Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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16

Ein Morgen kam, so ohnegleichen schön, daß die Langentaler, die im ersten Frühlicht zur Heumahd wanderten, immer schauen mußten. Freilich fanden sie für ihr Schönheitsgefühl keinen anderen Ausdruck als die praktische Meinung: »Heut gibt's a Heu, so hat's schon lang keins nimmer geben!« Nur ein junger Bursch, der auf der Straße mit drei anderen Heuern zusammengetroffen war, guckte vergnügt in alle Baumkronen und meinte: »So wie heut haben d' Vögerln noch nie net gsungen!« Er wandte sich an den alten Knecht, der neben ihm ging: »Bist gestern auch bei die Göthinger gwesen?«

»Na! Der Schlaf is mir lieber als so Komödisachen. Gflucht hab ich drauf. Z'mittelst in der Nacht haben s' mich aussipfurrt aus 'm besten Schlaf. So an Spitakel hat unser Bäuerin gmacht, weil 's Madl erst um halber zwei in der Fruh heimkommen is. Hat's denn so lang dauert, die Komödi?«

»Ja, die hat sich a bißl nauszogen!« sagte der junge Bursch mit heiterem Schmunzeln. »So ebbes Schöns hab ich meiner Lebtag noch net gsehen. Im Griechenland gfallt's mir.« Er lachte. »Da verzähl ich noch amal meine Enkerln davon.«

»Narr! Jetzt denkt der an d' Enkerln! Da mußt doch selber erst Kinder haben.«

»Dös bleibt mir net aus, mein' ich!« Das Hütl schwingend, jauchzte der Bub in den schönen Morgen.

Wie ein Riesenkegel aus blauem Stahl, dem alle Kanten glühend wurden, ragte der Hohe Schein in das Feuer der steigenden Sonne, die das ganze Tal entlang alle Bergspitzen mit Rosenglut überhauchte. War's dieser schöne Morgen, der die Menschen so fröhlich machte? Immer wieder hörte man von irgendwo einen Juhschrei klingen. Keiner von allen klang so hell wie der Jauchzer, der über die Baumkronen des Scheidhofes hinaufkletterte in die Sonne. Die Knechte und Mägde machten verdutzte Augen. »Was hat er denn heut, der Faz?« Sonst war es immer sein Morgenlied, mit einem strengen Wort die schläfrigen Ehhalten aus den Federn zu stampern. Heut lachte er die Knechte an, die eine Stunde verschlafen hatten. Und statt zu schelten, schrie er in seiner Freude wie ein Jochgeier!

Zwei Ohren gab es im Scheidhof, die den Jauchzer des Bonifaz nicht gerne zu hören schienen: die Ohren des braven Walperls, das heute schon zu außergewöhnlich früher Stunde in der Küche zu schaffen hatte. Erschrocken drückte das Mädel beim Klang dieses Jauchzers die Hände auf den eigenen Mund. »Jesus! Bub! So halt doch den Schnabel!« Als sie gleich darauf im Haus eine Tür gehen hörte, fuhr sie zusammen. »Da hast es! Jetzt hat er's Fräulen aufgweckt aus'm Schlaf!« An diesem Verbrechen schien sie sich mitschuldig zu fühlen. Statt dem Fräulen wie sonst entgegenzulaufen mit herzlichem Morgengruß, drückte sich das Walperl in den Herdwinkel.

Mathild ging zum Schlafzimmer des Vaters und lauschte an der Tür. Alles war still da drinnen. Also schlief der Vater noch. »Gott sei Dank!« In ihrem lichten Kleid, den Strohhut am Arm, trat sie in den Garten hinaus, um die Arbeit des Morgens zu beginnen.

Jetzt wagte sich das Walperl aus seinem Schlupf hervor. »Gleich gar nimmer anschauen trau ich mir 's Fräulen!« Sie drückte das brennende Gesicht in die Schürze und brach in Tränen aus – an einem Morgen, dessen Schönheit die anderen so fröhlich stimmte!

Zu denen, die dieser Morgen lachen und singen machte, gehörte auch Mathild nicht. Wo war die heitere Frische, mit der sie sonst im Frühlicht eines schönen Tages die Arbeit im Garten begann? Eine schmerzvolle Müdigkeit sprach ihr aus den heißen Augen. Und plötzlich ließ sie die Arbeit wieder ruhen und eilte über die Wiesen zum Weiher hinunter, wie ein Verfolgter die Freiheit seiner Ruhe sucht. Als sie den Stein erreichte, vor dem die Reseden und Levkojen blühten, atmete sie auf. Jetzt war sie nicht mehr allein in ihrer Qual. Sie ließ sich nieder, schmiegte die Wange an den kühlen Fels, und so saß sie regungslos, mit dem Lächeln eines leidenden Kindes, das die Stimme der Mutter hört. Ganz ruhig wurde sie, während sie hinausblickte über den im Morgenschatten träumenden Weiher und hinüber in den blauen Dämmer des Waldes, dessen Wipfel sich der kommenden Sonne entgegenstreckten.

Ein halblautes Lachen weckte sie. Die Lies stand vor ihr, mit der schwerbeladenen Kraxe auf dem gebeugten Rücken. »So, so?« sagte die Hirtin statt eines Grußes. »Du mußt kein lustiges Sinnieren net haben!«

»Lies!« stammelte Mathild. »Das war nur so, weil ich heut –«

»Brauchst mir nix sagen! So a Brocken Stein da droben, wann er sich rührt amal in hundert Jahr, da weiß er, warum. 's Harte und 's Linde, d' Finsternus und 's Licht, alls in der Welt is anandbunden mit eim festen Faderl aus unserm Herrgott seim Spinnradl. Macht er an Zuck am Schnürl, dös geht durch Wasser und Luft, durch Steiner und Leut!« Die Sennin kicherte. »Gelt, hast dich verschaut in den mit die zwei linken Füß? Und is er ebba davontappt auf eim krumpen Weg? Schaut ihm schon gleich, dem! Zwei linke Füß, zwei blinde Augen und a dicks Buch dazu!«

»Schweig, Lies!« Mathild erhob sich in Zorn. »Warum sprichst du so abscheulich von ihm? Was hat er dir getan?«

»Mir? Nix. Aber d' Neugier plagt mich, wie's dir aussigeht, dein Kunststückl vom ewigen Glück?«

Mathild wandte sich schweigend ab und wollte gehen.

Die Lies faßte den Arm des Mädchens. »Wirst doch net harb sein auf mich? Der Mensch redt, wie er muß.« Sie stellte die Kraxe nieder. »Komm, hock dich her zu mir! Ich muß dir ebbes verzählen.« Neben dem Stein, zu Füßen einer Buche, setzten sie sich nieder. »Jetzt hab ich a bißl ebbes aussikitzelt! D' Stern sind keine Lichter, d' Stern sind Steiner. Dös hab ich aussibracht.«

Mathild schüttelte den Kopf. »Die Sterne sind Sterne. Wem sie leuchten, dem sind sie Trost und Freude.«

»D' Stern sind Steiner!« wiederholte die Sennin. »Jetzt hab ich's derpackt. Mit die himmlischen Sterndln is mir's gradso gangen wie mit die irdischen Lichtln. Sooft ich a Fensterl glanzen hab sehen in der Nacht, hab ich mir allweil denkt: da hocken jetzt wieder zwei beinand in der Freud! Bin ich drauf zugangen und hab einigschaut, so hab ich a Kammerl voll Elend gsehen. Und gestern auf d' Nacht, da hock ich vor der Hütten und schau, wie's glanzt da droben, und denk mir allweil: da droben muß 's Glück hausen, weil's auf der Welt kein' Platz hat, und da droben muß alles von Gold sein! Da macht's an Sauser in die Luft, und gahlings fallt a Sterndl abi gegen meiner. Gnau hab ich mir den Platz gmerkt, wo's einigrumpelt is in Almboden. Im Wasen is an Endstrumm Loch gewesen. Ich denk mir schon, jetzt hab ich an Brocken Gold, und fahr eini mit der Hand. Ja, Schnecken! Die Pratzen hab ich mir verbrennt. Und mein Sterndl is a Kohlstein gwesen. Da, schau her!« Sie zog aus der Rocktasche einen faustgroßen schwärzlichen Klumpen und hielt ihn auf der Hand. »Kannst ihn schon anrühren, jetzt brennt er nimmer.«

Ohne den Stein zu berühren, betrachtete Mathild den von schwarzen Schlacken umkräuselten Meteoriten. »Das ist kein Stern, Lies, das ist Weltenstaub, der in Sehnsucht umherfliegt. Asche vernichteter Sterne, sagt Papa, und Bausand für neue Sonnen.«

»So? Steht dös ebba in dem dicken Buch?«

Schweigend blickte Mathild über den Weiher hinaus, in dessen Klarheit sich das zu Gold verwandelte Grün der Wipfel spiegelte.

