm stand. Noch immer dachte er an den andern, der ein Betrüger war. Deshalb fragte er: »Bonifaz? Was hätten Sie für den Hof bezahlt?«

Lang besann sich der Knecht. »A Liebhaber, der d' Freud mitzahlt, kunnt allweil seine hundertundzwanzg Tausend anlegen. Was a Bauer is, der durft kein' Pfennig mehr geben als hundert Tausend.« Walter schwieg. Dunkel war ihm das Blut in die Stirn gefahren. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Stall. Leise pfiff der Knecht vor sich hin. »Mar' und Josef! Den hat er einirumpeln lassen. Der Gauner, der alte!«

Walter ging auf die Haustür zu. Vor der Schwelle begegnete ihm die Lies, die mit der leeren Kraxe zum Hohen Schein hinauf wollte. Sie sah ihn an und lachte. »Jetzt dürfen S' Ihnen die zwei linken Füß einrichten lassen! Sonst tappen S' abi übern Graben. Und fest müssen S' kitzeln, bis S' aus'm Scheidhof ebbes aussibringen.« Lachend ging sie davon, blieb stehen, drehte das Gesicht und sagte ernst: »Daß bei mir droben mit'm Vieh alls in der Ordnung bleibt, da können S' Ihnen verlassen! Bald aber wieder a Sterndl abifallt für Enk, da passen S' auf, daß 's kein Kohlstein wird! 's Enker war eins gwesen, a Sterndl!« Die Kraxe höher rückend, schritt sie davon.

Der gallige Spott, mit dem die Lies begonnen, hatte Walter verletzt. Was sie zum Schluß geredet hatte, erschien ihm sinnlos. Aber ihr Anblick und der Klang ihrer Stimme weckte eine Erinnerung in ihm: das zaubervolle Bild jenes ersten Morgens auf dem Hohen Schein! Als wär' es nicht ein Erinnern, sondern ein Erleben in diesem Augenblick: so leuchtend stand das flammende Wunder des Berges vor ihm – so lieblich schlummerte im Grün der Heidelbeerbüsche dieses junge, schöne, reine Leben! Wie hatte das in seinen Gedanken, in seiner Seele erlöschen können? Und der Hohe Schein? Seit einer Ewigkeit hatte er den nicht mehr gesehen! Und der neue Weg, an dem der Mertl baute, einsam, irgendwo da droben? – Schwarz gähnte vor ihm der leere Flur des Hauses, das jetzt sein eigen war. Erregt und bitter lachte er vor sich hin. Dennoch war ihm alles Widerliche dieser Stunde gemildert durch die Erinnerung, die er der spöttischen Lies verdankte.

Er trat in sein Haus.

Am Tisch der schwül überheizten Stube saß der Scheidhofer auf der Wandbank, das zerfallene Gesicht getupft von den heißen Flecken der Aufregung, die ihm das Zählen der Banknoten verursacht hatte. Als die Tür geöffnet wurde, strich er den dicken Notenbausch vom Tisch auf die Bank hinunter und setzte sich drauf. Dann legte er die Ellbogen auseinander und nickte dem Eintretenden kichernd zu: »Jetzt haben wir's, gelt! Ös habts den Hof, und ich hab mei' Ruh! Aber lassen wir 's Gschäft in Fried! Was hab ich davon? Kommen S', Herr Dokter! Ös seids mein Evangelist! Jetzt muß ich Enk ebbes fragen!«

Walter war zum Tisch getreten und betrachtete schweigend den Kranken.

Der fuhr mit dem Ärmel über den Mund. »Da hab ich die ganze Nacht heut drüber nachgesinniert. Es gibt kein' Tuifi, haben S' gsagt. Jetzt glaub ich dran. Und wann's kein' Tuifi net gibt, so kann er meine Buben net gholt haben. Und wann's die ärgsten Lumpen gwesen wären! Von die ganz Guten sind's keine gwesen. Dö haben Sacherln trieben, wo unser Herrgott kei' Freud dran hat. Und an Herrgott gibt's. Dös haben S' gsagt! Und weil er die ewige Güt is, muß er alls verzeihen. Und alle muß er auffifahren lassen in Himmel. Drum muß ich meine Leut im Himmel finden, wann ich auffifahr. Dös haben S' gsagt. Jetzt glaub ich dran.«

»So hab ich Ihnen das nicht gesagt!« Walters Stimme zitterte vor Erregung.

