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Der Schwesterbund

Um das verirrte Geschlecht der Erde zu seinem höhern Ursprung zurückzuführen und seinem Uebermute zu steuern, der über vergänglichem Sinnenrausch die Freuden der Tugend, über irdischem Gewinn seine ewige Bestimmung vergaß, sandten die Götter eine ihrer himmlischen Töchter, die Wahrheit, zu den Tälern der Erde hinab.

Erkoren, die trügerischen Gebilde des Wahns zu zerstreuen, war es in ihre Macht gegeben, den Menschen jegliches Uebel, das sich in ihren Herzen verbarg, in einem Spiegel zu offenbaren. Zugleich war ihr Antlitz mit einem so siegenden Glanze bekleidet, daß jeder, ihre göttliche Abkunft erkennend, ihren Worten hingegeben vertraute.

Als nun die Wahrheit zu den Hütten der Menschen trat und diese in ihren Spiegel schauten, da entsetzten sie sich über den Anblick ihrer eigenen Gestalt und die Flecken ihrer Seele, und sie entflohen in die äußerste Wildnis, um sich vor den Augen der Wahrheit zu verbergen. Andere entbrannten über ihre Worte in raschem Zorn und trachteten darnach, die Priesterin des Himmels zu töten. Die Pfeile aber, die sie nach ihr versandten, kehrten sich auf ihre eigene Brust, und also fanden viele den Tod, die durch jene zum Leben berufen waren.

Darüber betrübte sich die Wahrheit von Herzen, und sie floh aus den Kreisen der Menschen in ein einsames Tal.

Als sie, abgeschieden von der Welt, einst im schmerzlichen Gefühle ihres Verlassenseins zu dem Himmel emporsah und sich zurücksehnte in die Hallen der Götter, siehe, da kamen drei Jungfrauen daher, die glänzten wie die Rosen des Morgens, und ihre Gestalt war lieblich wie die der Himmelsbewohner, und sie blieben betrachtend vor der Wahrheit stehen und boten ihr mit schwesterlichem Gruße die Hand.

»Wer seid ihr?« fragte die Wahrheit. »Gewiß stammt ihr gleich mir von den Göttern her, da ihr friedlich bei mir verweilet und nicht von mir fliehet, gleich den lichtscheuen Kindern der Erde.«

»Wir sind wie du von dem Himmel gesandt,« erwiderten die Jungfrauen, »und unser Beruf war, die Sterblichen zu beglücken. Wir weckten in ihnen den Sinn für das Schöne, um ihnen Empfänglichkeit für die Reize der Tugend zu verleihen und ihre Herzen für ein höheres Glück zu erziehen, aber die Verblendeten erkannten nicht unsern wahren Beruf, sie benutzten unsre Geschenke, um das Reich vergänglicher Genüsse zu erweitern, und also wurden unsre Gaben mißbraucht und unsre Würde gekränkt. Wir wollen daher zu unsrer Heimat zurück, denn was hilft es, die Pfade der Menschen mit Blumen zu schmücken, wenn dieser Weg zum Verderben und nicht zur himmlischen Wahrheit führt?«

»Die Wahrheit selbst ist gekommen, die Verblendeten aufzusuchen,« entgegnete diese, sich freudig erhebend. »Seht, die Götter senden mich, euch beizustehen, und nicht umsonst ist es, daß wir uns in diesen Tälern begegnen! Allein bin ich den Sterblichen verhaßt, so wie ihr ohne mich sie dem Irrtume nicht zu entreißen vermöget; aber vereint werden wir ihnen den Segen bringen, der ihnen von den Göttern bestimmt war. Kommt, laßt uns Hand in Hand noch einmal die Hütten der Menschen besuchen! Ihr seid bekannt und geliebt, teilt eure Kränze, eure Schleier mit mir! Vielleicht, daß sie mir, also verhüllt, ihre Türen williger öffnen!«

»Ja, wir folgen dir, unsrer Führerin!« riefen die Grazien, die erhabene Gefährtin umschlingend, und sie teilten ihre Gewande mit ihr und nahmen sie in ihre Mitte, daß sie unter ihnen wandelte, wie die vierte der Schwestern.

Als nun die Wahrheit in die Schleier der Grazien gehüllt zu den Menschen trat und das Geschenk der Götter, den leuchtenden Spiegel, vor ihr Angesicht hielt, da traten sie nicht mehr wie sonst erschrocken zurück, denn die Huldgöttinnen hatten auch über diesen ihre Kränze gezogen, so daß sein Glanz nicht mehr zu verletzen vermochte, sondern sich mit den zarten Blumenbildern zugleich mild und siegend ins Herz stahl. Willig empfing man in dieser Verhüllung die Lehren der Wahrheit und öffnete ihr selbst gastlich das Haus; und wie man auch bisweilen staunte über die ernsten Worte und Warnungen der Jungfrau: die Grazien bahnten ihr überall den Weg zu den Herzen der Menschen, so daß sich ihr Licht unaufhaltsam zu verbreiten begann. Entzückt von dem Segen, der aus ihrem Bunde hervorging, übten die Huldgöttinnen fortan mit erhöhter Freude ihren Beruf. Die Nähe der Wahrheit hatte ihn geheiligt, und willig bekannten sie sich für immerdar zu dem Dienste der Göttin.


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