Die Hirtin kratzte mit dem Daumennagel an ihrem »Stern« und roch an ihm. »Nix als Ruß und Kohlstein! Z'erst plagst dich wie a Narr. Und bringst ebbes aussi, so is nix dahinter. Da herunt is alls a Schmarren, und droben is auch nix! Überall 's gleiche! Fahr zum Tuifi!« Mit diesem Segenssprüchlein schleuderte sie den Meteoriten in den Weiher hinaus.

Das klatschte, als wäre eine große Forelle aufgesprungen. Mit feuchten Augen betrachtete Mathild die Wellen, die in Ringen auseinander liefen. »Sein dickes Buch. Und mein goldener Stern.«

Lies legte den Arm um die Schultern des Mädchens, und ihre rauhe Stimme fand einen zärtlichen Klang: »Ich sag dir ebbes. Vor dreißig Jahr amal, da hab ich ein' gern ghabt, daß ich gmeint hab, d' Seel verbrennt mir. Und heut, wann er im Dorf an mir vorbeischnauft, sag ich: ›Grüß dich, Franzl, gehst holzen?‹ Alls verheilt sich, und Gras wachst über alles. Über an Burgermeister auch, wann er einigraben wird amal. Schau mich an! Was hab denn ich? Aber du! Hast net dein Musigspiel? Hast net dein' Garten? Hast net dös Platzl da? Und daheim dein' Vatern? Was willst denn mehr? Hast eh 's Allerbest!«

»Ja, Lies! Ich danke dir!« Mathild erhob sich. »Komm! Ich will heim, zu Papa, und zu meiner Arbeit.«

Als die Hirtin das Tragpolster auf ihren Scheitel legte und mit den Armen in die Riemen der Kraxe schlüpfte, klang von der nahen Straße das Gerassel eines Wagens und das Gejodel einer kraftvollen Stimme:

»Hinterm Hüttel, hinterm Haus
Grasen hundert Hasen,
Jeder sucht sich 's Beste aus,
Jeder findt sein' Wasen!
Guckt der Jager aus'm Haus,
Laß di net derschrecken!
Huschla, Haserl, hinters Kraut,
Huschla. hinter d' Hecken!«

Verwundert sperrte die Lies ihre grauen Mausaugen auf. Es war nicht das erstemal, daß sie den Bonifaz singen hörte. Aber wie kam der verstandsame Mensch zu dem dummen Kinderlied? Der Faz! Und jodelt wie ein Hüterbub! »Der tut ja, als hätt ihn der Scheidhofer einigsetzt ins Testament!«

Da kam das Walperl gelaufen, atemlos. »Gottlob, Fräulen, daß ich Ihnen derwischt hab! Gschwind kommen S' heim! Der Herr hat so an Wehdam am Knie und kann sich schier nimmer rühren.«

»Jesus!« stammelte Mathild und eilte gegen den Scheidhof hinauf. Die Lies mit ihrer schweren Kraxe blieb zurück. Auch dem Walperl gelang es nicht, mit Mathild gleichen Schritt zu halten. Sonst war sie von den Langsamen keine. Doch während sie hinter dem Fräulein herrannte, mußte sie immer hinunterlauschen gegen die Straße, von der das Gejodel des Bonifaz heraufklang.

Der brachte eine Ladung Sägblöcke gefahren und knallte, als er am Scheidhofer Tor vorüberlenkte, mit der Peitsche einen ganzen Ländler herunter. Dann schwang er sich auf den Wagen und ließ die Pferde gegen das Dorf traben, als hätten sie nicht schwere Baumblöcke hinter den Strängen, sondern eine leichte Kutsche. Die Pferde dampften, und in der Sonne glitzerte der Schweiß an ihren Hälsen, als Bonifaz in den Hof der Sägmühle fuhr. »No, no, no, pressiert's denn gar so?« rief Bertl, der im Garten war.

»Ja!« Bonifaz lachte. »Heut hab ich noch allweil Griechische im Blut.« Unter einem Jauchzer ließ Bonifaz die Peitsche knallen und fuhr zur Mühle hinüber.

Nachdenklich guckte Bertl hinter ihm her. »Wenn's den packt hat, soll's mich net packt haben?« Die Hände hinter dem Rücken, nahm er seine sinnierende Promenade zwischen den Blumenbeeten wieder auf. Vor einer langen Rabatte roter Nelken, deren Blüten wie talergroße Blutstropfen zwischen dem Grün der Blätter hingen, blieb er stehen und sah einem Zitronenfalter zu, der von einer Blüte zur anderen gaukelte und aus jeder den Honig sog. »Der hat's gut!« Da hörte er über der Hecke einen leichten Schritt. Das Nannerl war's, mit einem Körbchen am Arm. »Wohin denn?«

»Zum Kramer muß ich eini.«

Bertl wars einen spähenden Blick zum Haus hinüber. »Wart a bißl!« Er brach von den Feuernelken einen dicken Strauß, den er mit einem langen Grasstengel zusammenband. »Vom Kramer kannst a Sprüngl ins Wirthaus machen. Da fragst nach'm Fräulein Philinerl, gelt! Und gibst ihr dös Sträußl!« Er lachte. »Brauchst net sagen, von wem! Sagst halt: von einem begeisterten Kunstverehrer! Verstehst?«

Nannerl nickte. Das Verständnis glänzte ihr aus den Augen. Wie hätte sie nicht begreifen sollen, daß man solche Kunst verehren mußte! Nur die Adresse leuchtete ihr nicht völlig ein. Andere hatten »ihr Sach« doch hundertmal besser gemacht als das Fräulein Philinerl! Nachdenklich verwahrte sie den Strauß in ihrem Körbl und huschte davon. Je näher sie dem Dorfe kam, desto heißer glühte ihr Gesicht. Wie dankbar sie der Sägmüllerin war für diesen Weg zum Krämer! Jetzt konnte sie das frohe Gelübde erfüllen, das sie getan hatte. Das mußte von allen Besorgungen die erste sein. Das Heilige geht allen irdischen Geschäften voran.

Bei der alten Hauserin, die dem Kaplan die Wirtschaft führte, gab es geweihte Kerzen zu kaufen. Ehe das Nannerl eintrat, tat es auf Vorsicht einen Blick in den kleinen Geldbeutel. Sechzig Pfennig waren drin, ihr ganzer Reichtum. Während sie nachzählte, bekam sie einen Puff. Der alte Peterl, der von der Haustür kam, hatte sie mit dem Ellbogen aus dem Weg geschoben. Die Haustür war offen geblieben, und im Flur stand Innerebner vor seiner Hauserin, mit einem rosafarbenen Briefchen in der Hand, das er zu öffnen zögerte. »O Jegerl«, dachte das Nannerl beim Anblick dieses müden, bleichen Gesichtes, »der muß krank sein!« Freilich, der Herr Kaplan war schon gestern nicht recht beim Zeug gewesen. Ein gesunder Mensch, dem das Glück eine Reise ins liebe Griechenland und zu den treuen Menschen mit den blauen Mänteln vergönnt, der läuft doch nicht davon, wenn's am schönsten wird!