»Dös haben S' gsagt. Da nimm ich Gift drauf.«

»Nein, Scheidhofer! So hab ich das nicht gesagt.«

»Ah so?« Der Kranke zwinkerte. »Täten S' ebba jetzt zruckziehen mit Enkere Glaubenssätz? Weil S' den Hof haben? Was?« Mit den Knöcheln der dürren Fäuste pochte er auf den Tisch. »An Herrgott gibt's, der gut is. Halben S' dös gsagt oder net?«

»Das hab ich gesagt.«

»No also! Und 's ander, dös is mein Konklusi. Wann er alls verzeihen muß, fahrt a jeder auffi in Himmel. Lump oder Christ! Und da hab ich allweil drüber sinniert, was nacher die Tugendhaftigkeit für an Wert hat? Was? Dö hat ja nacher kein'! Und wann ich tu, was S' mir graten haben, und ich mach mit meim Geld a wohltätigs Werk, a Krankenhaus für d' Langentaler?« Lauernde Spannung glimmerte in seinen Augen. »Was hab ich denn da davon?«

»Das frohe Bewußtsein, daß Ihr Leben für die Menschen von Nutzen war. Und die Freude an Ihrem guten Werk.«

»Ich? Und ebbes nutzen? Wer hat denn mir ebbes gnutzt? A jeder hat mich noch eingseift, wann er der Gscheitere war.« Der Bauer lachte. »Und Freud? Ui Jeses! Was soll denn mich auf der Welt noch freuen? Was hab ich denn nacher davon?«

Mit zorniger Schärfe sagte Walter: »Nichts!«

»Gelt, ja?« Kichernd grub der Scheidhofer die zittrigen Hände in die Ärmel seiner Pelzjacke. »Gelt, jetzt hab ich dich beim Hakerl! Nix! Dös is alls, was d' weißt! Da weiß der ander noch mehr. Der hat sein' Tuifi, vor dem man sich grausen kunnt. Was hast denn du? Sag mir's, wann d' ebbes weißt! Und wann der ander nix weiß, und du weißt nix? Da bin ja ich noch der einzig Gscheite von alle. Ich weiß, was ich will. Ich weiß, was ich tu! Was kannst denn sagen? Also! Jetzt reden S', Herr Pfarr!«

»Ihnen hab ich nichts mehr zu sagen. Aber jetzt sollen Sie mir eine Antwort geben!« Walter trat vor den Bauern hin. »Scheidhofer? Haben Sie je ein Wort von mir gehört, das Ihnen weh getan?«

»Na! Allweil haben S' Ihnen so schmalzig anlassen wie 's Pflaster, dös der Dokter streicht.«

»Können Sie mir eine Unredlichkeit vorhalten, die ich gegen Sie begangen hätte?«

Der Kranke schmunzelte. »Ah na! Ganz ehrlich haben S' Ihnen allweil angschaut. D' Lies hat's auch gsagt: Sö ghören schon zu die Guten!« Recht merkwürdig betonte er dieses letzte Wort.

»Mir haben Sie also nichts vorzuwerfen?«

»Na! Sö und der Faz, mit enk zwei bin ich zfrieden.«

»Dann sagen Sie mir, Scheidhofer, warum Sie mir eine schöne Freude mit Schmutz bewarfen? Warum haben Sie mich betrogen?«

Der Bauer schien nicht gleich zu verstehen. Dann funkelten seine Augen. »Ich? Und betrügen? Ah, der is gut! Wann ich söllene Wörtln hör, muß ich gar noch den Avakaten kommen lassen!«

»Eine Antwort will ich! Ist der Scheidhof den Kaufpreis wert, den Sie gefordert haben?«

Aller Ärger des Kranken schien verflogen. Spöttisch guckte er an Walter hinauf. »Ah so? Freilich, ja, da hab ich schon a bißl auffidruckt. A jeder verlangt so viel, als er kriegt! Wann S' den Scheidhof wieder verkaufen, müssen S' es gradso machen! A bisserl weniger werden S' schon kriegen, als wie S' geben haben. So tappt net leicht einer eini! Es hat net jeder zwei linke Füß – wie s' gsagt hat, d' Lies.«

Ohne zu antworten, betrachtete Walter den Bauern.

Ans diesem ruhigen Blick schien etwas zu reden, was dem Scheidhofer die Galle aufriegelte. »Du kannst mich anschauen, wie d' magst! Der Gscheiter wie du bin ich allweil. Dös is 's einzig, was mich noch freut auf der Welt. Und meine zwei Stuben laß ich net aus bis zum letzten Schnaufer. Alls muß ich haben, was ausgmacht is: mein' Trunk und mei' Speis, mein Holz für'n Ofen und d' Magd, dö mir alles tut. Dös hab ich verbrieft. Da zwickst mir kein Bröserl net ab! Dös hab ich gsiegelt. Und wann ich net krieg, was mir zusteht, laß ich den Avakaten einrucken. Verstehst mich?«

In Walter war alle Erbitterung erloschen. »Adieu, Scheidhofer!« sagte er. Und ging aus der Stube. Bis in den Flur hinaus konnte er noch das hämisch vergnügte Gekicher des Kranken hören. Als er ins Freie trat, sah er den Arzt, der zu einem Stallfenster hineinrief: »Du kannst ausschirren, Bonifaz! Ich muß bleiben.« Walter erschrak. In seinem Herzen zitterte ein Gefühl, das er im Leben noch nie empfunden hatte: tiefste Sorge um einen Menschen, den man liebt. In seiner Bestürzung lief er auf den Doktor zu. »Bleiben? Ist Gefahr?« Es zerdrückte ihm die Stimme.

