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Die Rosen

Lilla und Alma, zwei Schwestern, kehrten aus dem Garten zurück. Sie hatten sich Blumen gepflückt, und jede trug ein Sträußlein ihrer Lieblinge am Herzen.

»Sieh die Wunderpracht dieser Centifolie,« begann Alma, indem sie die schönste Rose ihres Straußes der Schwester darreichte, »gibt es wohl etwas Schöneres im weiten Reich der Natur? Welcher Reichtum, welche Fülle in diesem Kelch! Und wie ist jedes Blättchen in sich so vollendet, und wie vereint sich wieder alles zum herrlichen Ganzen! – Und dieser Duft! Ist es wohl möglich, von ihm berührt zu werden, ohne der Rose huldigend zu nahen? Muß er nicht die stumpfsten Sinne beleben und seinen Balsam in das verschlossenste Herz ergießen? Nimm diese Centifolie, o Lilla,« fuhr sie bedeutsamer fort, »sie ist das Bild der Schönheit, welcher wir nachstreben sollen, damit sich durch sie unser inneres Leben wie unsere äußere Erscheinung veredle und vollende! Viele schöne Gaben ruhen in des Menschen Brust, wie die hundertfältigen Blätter dieser Rose in der engen Hülle der Knospe; jede will entwickelt und sorglich beachtet sein, damit sich die zarten Eigenschaften des Geistes in schöner Klarheit zuletzt zu einem Ganzen verbinden, das Gott und Menschen erfreut. Lieblichkeit und Anmut wird dann unzertrennlich von uns sein, wie der Duft von dem Kelche der Rose; und gleich diesem werden sie ihre mächtige Anziehungskraft üben, und alle werden uns suchen, und süßer Ruhm wird vor uns hergehen, so wie balsamische Düfte weithin das Dasein der Rose verkünden. Nimm, o Lilla, die Rose und laß uns vereint das Schöne aufsuchen und erstreben, damit sich in ihm das Göttliche in unserm Leben verkünde.«

»Und du, Geliebte,« sprach Lilla, »zürne mir nicht, wenn ich statt der glänzenden Gabe dies bescheidene Hagebuttenröslein dir reiche! Wohl ist die wahre Schönheit göttlicher Natur, ein Strahl aus dem Urquell aller Vollkommenheit, der wieder zu diesem erhebt und zurückführt; aber nicht immer vermögen wir ihre Gaben zu erstreben! Wolltest du dies Röslein fragen, es wünschte sich wohl auch den blätterreichen Kelch, die tiefere Glut, den erquickenden Duft, doch – da es dies nicht zu erreichen vermag, so sinnt es, auf andere Weise der Ordnung des Ganzen zu nützen. Still und bescheiden blickt es aus dem Kranz der Natur. Wenige beachten das anspruchslose Kind der Hecken, aber es findet wohl dennoch ein Herz und ein Auge, das auch in ihm die Güte des Schöpfers erkennt. Während die Centifolie alle Kraft aufwendet, die erste zu sein in der Natur, treibt es langsam und zögernd seine einfachen Blätter, als spare es seine Kräfte für einen andern Beruf. Und sieh', wenn der Herbst kommt und der schöneren Schwester reizendes Bild schon längst entblättert, vergessen ist und keine Spur ihr einstiges Dasein verkündet, da glänzen purpurne Früchte an dem Hagebuttenstrauch, das wohltätige Streben des einfachen Rösleins bezeugend, und Arme und Kranke strecken die Hände begierig nach ihnen aus, um für den Winter die erquickende Spende zu sammeln. So entschädigt die Natur überall; so überdauert oft das Nützliche das Schöne, und so laß uns zu dem Bilde der Centifolie das des Heiderösleins gesellen, denn des Menschen Brust hat Raum für beide. Er kann mancherlei Gaben in sich selbst bilden und entwickeln, während die Blume allein den Gesetzen der Natur gehorcht.«

Da umarmte Alma die Schwester, denn ihre Worte waren ihr ins Herz gedrungen. Und das Sehnen der einen ergänzte das Streben der andern, und ihr Leben vereinte bald die Sinnbilder beider, so daß das Schöne und Nützliche in holder Verschwisterung darinnen gar erquicklich zu schauen war.


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