»Und wer den Brief da schickt? Hat er das nicht gesagt?«

Die Hauserin erwiderte: »Na, dös hat er net gsagt, der Peterl.«

Innerebner machte eine Bewegung, wie um der Hauserin den Brief zurückzugeben. Dann riß er ihn auf und trat in die Stube.

»Was willst, Madl?« fragte die Hauserin.

»A Kerzl möcht ich haben! Gut gweiht muß's sein! Von die schönsten eins.« Mit frommem Seufzer fügte das Nannerl noch bei: »Für a Verlöbnis brauch ich's.«

Die Alte ging dem Mädel in ihre Stube voran. Die sah zur Hälfte aus wie ein unfreundlicher Wohnraum, zur Hälfte wie der Kramladen eines Wallfahrtsortes. In einem Glaskasten standen Gebetbücher; Rosenkränze hingen neben kleinen silbernen Leuchtern; von Heiligenbildern lag ein ganzer Stoß mit dünnen Rähmchen aufgeschichtet, und an Wandbrettern hingen in Reihen die wächsernen Hände und Füße, die wächsernen Engelchen und Wickelkinder. Von dem vielen Wachs war in der Stube ein Geruch wie in einer Totenkammer.

Das Nannerl sah nur die Kerzen, die in langer Reihe auf Dornen staken, ganz kleine dünne für ein Zehnerl bis zu den großen dicken für eine Mark. Bescheiden wählte das Nannerl für sechzig Pfennig eine mittelgroße, um die sich ein Rosenkränzl aus Wachs herumwand. Dann flink hinüber in die Kirche. Da war es still. Mit zerflossenen Strahlenbändern glänzte die Sonne durch die verstaubten Fenster herein. In scheuer Andacht trat das Nannerl vor einen Seitenaltar, der ein Bild der Gottesmutter mit dem Kinde trug. An einem Flämmchen, das in rotem Glase zitterte, zündete sie das wächserne Kerzl an und steckte es brennend auf den Verlöbnisleuchter. »Vergeltsgott halt, weil alls so gut nausgangen is im Griechenland!« Dann kniete sie nieder. Während sie die Litanei zur gottseligen Jungfrau betete, gossen die Nelken, die im Körbl waren, eine Wolke süßen Duftes um sie her. Als sie die Kirche verließ, besprengte sie das Gesicht mit Weihwasser. Dann hinüber zum Roten Hirschen. Die Kellnerin machte verdutzte Augen, als das Nannerl nach dem »Komödi-Fräulen« fragte. »Weißt, dös Engerl, dös uns alles ausdeutscht hat.«

»Grad wie der Peterl kommen is, sind s' dagwesen alle drei. Aufs Kapellenbergl haben s' auffi wollen. Ich weiß net, sind s' schon davon, oder sind s' noch droben im Komödistadl. Mußt halt auffischauen.«

Das Nannerl zögerte mit brennendem Gesicht. Dann stieg es tapfer die steile Treppe hinauf zum griechischen Heiligtum. In dem großen, dusteren Bodenraum sah es ungemütlich und gar nicht griechisch aus. Nannerl hatte nur Augen für die offene Bühne, die im Licht eines Dachfensters lag und noch den grünen, von Rosengirlanden durchzogenen Park und das weiße Tempelchen von gestern zeigte. Auf den Stufen des Tempels saß einer, der heut mit seinem kurzfrisierten bildhübschen Kopf noch schmucker aussah als gestern mit den falschen Locken und im blauen Mantel. Auf den Knien hatte er ein offenes Buch, aus dem er mit geschraubtem Pathos die Werbung des Fabrice aus den »Geschwistern« memorierte: »Soll ich eine lange Rede halten? Soll ich Ihnen hinschütten, was mein Herz so lange bewahrt? Ich liebe Sie, das wissen Sie lange. Ich biete Ihnen meine Hand an. Das vermuteten Sie nicht?« Nein, wirklich, das hätte das Nannerl sich niemals träumen lassen. Noch leidenschaftlicher schraubte Willy Meister seine Stimme: »Ich habe Sie erkoren, mein Haus ist eingerichtet, wollen Sie mein sein?« Das Nannerl fing zu zittern an, und ein heißer Wirbel ging ihr durch Kopf und Blut. »Widerstehen Sie nicht! Sie können kein reineres Band denken! Öffnen Sie Ihr Herz! Ein Wort –«

»Jesusmaria!« stammelte das Nannerl.

In seiner gefühlvollen Rede verstummend, hob Willy Meister das Gesicht. Auf den ersten Blick sah er im Duster des Bodenraumes nur was Weißes: die schön gebügelte Leinenschürze, die das Nannerl trug. Seine Neugier schien geweckt. Er legte das Buch auf die Tempelstufen, sprang über die Rampe und betrachtete verwundert das junge, schmächtige Ding, das in der einen Hand das Körbl und in der anderen mit Zittern die roten Nelken trug. »Was machst du denn da, du kleines Kerlchen?« Das Nannerl brachte keinen Laut heraus. »Na, Kleine, bist du denn stumm und taub? So sag doch, was du hier –« Er unterbrach sich und guckte. Trotz des Zwielichtes, das wohlmeinend seine grauen Schleier um das Nannerl webte, war dem Schlanken der heilige Glanz dieser großen Kinderaugen aufgefallen. Eine Erinnerung erwachte in ihm. »Du! Komm mal her!« Er zog das Nannerl ins Licht einer offenen Dachluke. »Richtig! Bist du nicht gestern in der ersten Reihe gesessen?«

»Vergeltsgott, ja!«

Immer aufmerksamer betrachtete Willy das feine, glühende Mädchengesicht. Dann lachte er. »Ihnen scheint ja der alte Herr aus Weimar ganz kolossal gefallen zu haben?«

In Gedanken fragte das Nannerl: »Was für an Alten meint er denn?« In dem schönen Stück war kein alter Mann vorgekommen.

»Na, sagen Sie doch, hat's Ihnen gefallen?«

Weil er so freundlich ihre Wange streichelte, bekam sie Mut. »So viel schön is's gwesen! Und der alls zum Guten hat nausgehn lassen? Gelten S', der seids Ös gwesen?«

Der Schlanke machte verdutzte Augen. »Wer soll ich gewesen sein?«

»Der treue Phyladexl.«

»Weeer?« Ehe Nannerl die Antwort wiederholen konnte, begriff er und schlug ihr lachend den Arm um die Schultern.

Das Nannerl erglühte im Gefühl der Ehre, die sie vom treuesten aller Menschen erfuhr. »Gleich hab ich Ihnen wiederkennt, wenn S' Ihnen heut auch d' Haar haben stutzen lassen.«

»Wirklich?« Er lachte wieder. »So gut hab ich Ihnen gefallen?«

»Wenn eins treu und rechtschaffen is, dös muß eim gefallen!«

»Du bist ein reizendes Mädel!« Er rüttelte zärtlich ihre Schulter. »Und weil ich dir so gut gefallen habe, bringst du mir die Nelken da?«

In Schreck gedachte sie ihres Auftrages. »Um Gotts willen! Dö Nagerln ghören fürs Fräulen Filamin.«

»Oh?« Er zwirbelte sein hübsches Bärtchen. »Das soll wohl heißen: Philine? Das niedliche Philinchen hat also einen Verehrer?«

»Ja!« beteuerte das Nannerl gewissenhaft. »Ganz an begeisterten.«

»Wer ist denn das?«

»Unser Herr hat gsagt, daß ich's net verraten darf.«

»Wer ist denn dein Herr?«

»Der Herr Ehrenreich in der Sägmühl draußt.«

»Also wohnst du in der Sägmühle? Hinter dem Dorf? In der schönen Waldschlucht?«

»Gelten S', ja, bei uns is schön!«

Er legte ihr freundlich die Hand unter das Kinn. »Wie heißt du denn?«

»Nannerl.«

»Also, Nannerl, gib her!« Willy Meister nahm ihr die Nelken ab und legte den Strauß auf eine Bank. »Ich will das besorgen. Der genialen Künstlerin darf es nicht verschwiegen bleiben, wie sehr sie gefällt.« Lachend schlang er wieder den Arm um das Nannerl. »Aber sieh mal, du liebes kleines Kerlchen: wenn die feine Philine von ihrem Verehrer einen so schönen Nelkenstrauß bekommt, da solltest du mir auch was schenken als Zeichen deiner Verehrung?«

Bei allem Glanz, der in ihren Augen strahlte, lächelte sie verlegen, fast traurig. »Enk tät ich alles geben. Aber haben tu ich halt nix.«

»Du hast viel mehr zu verschenken, als du ahnst!« Er preßte sie an sich.