Der Arzt sah ihn an. »Sind Sie mit den Ehrenreichs verwandt?«

»Nein, befreundet. Ich wohne hier.«

»Darf ich Sie um ein paar Worte bitten?«

Sie traten unter den Schatten der Ulmen. Walter stammelte: »Es ist doch was Ernstliches nicht zu befürchten?«

»Für den Augenblick kann ich das nicht sagen. Es ist eine Venenentzündung da, und der Entzündungsherd hat sich schon bedenklich ausgebreitet. So was kann wieder zurückgehen und in ein paar Wochen vorbei sein. Ich konnte deshalb das arme liebe Mädel mit leidlichem Gewissen beruhigen. Als Arzt muß ich mir den Buckel salvieren. Das lahme Untergestell des alten Herrn macht mir Sorge. Da steckt nur noch halbe Lebenskraft. Der Heilwille der Natur ist unterbunden. Drum kann eine Katastrophe sehr nahe liegen.«

Walter stand so erschrocken, daß er kein Wort herausbrachte.

»Es ist mir lieb, daß ich mich mit Ihnen aussprechen konnte, damit doch jemand im Haus von der Gefahr unterrichtet ist. In der Stube hab ich ein bißl gelogen und von einem Dutzend Patienten geschwefelt, die ich in Langental habe. Aber ich bleibe nur, um vor Abend und am Morgen noch mal nachsehen zu können. Jetzt schwindeln Sie halt auch ein bisserl und suchen Sie so ruhig zu scheinen wie möglich! Lassen Sie den alten Herrn nicht viel schwatzen. Er darf sich nicht aufregen. Ich hoffe, daß ich ihn am Abend noch so finde wie jetzt. Aber – wenn sich ein Schüttelfrost einstellt, oder wenn er ein bisserl komisch zu reden anfängt – dann müssen Sie schon nach mir schicken. Ich bleibe im Wirtshaus auf der Lauer. Zu helfen ist dann freilich nichts mehr. Aber ich kann ihm doch die letzten Stunden erleichtern.«

Aus Walters Kehle rang sich ein erstickter Laut.

»Geht Ihnen das so nah? Freilich, wenn der alte Herr hinüber muß, wird die Welt ärmer um einen Menschen, wie's nicht viele gibt. Der! Und sein Mädel! Und die Mutter! Die haben Sie wohl auch gekannt? Nein? Herr, was für eine Frau ist das gewesen! Ich möcht nur wissen, was sich unser Herrgott denkt, wenn er solche Menschen voneinander reißt? Sterben müssen wir alle. Aber komisch macht er das manchmal. Es gibt doch hundert Lebenskerzln, die für die Katze brennen. Könnt er da nicht ein überflüssiges Stümperl abzwicken und zur Nachhilf auf einen silbernen Leuchter stecken, auf dem ein schönes Licht erlöschen will? Da kenn' ich einen, um den kein Gockel krähen möcht.« Der Blick des Doktors glitt zum Scheidhof hinüber. »Zehn Jahr lang kiefelt ihm der Tod schon an den Knochen. Und der kann noch leben, ich weiß nicht wie lang! Und ein andrer, der für das Leben eine Freud ist wie das Glockenläuten am Sonntag, muß von heut auf morgen hinüber. Warum? Da darf man nicht nachdenken. Oder das bissel Verstand könnt einem draufgehen.«

Walter hörte nicht. Über die Fliederbüsche und Rosenbeete, um die der Glanz der schönen Sonne hing wie ein feines Goldnetz, blickte er zur Villa hinüber. Und als der Arzt schon gegangen war, blieb Walter noch immer auf dem gleichen Fleck im Schatten der Ulme stehen. Der Schreck hatte ihn ganz verstört. Wie sollte er in die weiße Stube treten und ruhig scheinen? Wie sollte er dem alten Herrn in die Augen schauen und wissen: du bist ein Sterbender! Wie sollte er vor Mathild hintreten? Mit beiden Fäusten griff er an seine Brust. Er hatte plötzlich ein Gefühl, so schmerzvoll und quälend, als wäre ihm ein eisernen Reif um die Rippen gelegt, der ihm das Herz zerdrückte.