»Mar' und Josef!« Erschrocken wollte Nannerl sich auf seinen Armen winden. Während sie sich stammelnd wehrte, bedeckte er ihren Mund mit Küssen. Der Trunk, den er von diesen kindlichen Lippen stahl, machte den Durst seiner Sinne brennen. Diese Glut umflammte das hilflose, unberührte Geschöpf. Dem Nannerl wurde der taumelnde Wille schwach. In Angst und Seligkeit überließ sie sich dieser brennenden Zärtlichkeit. »Ach, du! So süß wie du ist keine!« flüsterte er unter Küssen und Küssen. »Dich will ich! Alles sollst du haben von mir! Sollst meine Freude sein, mein heimliches Glück! Und heute nacht, um zehn Uhr, hörst du, da komm ich und warte auf dich bei der Mühle im Wald.« Er küßte und küßte. »Da mußt du kommen! Du mußt! Ich will es!«

Das Nannerl riß sich aus den Armen des treuen Griechenjünglings, raffte verstört das Körbl auf und stürzte zur Tür. Willy Meister, der das Mädel haschen wollte, vertrat den Strauß der duftenden Nelken, der von der Bank auf die Diele gekollert war.

Auf der Straße, im Glanz der schönen Sonne, blieb das Nannerl stehen. Sie sah keine Türe, kein Fenster, kein Dach. Alles wirbelte vor ihrem Blick. Mit dem Nannerl ging es, wie es am Theaterabend mit dem häßlichen Wetter gegangen war. Mit Glanz und Schimmer war der wunderbare Goldregen in den grauen Abend gefallen. So schön und leuchtend fiel nach allem Schreck das lachende Glück in dieses sehnsuchtsvolle, junge Leben. Ein Wunder war es! Weil sie für die geweihte Kerze ihr Letztes gegeben, drum hatte ihr die Gottesmutter das Allerbeste geschenkt. Der brävste und schönste aller Menschen, der treue Phyladexl mit dem goldenen Herzen und dem blauen Mantel! Der war dem Nannerl gut! Hat es denn auf der Welt in sechstausend Jahren, so weit der kleine Katechismus zählt, schon einen Menschen gegeben, so reich, wie das Nannerl in dieser Stunde geworden? Am liebsten hätte sie auf der Straße jedem Kind ihr blaues Glück erzählt. Und als der Kaplan über die Straße kam, lief das Nannerl auf ihn zu und küßte ihm die Hand mit dankbarer Andacht. Er war es, der die wächserne Kerze geweiht hatte!

Innerebner zog die Hand zurück, als wäre der Kuß dieses Glückskindes für ihn ein Gefühl des Unbehagens. So rasch, daß die Falten seines Talars rauschten, ging er davon. Eine steinerne Blässe lag auf seinem Gesicht, seine Augen brannten wie im Fieber. Jeder Mensch, der ihn grüßte, schien ihm wie eine Qual in den Weg zu springen. Zwischen Ställen und Scheunen bog er in ein enges Gäßchen ein, um aus dem Dorf zu kommen. Über die Wiesen hinüber. Als ihn der Schatten des Waldes umfing, blieb er stehen und starrte den Fußpfad an, der durch den Wald hinaufführte. In seiner Seele schien es zu schreien: »Geh nicht! Dieser Weg ist dein Elend!« Es zog ihn wie mit Ketten. Bei einer Biegung des Weges blickte er in den webenden Zauber des Waldes. Aller Sturm, der ihn erfüllte, wurde ruhiger. Durch die Lücken der Baumkronen sah, wie ein lächelndes Geheimnis, der Himmel mit hundert blauen Augen auf ihn nieder. Die Blätter lispelten ein feines Lied, und duftender Friede umwob die silbergrauen Stämme der Buchen. Eine Amsel schlug.

Innerebner preßte die Hand über die Augen. »Das hab ich nie verstanden!« Er konnte sich nicht satt hören an diesem süßen Klang. Als die Amsel verstummte, folgte er wieder dem Weg. Der führte zu einer lichten Höhe, die wie ein Garten der wilden Blumen war. Am Saum des Pfades wucherten hohe Distelstauden, um deren violette Blütenköpfe dichte Schwärme von Perlmutterfaltern ihre gaukelnden Spiele trieben. Und zu Dutzenden saßen sie eng beisammen auf den stachligen Knospen und sonnten ihre Flügel. Sie alle waren Kinder dieses schönen Morgens, die gestern noch in der Puppe geschlummert hatten. Der Durst nach den Süßigkeiten ihres kleinen Lebens war noch nicht erwacht in ihnen. Sie wußten noch von keiner anderen Freude, als in der Sonne sich zu wärmen und bei einem ersten spielenden Flug ihre Schwingen zu versuchen. So unerfahren waren sie, daß sie keine Scheu vor dem Menschen hatten, der ihre gaukelnden Wege kreuzte. Sie flogen ihm gegen die Brust, auf die Schultern, an die Hände, ins Gesicht. Innerebner verscheuchte sie nicht. Er lächelte, als empfände er die junge Torheit dieser geflügelten Sonnenkinder wie eine Zärtlichkeit.

Träumerisch rauschte ein Bach, der unsichtbar durch eine tiefe Schlucht sein Wasser hinunterwarf. Und leise pisperten die Meisen am Waldsaum, in dessen Schatten die weißen Mauern einer Kapelle leuchteten. Ruhig, tiefen Glanz in den Augen, als wäre er in diesem blühenden Frieden des Waldes ein anderer geworden, ging Innerebner auf die Kapelle zu und trat in die offene Tür. Ein kühler, dämmriger Raum. Die erblindeten Fenster ließen so wenig Licht herein, als wär' es draußen schon Abend geworden. Wie ein rotes Sternchen flackerte das Ewige Licht vor dem mit Votivgeschenken behängten Altar. Drei alte graue Betstühle, von den Holzwürmern zerfressen. Auf der letzten Bank saß Mariane im weißen Kleid, das Spitzentuch um das schwarze Haar gelegt. Ihre verschlungenen Hände ruhten im Schoß. Wie schön sie war! In dieser stillen, andächtigen Versunkenheit! Trotz aller Ruhe, die Michael Innerebner auf dem blühenden Weg gefunden hatte, schlug ihm nun doch das heiße Blut ins Gesicht. Bei seinem Schritt, der auf den Steinplatten hallte, erwachte sie, sprang erschrocken auf und stürzte an ihm vorüber ins Freie. »Fräulein!«

Zwischen den Disteln blieb sie stehen, umgaukelt von den schimmernden Faltern.

Schweigend sah er sie an. Da kam sie langsam näher. »Verzeihen Sie! Ich bin eine Närrin. Hier ist kein Beichtstuhl, vor dem ich erschrecken müßte. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, daß Sie noch kommen würden. Als Sie so plötzlich vor mir standen –« Sie blickte scheu an ihm hinauf. Dann streckte sie ihm rasch die Hand hin. »Ich danke Ihnen, daß Sie kamen!«

Ihre Hand nahm er nicht. Aber es war ein weicher Klang in seiner Stimme, als er sagte: »Warum haben Sie mich gerufen?«

»Haben Sie das aus meinem Brief nicht herausgelesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht kommen sollen. Aber ich konnte auch nicht daheim bleiben. Seit gestern weiß ich, daß ich Ihnen unrecht getan habe. Ihnen und den anderen!«

»Gestern? Da sind Sie doch davongelaufen!« Sie lachte ein wenig. »Aus Empörung über den Heiden Goethe?«

»Nein. Aus Schreck und Scham.«

»Das versteh ich nicht.«

Er hob das Gesicht. »Sie sind nicht die Komödiantin, die ich in Ihnen vermutete. Sie sind eine Künstlerin, die aus Gottes Hand ein kostbares Geschenk empfing.«

»Das gottbegnadete Talent! Ein Wort wie ein Pfennig, für den man wenig kauft.« Es zuckte spöttisch um ihren Mund. »Ich habe mir Besseres von Ihnen erwartet.«

Ratlos stand er vor ihr. »Was könnte ich Ihnen geben?«

»Das Wort, das ich zu hören hoffte.« Jetzt war es wieder der scheue, sanfte Klang, mit dem sie begonnen hatte. »Ein Wort, das mir heraushilft aus dem Sumpf meines Berufes, ein tröstendes Wort für mein Leben, das mir unerträglich wird.«

»Um Gottes willen! Fräulein!« stammelte er erschrocken. »Wie können Sie nur so sprechen! Sie! Jung, schön, ein Liebling des Schöpfers!«

»Schale! Ich will Ihnen den Kern zeigen, der bitter ist. Und wenn Sie mein Leben kennen, wollen Sie mir dann raten?«

»So gut ich es vermag. Obwohl ich nicht weiß, wodurch gerade ich Ihr Zutrauen verdient habe. Ihr Vater, Ihre Mutter –«

Sie hob mit wehem Blick die schönen Augen. »Ich bin eine Waise, einsam und schutzlos.«

»Ach! Sie haben keinen Menschen, dem Sie vertrauen dürfen? Keinen?«

Mariane schüttelte den Kopf.

»Ich wäre der erste?«

»Ja.«

»Warum gerade ich?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht, weil Sie streng sind. Und doch auch gut! Das hab ich empfunden, als ich bei Ihnen war. Es war töricht von mir, daß ich mich durch ein Gefühl, vor dem ich selbst erschrak –« Sie unterbrach sich und senkte die Augen.

Sein Gesicht brannte. »Nein! Ich bin nicht gut. Ich bin es nie gewesen. Wenn ich jetzt fühle, wie schön das sein muß: Güte haben und Mensch sein – dann hab ich das erst gelernt. Gestern. Von Ihnen!«

Sie betrachtete ihn mit einem merkwürdig forschenden Blick. Dann wandte sie sich plötzlich ab. Bei der Kapelle, am Saum des Waldes, stand eine alte Buche, zwischen deren Wurzeln sich die Buckeln des Grundes wie grüne Bänke heraushoben. Sie ging hinüber. Da fiel ihr das Rauschen auf, das aus der Tiefe kam. Nur ein paar Schritte brauchte sie zu gehen, um hinuntersehen zu können in die dunkle Schlucht, zwischen deren steilen Wandstürzen das weiße Wasser brodelte. Sie beugte sich vor und lachte. »Die Bäume in der Sonne. Und da drunten die kalte Tiefe. Nur ein Schritt zwischen Tod und Leben!« Da fühlte sie eine klammernde Hand an ihrem Arm. Und Innerebner stammelte mit blassem Gesicht: »Fräulein! Hier im Schatten ist feuchter Grund. Jeder Schritt ist gefährlich.«

Mariane schien nicht gleich zu verstehen. »Ach so! Sie meinen, es könnt ein Unglück geben?« Gleichgültig zuckte sie die Achseln. »Dann hätt ich Ruhe!«

In Schreck und Trauer sah er sie an. »Wie undankbar sind Sie gegen den Schöpfer, der Ihnen so vieles gab.«

»Dazu ein Leben ohne Glück, ohne Freude!« Sie ließ sich nieder. »Warum stehen Sie? Neben einem Mädchen zu sitzen, das der Schöpfer so reich beschenkte, halten Sie das vielleicht für Sünde?«

Er setzte sich an ihre Seite. »Sagen Sie mir alles von Ihrem Leben!«

»Was ich zu erklären habe, wird Ihnen nicht gefallen. Sie werden in eine Welt hineinschauen, von deren Häßlichkeiten Sie noch nie gehört haben.« Mariane brach eine Blume, während sie müd zu erzählen begann. Ihre Mutter wäre das Kind armer, aber rechtschaffner Leute gewesen, schon in frühester Jugend von auffallender Schönheit, und von einer Grazie, die jeden bezauberte. Die geborene Tänzerin. Warum soll man nicht werden, wozu man geboren ist? Der Tanz ist auch von den holden Künsten eine. Soll man ein Talent nicht ausbilden, das uns der liebe Gott gegeben? Man kann auch als Tänzerin tugendhaft bleiben. Nur schade, daß es Menschen gibt, die gegen alles, was Unschuld heißt, einen Widerwillen haben. Das sind immer solche, die alle Macht des Lebens besitzen. Dazu das nötige Kleingeld, um sich jede Freude zu kaufen. »Gold! Gold! Geraubte Sonnenträne! Zum Fluch geworden für die Welt!« Nur wahre Tugend überwindet diesen Fluch. Doch wo das Geld nicht siegt, wo alle Verführungskünste versagen, fällt ein junges, reines, unerfahrenes Herz dem eigenen Gefühl zum Opfer. »Du süße, holde Seligkeit der ersten Liebe! Jeder Erdenfleck ein Himmel ohne Grenzen, jede Regung der Seele ein jubelnder Schrei!« Wie bitter das Erwachen, wie qualvoll die Erkenntnis, daß alle Glut des liebenden Herzens verschwendet war an einen Unwürdigen! Und wenn das arme, verlassene Geschöpf die kummervollen Nächte weinend auf seinem Bette sitzt? Was es leidet in solchen Stunden, das weiß nur, wer die Sehnsucht kennt. Und unter dem zuckenden Herzen ein keimendes Leben, schuldlos und doch mit Fluch beladen, ein Kind der Schande. »Entsetzlich!« Mariane grub das Gesicht in die Hände.

Wortlos machte Innerebner eine Bewegung, um die Trauernde aufzurichten. Er wagte nicht sie zu berühren.

Sie hob das Gesicht. »Wie schön ist die Welt, wie häßlich das Leben! Der Fluch, den eine schwache Stunde geboren, ging seine grausamen Wege. Wie hätten die alten, rechtschaffenen Eltern die Schmach der Tochter überleben können! Wohl drückten sie schützend das Enkelkind an ihre treue Brust. Doch ihre Tage waren gezählt, ihre Herzen gebrochen. Zuerst zog es den guten Großpapa hinunter in die ewige Nacht, dann die liebe Großmama. Und am gleichen Tag, an dem die Schollen polterten auf ihrem Sarg, umklammert das Theater die trauernde Tochter mit den Zangen ihrer Pflicht. Das Herz blutet, aber das geschminkte Gesicht der Tänzerin muß lachen. Sie darf ihr Brot nicht verlieren, um ihres Kindes willen! Das Theater ist ausverkauft, Kopf an Kopf, man staunt und jubelt. Ein herrliches Feenspiel. ›Exzelsior‹! Eine Allegorie des siegenden Lichtes. Rosiges Gewoge füllt die Bühne. Nackte Arme, halb entblößte Brüste. Und die Luft ist bevölkert mit geflügelten Genien, deren Silberkronen im Glanz des elektrischen Lichtes schimmern. Da übertönt ein gellender Schrei die liebliche Musik. Etwas Weißes stürzt aus den Lüften. Eine Flugmaschine hat versagt, und die arme Tänzerin liegt mit zerschmetterten Gliedern auf der Bühne.«

Innerebner umklammerte Marianens Hand. »Fräulein! Kann es denn solche Dinge geben in der Welt?«

»Solche Dinge läßt der Himmel zu!« Sie lachte grell. »Der schöne blaue Himmel da droben! Mit seinem gütigen, allmächtigen Gott!«

Es lag ihm ein Wort auf der Zunge, um dieser Lästerung zu wehren; er brachte es nicht über die Lippen.