Da klang ihre rufende Stimme von der Veranda: »Herr Doktor?«

Walter rannte, daß er atemlos zur Haustür kam. »Fräulein!« stammelte er und konnte nicht weitersprechen, weil ihm ihr Anblick die Kehle zuschnürte. Sie hatte den Glanz einer gläubigen Hoffnung in den Augen. »Papa ist ungeduldig nach Ihnen!« sagte sie. »Er fühlt sich auch wohler. Gott sei Dank! Was wir vom Doktor hörten, hat mich sehr beruhigt. Ich will nur schnell in die Küche, Papa muß Eiswasser mit Zitronensaft bekommen.« Ihr helles Kleid war in dem dunkeln Flur wie ein huschendes Licht. Walter streckte, als Mathild verschwunden war, die Arme nach ihr wie in dem brennenden Wunsch, sie zu stützen, sie zu bergen an seiner Brust. Er fühlte, daß sich hinter dem halben Trost, den der Arzt ihm noch gelassen, ein unerbittliches Urteil verbarg. Dennoch klammerten sich seine Gedanken an diese freundliche Lüge. Wie da draußen über Mathilds Rosen das Gold der Sonne herunterfiel aus blauer Höhe, so mußte ein Wunder kommen, um die Lüge in Wahrheit zu verwandeln! Dieses kostbare Leben durfte nicht erlöschen. Mathild in Schmerz und Tränen sehen zu müssen? Dieser Gedanke war ihm unerträglich. Es mußte noch Hilfe geben! Wenn nicht bei Menschen, dann bei Gott! So gläubig wie in diesem Augenblick war er in seinem ganzen Leben nie gewesen, auch nicht als Kind. Es muß doch einer sein, bei dem noch Hilfe ist, wenn aller Menschenwitz versagt. Legenden, wie er sie im Haus des Benefiziaten gehört hatte, und Geschichten von wunderbaren Rettungen schossen ihm durch den Kopf. Warum sollte das nicht möglich sein: durch das Opfer seiner selbst die Rettung eines köstlicheren Lebens zu erkaufen? Lachend hätte er in dieser Stunde den Scheidhof niedergebrannt, hätte sich zum Bettler gemacht, nur um Mathilds Augen eine einzige Träne zu ersparen. Sterben hätte er können, ohne sich zu besinnen, in dieser Stunde noch, mit einem Jauchzer sich hinlegen und sterben! Nur Mathild soll das Lachen nicht verlernen! Nur Mathild soll nicht weinen müssen! Das war in ihm wie ein Wirbel der Verzweiflung. Dann plötzlich befiel ihn etwas Seltsames. Das schmiegte sich lind um seine Gedanken, um sein Herz, um seine Sinne. Ein Gefühl der Ruhe war es. Ruhe, die er nicht verstand! Das war so stark in ihm, so reich! Wie der Glaube an alles Gute! Wie das Vertrauen auf alles Schöne! Wie das Glück!

Mathild kam aus der Küche mit dem kühlenden Trunk für den Vater, und Walter sprang in den Flur, um die Tür der weißen Stube für Mathild zu öffnen. »Doktor?« rief der alte Herr aus seinen Kissen. »Wo bleiben Sie denn so lang? Her da zu mir! Jetzt kommt das Wichtigste. Wie Sie die Pflanzen für Ihren jungen Wald erziehen müssen! Das ist die Hauptsache. Ich habe mir schon einen Platz für den Pflanzgarten ausgedacht: auf dem Hohen Schein.«

Mathild hatte den Arm unter das Kissen geschoben. »Komm, Vater! Trink!«

Er leerte das Glas. »Wie schön das kühlt! Vergeltsgott, liebe Geiß! Jetzt kommen Sie, Doktor –«

Walter umschloß mit beiden Händen den grünen Fäustling. »Das mit dem Pflanzgarten wollen wir uns für morgen lassen.«

»Nein, das muß ich Ihnen heut noch sagen.«

»Also heut am Abend. Jetzt müssen Sie mir einen Wunsch erfüllen.«

»Was denn?«

»Während uns Fräulein Thilde das vorgelesen hat von der Aufforstung der Kahlschläge, ist der Wunsch in mir erwacht, ich möchte sie einmal etwas lesen hören –« Walter suchte nach Worten.

»Ach so?« Der Forstmeister lachte. »Was Schöneres meinen Sie?«

»Fräulein Mathild! Ich bitte!«

Sie schien die Absicht dieser Bitte zu verstehen, nickte mit stillem Blick und ging zur Tür.