Mariane entzog ihm ihre Hand. »Ich war ein Kind! Hätt ich mein Unglück ermessen können? Wie verlassen ich war, das ahnte ich nicht. Mutter, Mutter, rief ich immer. Und hatte Hunger!«

»Ihr Vater erbarmte sich nicht?«

Wieder lachte sie. »Der? Mich kennen? Der hatte seine Millionen verpraßt und eine reiche Frau genommen. Wenn er auf der Straße an mir vorüberfuhr in seiner blitzenden Equipage, deren Schlag sein Wappen mit der neunzackigen Krone trug, dann spritzten die Räder den Straßenkot auf mein reinliches Kleidchen. Aber es gibt noch gute Menschen auf der Welt. Selten sind sie. In unscheinbarem Kittel gehen sie umher. Und wo die Not am höchsten ist, da sind sie am nächsten. Ihr fühlendes Herz ist der Gott des Lebens. Ein braver Theaterarbeiter, der selbst mit Weib und Kindern zu darben hatte, erbarmte sich der verlassenen Waise.«

»Gott segne diesen Menschen!« stammelte Innerebner.

Mariane hatte sich abgewandt, blickte zum Wald hinüber und spähte über den Weg hinunter, auf dem zu Hunderten die Falter gaukelten. Dann lehnte sie sich an den Stamm der Buche zurück. Und erzählte wieder.

»Bei diesem braven Manne hatte das kleine Marianele wieder eine Heimat. Was half ihr der bescheidene, warme Herd? Das Leben des Theaterkindes war dem Theater verfallen, der alte Fluch sollte sich auch an ihr erfüllen, jener Fluch, der aller weiblichen Schönheit anhaftet, wie eine Wespe an der süßen Birne hängt. Als erste Rolle spielte sie den ›lieblichen Knaben‹, dem der eigene Vater den Apfel vom Lockenköpfchen schießt. Sie gefiel, sie hatte Freude am Erfolg, war stolz auf ihren Beruf, begann sich als Künstlerin zu fühlen und dankte dem Himmel, daß es ihr vergönnt war, dem braven Manne, der sein karges Brot mit ihr geteilt hatte, vom silbernen Lohn ihrer Erfolge wieder ein ›Scherflein‹ abtragen zu können. In der Stickluft des Theaters entwickelte sich ihre Schönheit, wie eine Rose im Hauch des Maien gedeiht. Da begann die Gier des Lasters die häßlichen Hände nach ihr zu strecken. Solange der brave Mann noch lebte, der sie mit väterlicher Liebe betreute, war sie sicher an Leib und Seele. Der hätte jeden, der sie zu berühren wagte, mit der eisernen Stange niedergeschlagen. Er starb. Immer sterben die Guten. Die Sünder werden Greise, als hätte das Laster eine konservierende Kraft in sich! Und als der brave Mann ›da drunten‹ lag, fielen die Versuchungen über die Neuverwaiste her wie die Henker über ein Opfer.«

Wieder spähte Mariane über den Weg hinunter. Sie schien in Sorge, es könnte jemand kommen und die Beichte ihres Lebens stören, die den jungen Beichtvater, der verstört an ihrer Seite saß, so tief erschütterte, daß ihm jedes Wort versagte.

»Wie die Versuchung mich bedrängte! Wie soll ich Ihnen das schildern? Ihnen, dem alles rein und heilig ist! Aus meinen Worten müßte ein Hauch der Verführung hinüberfließen in Ihr keusches Blut, eine lockende Glut der Sünde.« Erschauernd preßte sie das Gesicht an seine Schulter. »Schauspielerin! Das heißt: ein Leib, nach dem alle Hände greifen! Und die Kollegen! Mit unzüchtigen Späßen wird man vorbereitet auf die schwache Stunde, der man zum Opfer fallen soll. Und die Regisseure, die ihre Gnaden austeilen nach dem Maß der Liebenswürdigkeiten, mit denen man sie erwidert! Und der feine Herr Direktor mit seinem Geheimkabinett! Entsetzlich! Und die dramatischen Dichter mit ihren neuen, guten Rollen, die man mit Liebe bezahlen soll! Oft faßte mich die Empörung, daß ich am liebsten nach einem Dolch gegriffen hätte, um ihn solch einem handwerksmäßigen Verführer ins Herz zu stoßen.«

»Allmächtiger Gott!«

»Ich tat es nicht. Ans Erbarmen mit diesen Erbärmlichen! Das Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. Nein, teuerster Freund! Mir! Mir den Dolch! Um ihn ins eigene Herz zu stoßen! Das wäre Tod in Schönheit! In Unschuld! Und Sie, mein Freund, Sie würden weinen um mich!«

In Schreck umklammerte Innerebner die Hände des Mädchens, das ganz von Sinnen schien und einen Klang von ergreifender Tragik hatte. »Fräulein! Wie dürfen Sie solche Gedanken haben! Eine Christin! Seien Sie tapfer, Fräulein! Mit allen Reinen ist Gott. Werfen Sie diesen grauenvollen Beruf von sich! Fliehen Sie!«

»Fliehen! Wohin?«

»Zn redlicher Arbeit, die Sie ernähren wird!«

»Arbeit?« Mit schmerzlichem Lächeln sah sie zu ihm auf. »Die Kunst verwöhnt, mein Freund! Ich kann nicht nähen, nicht kochen und stricken, nicht waschen und bügeln. Nur eines kann ich: Komödie spielen und mit Flittern die Dummköpfe täuschen. Oh! Wenn ich einen wüßte, an dessen treue Brust ich mich flüchten könnte! Den hat mich der Himmel noch nicht finden lassen. Und fliehen? Ich bin geflohen! Vor vierzehn Tagen bin ich bei Nacht und Nebel hinaus zum Tor der Residenz. Um nicht betteln zu müssen, hab ich mich dieser reisenden Truppe angeschlossen. Das sind ehrliche Menschen, die an nichts anderes denken als an ihre Kunst. Unter ihnen ist mir wohl. Und in Ihrer Nähe, teuerster Freund, da fällt alle Furcht von mir, und süße Ruhe schleicht mir ins Herz! Aber wie lange kann das dauern? Dann muß ich wieder zurück in diese Hölle, in diese Lust der Sünde!«

»Zurück? Nein! Niemals wieder!«

»Verträge fesseln mich. Die Macht ist auf Seite dieser Schurken. Die Gerichte werden mich zu finden wissen. Wieder zurück! Dieses grauenvolle Zurück! Einen Dolch, mein Freund! Gib mir einen Dolch und sei barmherzig!« Das war wie ein erstickter Schrei der Verzweiflung. Alle Angst eines bedrängten Lebens glühte in Marianens Augen, während sie hinunterstarrte gegen den Wald, als sollte die Erlösung aus ihrem Elend von dort unten kommen, nicht aus dem erschütterten Jünglingsherzen, das unter dem schwarzen Talar an ihrer Seite hämmerte.

»Fräulein! Liebes Fräulein!« In Sorge, die ihn ganz verstörte, legte Innerebner den Arm um ihre Schulter. »Was Sie da sprachen, ist Irrsinn! Sie und sterben! So jung und schön!«

»Ein Dolch ist freilich keine Haarnadel!« Da ging es wie ein Blitz der Freude über allen Gram in ihren Zügen. »Und man hat nur ein Leben zu verlieren! Aber auch nur eine Unschuld! Die über alle Gewalt erhaben ist! Aber nicht über alle Verführung!« Ihre Stimme flog in heißer Glut. Immer enger schmiegte sie sich an die Brust des Freundes, dem der Wille zur Rettung dieser verzweifelten Mädchenseele in den Augen brannte. »Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts! Verführung ist die wahre Gewalt! Ich habe Blut, mein Freund, so jugendliches, so warmes Blut als nur eine! Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts, ich bin für nichts gut! Ich kenne das Haus der Grimaldi – das Theater –, es ist ein Haus der Freude! Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter – die vom Himmel auf mich niederblickte –, und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen bewältigen konnten!«

An der Senkung des Weges erschien was Dunkles, das in die Höhe wuchs wie ein dicker schwarzer Pilz. Die hundert Perlmutterfalter bei den Distelstauden gerieten in gaukelnde Aufregung. Wie ein schimmerndes Wölklein war ihr Flug. Innerebner sah das nicht. Er sah nur die Angst der bedrohten Tugend, die in seinen Armen zitterte, so warm und süß, so schön und berauschend! Während er nach Sprache rang, ging ein nervöses Zwinkern über Marianens Lider. Ihre Augen füllten sich mit Wasser. Eng und heiß an den Mann geschmiegt, von dem sie die Rettung erwartete, sah sie mit diesem nassen, flehenden Blick zu ihm auf. »Geben Sie mir, mein Freund, geben Sie mir diesen Dolch! Besser, eine Rose wird gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert! Warum zaudern Sie?« Mit einem Laut der tiefsten Bitterkeit neigte sie das Gesicht zurück. »Auch du ohne Herz! Ehedem gab es wohl einen Freund, der, seine Freundin vor der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte, ihr zum zweiten Male das Leben gab! Aber alle solche Taten sind ehedem! Solcher Freunde gibt es keine mehr! Oder doch! Ich sehe eine Sonne des Erbarmens in deinen Augen! Rette mich! Hilf mir! Du Guter, du einzig fühlende Brust unter Larven!« Ein dürstendes Hoffen glühte auf ihren Lippen, und seliges Leuchten war in ihren Augen, von deren schwarzen Wimpern die Tropfen fielen.

Der Anblick dieser Tränen stahl ihm den letzten Rest seiner Beherrschung. »Ich will!« Mit Armen, deren Muskeln zu Eisen geworden schienen, preßte er Mariane an sich. »Will dich retten! Dich! Und mich! Den du zu einem Menschen machtest! Zu einem seligen Menschen! Du? Und sterben? Leben sollst du! Mit mir! Alles für dich! Mein Herz und Blut! Alles, was ich bin und habe! Ein neues Leben! Für dich und mich! In Glück und Sonne! Bist du mir gut? Sag mir's, Mariane! Denn sieh, ich liebe dich bis zum Irrsinn!« Im Taumel der Freude, die wie eine Flamme aus seinem Herzen schlug, umklammerte er das geliebte Mädchen, und seine Lippen suchten ihren Mund.

Da stieß ihn Mariane mit beiden Fäusten zurück und erhob sich, das Bild einer beleidigten Göttin. »Mein Herr! Was erlauben Sie sich?« Sie lachte. »Brav, Herr Kaplan! Ein schutzloses Mädchen sucht Ihren geistlichen Trost, und Sie antworten wie ein betrunkener Student, der die Kellnerin bei der Schürze erwischt!« Wieder lachte sie. »Tartuffe! Ich hab's ja gewußt, daß die Maske fallen wird. Das soll der Dank für den Schimpf sein, den Sie uns Schauspielern ins Gesicht geworfen, Sie geweihter Priester des Herrn! Und nicht nur ein Heuchler sind Sie, auch ein Dummkopf. Sonst wären Sie auf den billigen Unsinn, den ich Ihnen vorgegaukelt habe, nicht so plump hereingefallen.« Sie wandte sich ab und grüßte liebenswürdig den Pfarrer, der mit erschrockenem Gesicht vom Weg her über die Distelstauden guckte, dicht umwirbelt von den aufgescheuchten Schmetterlingen. »Guten Morgen, Herr Pfarrer!« Rasch ging Mariane zum Wald hinüber, auf dessen Schatten man das Lachen einer glockenschönen Mädchenstimme hörte. Applaudierend tauchte Schwester Aurelia am Waldsaum auf: »Milka! Bravissima! Fein hast du das gemacht!« Philinchen, die niedliche Sünderin, schien über die Komödie, der sie beigewohnt hatte, anderer Meinung zu sein. Der Zorn blitzte aus ihren Augen: »Du! Weißt du, was du bist?« In streitbarer Schneidigkeit trat sie auf Mariane zu. »Ein grausames Luder bist du! Und von euch beiden ist der arme Kerl da drüben nicht der Dumme. Das kannst du mir glauben!«

Mariane richtete sich geärgert auf: »Hansi? Du bist wohl verrückt?«

»Ich? Nein. Aber du scheinst nicht bei Trost zu sein. Wie kann man einem Menschen so mitspielen?«

»Der hat die Lektion verdient!«

»Ach was! Tu man nich so! Das bißchen Geschimpf da drunten? Das bringt sein Geschäft mit sich. Daneben ist er aber doch ein Mensch. Und hast du denn nicht gesehen, daß er dich liebt? Wirklich liebt!«

»Der?« Mariane lachte mit gereiztem Ton.

»Ja, der! Und ein aufrichtiges Gefühl! Wahrhafte Liebe! Hast du denn nicht an dir selbst schon erfahren, wie kostbar und selten das ist? Da fällt so was Schönes mit Zittern vor dir auf die Füße hin. Und zum Dank dafür wirfst du ihm deinen ganzen Kulissendreck ins Gesicht? Schäm dich! Und wenn du wirklich nicht gemerkt hast, was in dem armen Teufel da drüben zittert, dann geh noch ein bißchen in die Schule! Als Schauspielerin muß man Augen haben für das, was in den anderen brennt. Denn das, was nur in dir so'n bißchen glimmert, weißt du, das genügt nicht.«

Schwester Aurelia stand mit verdutztem Gesicht. »Aber Kinder!«

Da kehrte sich Philinchens Zorn gegen die ruhig Stolze. »Laß mich nur du in Ruhe! Spinnerin, du feine! Wenn ich gewußt hätte, wozu ihr mich da heraufschleppt, wär ich lieber daheim geblieben und hätte mich von meinem Aujust langweilen lassen. Addio, ihr Blüten der Menschheit!« In der Hand den Strohhut, an dem die scharlachroten Bänder flatterten, sprang Philinchen durch den Wald hinunter.

Schwester Aurelia zuckte die Achseln. »Das hat sie so. Manchmal muß sie die Pomeranze ihrer schönen Seele ausquetschen. Komm!« Mariane folgte nicht gleich. Sie hatte das Gesicht über die Schulter gewandt, unter den Brauen einen verdrossenen Blick. Das Opfer der grausamen Strafe, die ihr beleidigter Künstlerstolz vollzogen hatte, konnte sie nicht sehen – der hochwürdige Herr Christian Schnerfer hatte einen Rücken, der in seiner Breite wie ein Mantel der christlichen Nächstenliebe wirkte.

Über den Hakenstock gebeugt, auf dem Hut ein paar Schmetterlinge, die ihre Flügel sonnten, stand der Pfarrer mit echauffiertem Gesicht vor Innerebner. »Herr Kaplan? Möchten S' net endlich ein Wörtl reden? Und mir die merkwürdige Situation erklären, in der ich Sie da gefunden hab?« Wie versteinert saß der junge Mensch vor dem greisen Priester. »Reden S', Herr Kaplan! Oder studieren S' vielleicht drüber nach, wieso ich grad jetzt daherkomm, ein bißl ungelegen?« Der Pfarrer zog einen zerknüllten Brief heraus. »Vor einem Stündl hat mir der Peterl vom Roten Hirschen das Brieferl da in den Pfarrhof gebracht: wenn ich mich von den moralischen Qualitäten meines Kaplans überzeugen möcht, soll ich um elf Uhr aufs Kapellenbergl kommen. Ich hab zwar sonst für solche Brieferln einen tiefen Papierkorb. Aber daß mich die moralischen Qualitäten meines geistlichen Amtsbruders interessieren, besonders nach unserer letzten Unterredung, das können S' mir nicht verdenken, gelt?«

Innerebner hielt das Blatt zwischen den zitternden Händen und versuchte zu lesen.