Walter sah ihr schweigend nach. Dabei betrachtete ihn der alte Herr so prüfend, wie ein Arzt am Tage der Gefahr in den Zügen eines Kranken zu lesen sucht. »Dokterl, Sie sind ein Duckmäuser! Warum das Mädel jetzt lesen soll, das weiß ich doch. Der mit seinen gescheiten Eulenaugen, der vorhin bei mir war, hat Ihnen wohl aufs Gewissen gebunden, daß ihr mich nicht viel reden lassen sollt?«

»Nein, Herr Forstmeister! Der Doktor sagte –«

»Keinen Sums, lieber Walter! Bei mir ist das überflüssig. Wenn er meint, daß es notwendig ist, will ich den Schnabel halten. Da brauchen wir uns nicht zu streiten. Geben Sie mir die Hand, Walter!« Draußen im Flur ein Schritt. Und der Forstmeister lachte. »Jetzt weiß ich, was sie bringt. Den Faust!«

Mathild trat in die Stube mit einem Buch.

»Was bringst du, Geiß?«

»Den Faust.«

Schmunzelnd drückte sich der alte Herr in die Kissen. »Der Faust, lieber Walter, ist auch eine Lehrstunde. Da kann ich schweigen. Komm, Thilde, setz dich zu mir da her, aufs Bett!« Mühsam rückte er gegen die Wand. »Das Vorspiel im Himmel kannst du überspringen. Das lesen wir als Epilog.«

Mathild blätterte und begann zu lesen: »Nacht. In einem hochgewölbten engen gotischen Zimmer Faust, unruhig auf seinem Sessel am Pulte.

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie,
Durchaus studiert mit heißem Bemühn –«

Lächelnd guckte der alte Herr zu Walter hinüber, dessen Blick an Mathilds Lippen hing. Sie las mit ruhiger Stimme, einfach, die eine und andere Stelle kaum merklich betonend. Was auf ihren Lippen war, das fühlte sie mit, und die Worte des Dichters bekamen warmes Leben, eine wirkende Kraft.

Den Duft der Blumen tragend, wehte die Frische des nahenden Abends in die weiße Stube herein. Leis bewegten sich die offenen Fensterflügel, und die weißen Gardinen wölbten unter dem sanften Hauch ihre Falten auseinander.

»Er schlägt das Buch auf und erblickt das Zeichen des Makrokosmus.

Oh, welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück
Neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeilen schrieb,
Die mir das innre Toben stillen,
Das arme Herz mit Freude füllen
Und mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?«

Walters Wangen brannten. »Bitte! Lesen Sie mir das noch einmal! Wie wunderbar schön ist das!«

Schweigend legte der alte Herr die zitternde Hand auf den Schoß seiner Tochter. Und Mathild. über das Buch sich niederbeugend, wiederholte die Verse. Ein leises Beben war in ihrer Stimme und verstärkte sich, als sie zu der Stelle kam:

»Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt –
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht' ich so vergebens?«

Man hörte heiteres Singen von der Straße herauf, das Rollen eines schweren Gespanns und einen Jauchzer. Da lag wohl ein verliebtes Pärchen auf dem Wagen ausgestreckt, der die Ernte des schönen Tages in die Scheuer brachte. Mathild stockte und sah über die leuchtenden Fenster hin. »Fräulein?« stammelte Walter. »Ermüdet Sie das Lesen?« Sie schüttelte den Kopf. Und las. Alle Erregung, die in ihrer Seele war, durchzitterte das Wort des Dichters und gab der Szene des Erdgeistes eine so erschütternde Wirkung, daß Walter beklommen lauschte, mit hämmerndem Herzen. Erst bei Wagners Auftritt fand Mathilde die Ruhe ihrer Stimme wieder. Als sie die Szene des »trockenen Schleichers« gelesen und den Monolog begonnen hatte, der in Faust den Gedanken der Selbstvernichtung reift, verstummte sie plötzlich, sah erschrocken auf das Buch und sagte tonlos: »Es ist dunkel geworden.«

»Aber Geiß! Ist ja noch schönster Tag! Und du mit deinen gesunden Augen! Das mußt du noch zu Ende lesen, bis zum Ostermorgen. So im Halben darfst du nicht aufhören. Du mußt den Dichter nach allem Kampf auch das jubelnde Wort noch sagen lassen, zu dem er kommen will. Lies nur, Kind! ›Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen!‹«

Mathild beugte sich über das Buch.

»Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen!
Hab' ich die Kraft dich anzuziehn besessen,
So hatt' ich dich zu halten keine Kraft!
In jenem sel'gen Augenblicke
Ich fühlte mich so klein, so groß;
Du stießest grausam mich zurücke,
Ins ungewisse Menschenlos!
Wer lehret mich? Was soll ich meiden?
Soll ich gehorchen jenem Drang?
Ach, unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden,
Sie hemmen unsres Lebens Gang!«

Walter hatte eine Bewegung gemacht. In seinen Augen war es wie heißer Schreck.

»Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen,
Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an –«

Dieser Klang der Wehmut schwand nicht mehr aus Mathilds Stimme. Ihre eigne Seele schien berührt von der Todessehnsucht, die in Faust erwacht und die ihn dürstend nach der erlösenden Schale greifen läßt.

»Ins hohe Meer werd' ich hinausgewiesen,
Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen,
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.
Ein Feuerwagen schwebt auf leichten Schwingen,
An mich heran –«

Es hatte schon gedämmert in der Stube. Nun hellten sich alle Wände auf, und leuchtender Glutschein wuchs um die Fenster her.

»Den ich bereitet, den ich wähle,
Der letzte Trunk sei nun, mit ganzer Seele,
Als festlich hoher Gruß dem Morgen zugebracht!«

Von den dreien, die in der Stube waren, achtete keines auf den Glanz, der draußen in den Abend fiel. Und Mathild las: »Er setzt die Schale an den Mund. Glockenklang und Chorgesang. Stimmen der Engel.

Christ ist erstanden!
Freude dem Sterblichen,
Den die verderblichen
Schleichenden, erblichen,
Mängel umwanden!«

»Doktor!« Der alte Herr umklammerte Walters Hand. »Ist das wahr, daß Sie das noch nie gelesen, noch nie auf der Bühne gesehen haben?«

Walter schüttelte stumm den Kopf. Es war in ihm ein Sturm von Gefühlen, daß ihm das Wort versagte.

»Noch nie gesehen? Dann können Sie das nicht empfinden, so groß, wie es ist. Die lesende Stimme allein kann das nicht machen. Das Bild des Lebens muß dabei sein, der wirkliche Klang, dieses tiefe Hallen, die jubelnden Erlösungsstimmen. Wie das wirkt, Doktor – wenn Faust die Schale mit dem Gift schon an die Lippen setzt, um allen Wert seines Lebens und sich selbst zu vernichten, und da tönen die Glocken, weckend und mahnend, die jubelnden Engelstimmen rauschen ihm in die lauschende Seele, und die Sonnenflut seines Ostermorgens leuchtet durch die verstaubten Fenster seiner Gelehrtenstube, leuchtet ihm hinein ins Leben, ins tiefste Herz, und führt ihn beim Hall der Glocken zurück in das schöne Dasein! Lies das, Kind! Und das mußt du lesen mit aller Inbrunst deines gläubigen Herzens!«

Mathild atmete tief. Und las:

»Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuß
Aus mich herab in ernster Sabbatstille;
Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuß;
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt' ich mir eine Welt entstehn.
Das Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück!
Erinnerung hält mich nun mit kindlichem Gefühle
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!«

Mit zitternden Händen legte Mathild das Buch in den Schoß, und Walter richtete sich auf wie ein Erwachender. Da hob sich der alte Herr aus den Kissen. »Die Fenster! Kinder! Seht doch die Fenster an!« Da draußen schien alles zu brennen, die Erde, das Laub, der Wald, die Berge, der Himmel. »Das müßt ihr euch ansehen! Das muß ein Abend sein, so herrlich wie noch keiner gewesen!«

»Fräulein!« stammelte Walter. »Wir wollen das sehen, wir beide!«

Mathild umklammerte die Hand ihres Vaters. »Ich will bei dir bleiben.«

»Nein, Kind! Du und Walter! Das müßt ihr euch ansehen! Nach allem Sturm und Regen von gestern muß das so schön sein, wie ihr's vielleicht im ganzen Leben nicht wieder seht! Und Sie, lieber Walter –« Der alte Herr lachte. »Das ist der richtige Abend für Sie, zum frohen Einstand in den Scheidhof. Kind, da mußt du mitgehen! Tu's mir zuliebe! Wenn du mich nicht allein lassen willst, so ruf das Walperl! Doktor, bitte –«

Walter war schon bei der Tür: »Walperl! Schnell!«

Das Mädel, das vor der Veranda gestanden, kam gelaufen. »Herrgott, so an Abend hab ich noch nie kein' gsehen!«

»Hört ihr's, Kinder! So geht doch! Geht!«

Schweigend traten die beiden hinaus in die brennende Dämmerung. Als ihre Schritte verklangen, rief der alte Herr mit müdem Geflüster das Mädel zu sich. »Hinüber! In die Wohnstub! Und bring mir das Bildl, das über dem Sofa hängt.« Das Mädel rannte und brachte ihm das kleine, verblaßte Bild. Zwischen den verkrüppelten Händen hielt er es vor sich hin, gegen den roten Glanz gewendet, schob es unter die Kissen und ließ sich wohlig zurückfallen. »Mädel! Schau ein bißl – ob du die Kinder siehst!«

Das Walperl sprang zum Fenster. »Herrgott, is dös an Abend! Freilich, aus so a Nacht auffi hat ebbes kommen müssen, ganz ebbes Schöns!«