Im Tal begann eine Glocke zu rufen. »Jetzt läuten s' grad. Ich bin also ziemlich pünktlich eingetroffen. Wär mir lieber, ich wär ein halbes Stündl früher gekommen!« Die Strenge des Pfarrers milderte sich um so mehr, je länger er dieses bleiche verstörte Gesicht betrachtete. »Halb und halb versteh ich ja. Mir scheint, das schöne Frauenzimmerl mit ihrem klassischen Köpfl hat ein bisserl Komödi mit Ihnen gespielt, unter dem Titel: Haust du meinen Juden, hau ich deinen Juden. Schön war das nicht von ihr. Und Sie sind drauf reingefallen, gelt? Halb zog sie ihn, halb sank er hin, wie's im Thildele ihrem berühmten Goethe heißt. Aber, Herr Kaplan, wo war denn da jetzt Ihre unerschütterliche Festigkeit, die keine Zugeständnisse macht? Oder soll ich ›Kompromisse‹ sagen?«

Mit stöhnendem Laut sprang Innerebner auf und stürzte dem Rand der Schlucht entgegen.

»Jesus!« Pfarrer Schnerfer machte einen Sprung, als wäre er um dreißig Jahre jünger geworden. Dicht am Saum der sinkenden Felsen erwischte er den Kaplan bei einer Talarfalte. »Mensch! Was machen S' denn da?«

»Mich erlösen! Wie soll ich noch leben!« Mit aller Kraft der Verzweiflung suchte Innerebner sich frei zu ringen.

Der hochwürdige Herr Christian Schnerfer ließ nicht aus. Er zog wie ein Fischer, der einen schweren Hecht gefangen. Während sein müdes Alter mit dieser todeslüsternen Jugend rang, stieß er Wort um Wort heraus: »Ich bitt Ihnen, machen S' keine Dummheiten! Was haben S' davon, wenn S' Ihr junges und warmes Leben da nunterschmeißen? Die ewige Verdammnis haben S'!«

Aus der Brust des anderen rang sich ein schluchzender Laut, und die Arme fielen ihm schlaff hinunter. Diesen Augenblick benützte der Pfarrer und zog den Überwundenen am Talarflügel hinter sich her, weit weg von der Schlucht, mitten hinaus in die Sonne. Gerade zur rechten Zeit gelang ihm das. Er hatte an beiden Händen den Krampf bekommen. Seine verklammerten Finger konnten den Talar nicht auslassen, auch jetzt nicht, da er es wollte. »Kommen S', Michele! Setzen S' Ihnen her zu mir!« Er warf sich ins blumige Gras, inmitten eines Schimmerwölkleins der aufgeregten Perlmutterfalter. Wie einer, der einen Keulenschlag in den Nacken bekommen, fiel Innerebner auf die Knie und drückte das Gesicht in den Schoß des Pfarrers. Die linke Hand hatte der Hochwürdige freibekommen, mit der rechten machte er noch vergebliche Versuche. »Och, du lieber Herrgott! So tief ist das gegangen bei Ihnen?« Jetzt brachte er auch die andere Hand in die Höhe und begann die gymnastischen Fingerübungen. Mit der Linken, die vom Krampf schon erlöst war, streichelte er dem Schluchzenden das Haar. Dann fingen ihn die Schmetterlinge zu ärgern an, die ihm vor den Augen herumgaukelten und an die Nase fuhren. »Ihr verflixten Viecherln! So laßts mir doch mei' Ruh! Ich bin kein Honigstöckl!« Auch die Sonne begann ihn aus den kahlen Scheitel zu brennen, so daß er sehnsüchtig nach seinem Hut ausguckte, der sich nirgends entdecken ließ.

Innerebner wurde ruhiger. Das Gesicht erhob er nicht, als er mit heißem Stammeln das Bekenntnis seiner Qual begann. Ohne Rückhalt gestand er alles: von diesem verzehrenden Feuer, das ihm wider Willen ins Blut gefallen, von der klingenden Schönheit, die seine Seele mit Sehnsucht erfüllt hatte, und von dem schmeichelnden Liebreiz dieses Morgens bis zu der heißen, grausam getäuschten Freude, die ihm Erbarmen, Liebe und Verlangen ins Herz gegossen.

Der Pfarrer beugte sich zu ihm nieder. »Das ist heilige Beicht gewesen und soll in meinem Herzen bleiben, still und versiegelt.« Er machte über dem Schluchzenden das Zeichen des Kreuzes. »So, Michele! Und jetzt das Köpfl in die Höh! Da ist nichts, weswegen Sie sich schämen müßten! Ihr Unglück war, daß Sie von Welt und Menschen so wenig gewußt haben wie das Kind vom Sterben. Wär Ihnen nicht alles Menschliche fremd gewesen, so hätt die Natur nicht mit Geißeln zu Ihrem Herzen reden müssen.«

Mit zuckenden Armen umklammerte Innerebner den Greis. »Hochwürden! Helfen Sie mir, daß ich ein Mensch werde!«

»Michele, das lernt sich von selber.«

»Nein! Ich bin ein Tier mit schreienden Sinnen.«

»Dann bist du ja doch ein Mensch! Wenn auch erst embryonalisch. Und gelt, Brüderle, von heut an sagen wir Du zueinander. Weißt du, ich freu mich über dich. Denn schau, das hab ich vor dreißig Jahren in einem schönen Mai an mir selber erfahren: eine tiefe Scham und ein großer Schmerz, die uns das sehnsuchtsvolle Herz zerdrücken, sind von allen Priesterweihen die besten.«

»Ich? Ein Priester?« Zitternd preßte Innerebner das Gesicht in die Hände. »Ein Meineidiger bin ich. Wie Feuer liegt Gottes Zorn auf mir.«

»Ach, du dummer Kerl! Ja, Michele, was den Gott des Zornes anbelangt, da bin ich ein Atheist! Ich glaub nur an einen Gott, der gütig ist. Schau doch ein bißl hinauf!« Zögernd hob Innerebner das entstellte Gesicht. »Gelt, wie lieb da droben alles lacht!« Schweigend saßen sie eine Weile, bis Pfarrer Schnerfer verdrießlich mit beiden Armen zu fuchteln anfing, um die zudringlichen Schmetterlinge zu verjagen. »Da kann man ja nimmer sitzenbleiben! Und 's nackelte Köpfl brotzelt mir schon wie ein Backofen vor lauter Sonn!« Mühselig erhob er sich. In allen Knochen spürte er die »Turnerschmerzen« des Ringkampfes, den er überstanden hatte. »Komm, Michele, ich führ dich heim. Aber z'erst versprich mir in d' Hand, daß du keine Dummheiten machen willst, wenn dir in der nächsten Zeit das Leben ein bißl sauer wird. Und daß du als ehrlicher Mensch treu aushalten wirst bei deiner Pflicht!«

Mit beiden Händen umklammerte Innerebner die Hand des Pfarrers. »Das gelob ich.«

»So sag ich Amen dazu! Aber wo wird wohl jetzt mein Hut und mein Stecken sein?« Sie suchten. Der Hakenstock lag bei der Buche. Der Hut war verschwunden. Der hatte, als der hochwürdige Herr Christian Schnerfer den Athleten spielte, einen Salto mortale in die Schlucht gemacht. »D' Schwester wird schön mamsen, wenn ich ohne den neuen Hut heimkomm. Den hab ich erst fünf Jahr. Aber besser, es liegt der neue Hut drunt, und du bist bei mir heroben! Gelt, Michele?« Zum Schutz gegen die Sonne band sich der Pfarrer das blaue Taschentuch über die Glatze. Weil beim Knüpfen die Finger schmerzten, dachte er: »Heut wird's schlecht ausschauen mit der Beethovensonat!«

Während sie über den Hügel hinunterstiegen, eine Strecke begleitet von dem Schwarm der gaukelnden Schmetterlinge, hielt der Pfarrer die Hand des Kaplans in der seinen. Das lebendige Wölklein, das um sie hergaukelte, wurde immer dünner, je tiefer sie kamen. Endlich verschwand es. Nur auf Innerebners Schulter saß noch einer von den Perlmutterfaltern und sonnte die Flügel. Als die beiden in den kühlen Schatten des Waldes traten, flatterte das Tierchen auf und suchte taumelnden Fluges seine warme Heimat.


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