»Siehst du die Kinder?«

»Ja, da drent bei die Rosenbäuml, gleich hinterm Brunnen. Dös is schon 's richtige Platzl für so zwei! Ganz fuirig schauen s' aus. Und d' Welt is narrisch worden. Ferm brennen tut alles.«

Der feine Kies, der vor dem Fenster den freien Platz bedeckte, war anzusehen, als hätte man die Erde besät mit funkelnden Granatsplittern. Die Rosenbäumchen, der plaudernde Brunnen, die Fliederbüsche, das Laub der Ulmen, alles war verwandelt in Glut. Das rote Dach des Scheidhofes hatte flimmernde Ränder, der Bergwald war versunken unter purpurnem Glanz, und der Himmel erschien wie eine riesenhafte, brennende Halle, aus der die Feuerflocken herunterfielen – oder waren das glühende Rosen? – oder kleine Wolken, die im Entstehen zu Flammen wurden?

Walter, wie ein Trunkener, umklammerte Mathilds Hand. »Wir müssen auf die Wiese hinaus! Da sehen wir den Hohen Schein!« Sie wollte nicht folgen. Er zog sie an der Hand mit sich fort. Und als sie zur Wiese kamen, ging's noch wie eine Feuerwelle über die abgemähten Gräser hin: der letzte Flammenstrahl der Sonne, die in der westlichen Ferne hinuntertauchte hinter schwarze Wälder. Ihr Schwinden nahm dem Himmel keinen Schimmer seines Glanzes. Nur über die Sohle des Tales goß sich eine stahlblaue Schattenwoge, noch leuchtend, auch wo sie dunkelte. Wie Rauch, durch den die Gluten scheinen, schlang sich die warme Dämmerung um die Stämme der Bäume, um ihre Kronen. Gleich blauen Schleiern schwebten die Rätsel der kommenden Nacht hinauf in den purpurnen Glanz, der um den Bergwald träumte. Auf beiden Seiten des Tales senkten sich schwarze Klüfte in die steinernen Wände; alle Rippen und Grate der Berge fingen im tiefsten Scharlach zu glühen an; immer dunkler wurden die Wälder, immer blauer das Tal; doch gegen Osten stand in lachender Helle der Hohe Schein, so klar, so tagrein, so leuchtend schön, wie andere Berge nur sein können, wenn nach sternhellen Nächten ein strahlender Morgen kommt. Wortlos streckte Walter die Arme nach der Schönheit, die in der Ferne glänzte. Ihm war sie nicht fern, in seiner Seele war sie, in seinem Leben! Und hoch im glühenden Wald da droben der feine, silberschimmernde Streif? »Mein Weg! Mein neuer Weg!« Das war ein Wort wie ein Jauchzer. Nun ein Erlöschen seiner Stimme: »Mathild?«

Sie schien den zärtlich stammelnden Laut nicht zu hören. In Schauen versunken, saß sie auf einem Baumstock, das ernste, von der Glut des Abends überhauchte Gesicht nach dem Hohen Schein gewendet, die verschlungenen Hände im Schoß.

In Walters Erinnerung klang jenes Wort des alten Herrn: »Wenn sie am Abend im Garten saß, mit den müden Händen im Schoß, und still hinaufschaute zum Hohen Schein in seiner Glut, dann hab ich immer gewußt: sie betet!« Auch Mathild betete. Er wußte auch, für wen sie zu ihrem schönen, guten Gotte sprach. Und da hatte er nicht den Mut, zu ihr zu reden. Ohne sich zu regen, stand er an ihrer Seite. Und hätte sich doch am liebsten vor ihr niedergeworfen: »Du bist mir das Beste, das Herrlichste des Lebens! Du bist mein Tag, meine Ewigkeit, meine Liebe, mein Glück!«

Jener Irrsinn, der ihm ins Blut gefallen, war erloschen. Als wäre das nie gewesen. Kein Gedanke der Reue quälte ihn. Der willenlose Rausch einer Stunde, ein Irrtum seiner Sehnsucht? Das zählte nicht. Immer war die rechte Liebe in ihm gewesen, seit jener schimmernden Morgenstunde auf dem Hohen Schein, seit jenem ersten Abend, der ihm mit Glanz und Glut den Weiser seines Glückes ins Leben stellte, wie da draußen im purpurnen Dämmerrätsel das leuchtende Wunder dieses Berges stand! Was hatte sein Herz verbrochen? Nichts! Nur seine zwei linken Füße! Die hatten den Weg verloren. Und seine buchmüden Augen! Die sind blind gewesen eine Stunde. Ein Wunder, aus Schreck und Sorge geboren, hat sie sehend gemacht. Und da steht sein Glück vor ihm, noch schöner als aller Glanz dieses Abends! Vor seinen Füßen liegt der neue, reinliche Weg! Ein lachendes, arbeitsfrohes Leben! Und was er unter den Sohlen fühlt, das ist sein Grund und Boden, seine Ernte, seine Heimat, die Stätte seiner Arbeit, die Wohnstatt seines Glückes, sein kleines Königreich – das beste Gut der Welt!

Er hätte jauchzen mögen in dieser glühenden Stunde. Dennoch stand er schweigend, alle Zärtlichkeit seiner Liebe nur in den Augen, die an Mathilds schimmernder Wange hingen. Jetzt wußte er, welch ein Gefühl das ist: wenn in der Seele eines Mannes das Bild der Geliebten ruht, wie im Dämmerglanz eines schönen Abends die Welt um ihn her und der leuchtende Himmel!

Wie lang dieses Brennen und Glänzen währte! Als schon die eisengrauen Nebel hindampften über das tiefere Tal und die Grillen ihr Lied begannen, stand vor der Nacht, die aus blauen Schwingen heraufstieg aus der östlichen Tiefe, noch immer der Hohe Schein mit der leuchtenden Fackel seiner Zinne.

Unter den Ulmen, die am Saum der Wiese standen, glühte ein blaues Fünklein auf, das in Sehnsucht gaukelte. Im Dorf begannen sie den Abendgruß zu läuten.

Mathild deckte die Hände über die Augen. Da beugte sich Walter zu ihr nieder und wollte sprechen. Erschrocken sprang sie auf. »Der Vater!« Und eilte über die Wiese dem Haus entgegen. Ratlos stand er und sah sie im Dämmerlicht verschwinden. Der angstvolle Blick, den er in ihren Augen gesehen, war das nur Sorge um den Vater?

Nach aller Freude durchzitterte ihn plötzlich ein Gefühl der Unruh, ein Bangen um sein Glück. Er wehrte das von sich ab. War die Angst in Mathilds Augen nicht begründet? Kannte er denn die Gefahr nicht, die in der weißen Stube über einem kostbaren Leben schwebte? Wie hatte er dieser Gefahr vergessen, seines eigenen Glückes denken können?

Als er in den Flur trat, kam das Walperl aus der weißen Stube. »Stad, Herr Dokter! Schlafen tut er, und der Schlaf is ebbes Guts für kranke Leut.« Auf den Fußspitzen trat Walter in die Stube. Die Fenster waren geschlossen, doch der letzte Rotschein des Himmels strahlte noch in den dämmergrauen Raum.

»Er schläft ganz ruhig!« Mathild zündete lautlos auf dem Tisch eine kleine Lampe an und stellte ein Buch – den »Faust« – als Blende vor das Licht. Da bewegte sich der Kranke und tastete mit suchender Hand. Mathild beugte sich über ihn. »Vater, willst du was?«

»Du!« Er atmete erleichtert auf. »Gelt, nein, das ist nicht wahr?«

»Was, Papa?«

»Daß der Bertl den schwarzen Hasen geschossen hat?«

Mathild erschrak, und Walter trat mit raschem Schritt an ihre Seite.

»Gelt, nein, Kinder? Das ist nicht wahr? Die Hasen sind doch alle grau.« Ganz ruhig sprach er, einen Sorgenblick in den weitgeöffneten Augen. »Wenn der liebe Herrgott ein einzigs Mal einen schwarzen macht – es weiß kein Mensch warum – aber so was Merkwürdiges läßt man doch leben. Das bringt man doch nicht um. Das kann doch der Bertl nicht getan haben.«

»Nein, Herr Forstmeister!« sagte Walter. »So was tut Ihr Sohn nicht.«

»Gott sei Dank! Ich hab mir's aber gleich gedacht, daß der Sonnweber lügt. So ein braver Mensch! Und da lügt er mich auf einmal an wie ein erbärmlicher Lump. Aber weil's nur der Bertl nicht getan hat! Gott sei Dank!« Unter leisem Lachen schloß er die Augen wieder und atmete ruhig.

Verzweifelt sah Mathild zu Walter auf. Er nahm ihre Hand. Seine Stimme klang so herzlich, wie Mathild sie nie gehört hatte: »Keine Sorge! Papa hat nur geträumt und aus seinem Traum heraus geredet. Sehen Sie nur, wie gut er schläft!«

Sie ließ sich beruhigen.

Nach einer Weile ging Walter auf den Fußspitzen aus der Stube. »Ich hole nur einen Schirm für die Lampe.« Achtsam schloß er die Tür. Und sprang in die Küche. »Walperl! Lauf, was du laufen kannst! Und hol den Doktor! Er ist im Dorf, im Roten Hirschen!«

»Jesus!« stammelte das Mädel in Schreck und rannte davon.


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