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Die Feuerlilie

Einen weißen Lilienstengel und eine Feuerlilie in der Hand, trat die zarte Elwire zu Erast, ihrem Vater. Freundlich legte sie beides vor ihn hin und sprach: »Schon oft hast du mir, mein Vater, von dem stillen Leben und der sinnigen Bedeutung der Blumen erzählt, durch dich wurde mir das Veilchen im Moose zur Lehrerin, die mir den Wert der Bescheidenheit in lieblichem Bilde vertraute, und auch die Rose lehrtest du mich lieben, weil sie in ihrer Schönheit, die ihr vor allen der Himmel verliehen, zugleich ein Bild holder Sittsamkeit ist, deren heilige Waffe das Heer zudringlicher Schmeichler zurückhält. Erkläre mir nun heut, lieber Vater, der Lilie Bedeutung und sage mir zugleich, wie es geschehen, daß die Feuerlilie ein so verschiedenes Gewand erhielt, und warum ihr der liebliche Duft versagt wurde, der jene vor allen verherrlicht?«

Freundlich blickte der Vater zu dem lieblichen Kinde herab. Er hatte es von jeher geliebt, die ernsten Lehren des Lebens in das heitere Gewand anmutiger Gleichnisse zu hüllen, denn er kannte die Herzen der Jugend und wußte, daß sich die Weisheit kindlicher Worte und Bilder bedienen müsse, um von ihnen gesucht und verstanden zu werden.

»Laß uns die Blumen betrachten, Elwire!« begann er jetzt, indes sich jene aufmerksam an seiner Seite niederließ. »Siehe die Lilie! Einfach und ungeschmückt ragt sie dennoch in ruhiger Hoheit über viele der bunten Blumengeschlechter empor, alle, die sie betrachten, entzückend durch ihre reine Gestalt, wie durch den balsamischen Duft, der ihrem Kelche entströmt. Seit langer Zeit wurde sie als die Blume der Unschuld verehrt; aber ich möchte sie noch lieber ein Bild holder Weiblichkeit nennen und sie vor allen ihren Schwestern kindlichen Jungfrauen mitgeben zur Begleitung durchs Leben. Reinheit und Würde heben sie, ohne daß sie äußern Schmuckes bedarf, über die glänzendsten ihres Geschlechts empor. Ohne die Blicke durch blendenden Schimmer auf sich zu ziehen, fesselt sie sie desto dauernder, sobald man ihre Anmut erkannt. Ein Bild anspruchsloser Tugenden, deren Wert immer höher steigt, je länger wir betrachtend auf ihr verweilen. Fern liegt ihr der Wunsch, durch eitlen Prunk zu gefallen; sie scheint zu ahnen, daß dieses ihren eigentümlichen Zauber vielmehr zerstören würde, so wie dies die traurige Geschichte ihrer Schwester, der Feuerlilie, beweist.«

»Erzähle mir nun, mein Vater, von dem Geschick dieser Blume,« bat Elwire, sich kindlich an ihn schmiegend, während der Vater die Feuerlilie mit ernsten Blicken beschaute und sie zum Gegenstand seiner Betrachtung machte.

»Als noch die Erde in unmündiger Kindheit,« begann er, »den seligen Schutz hoher Himmelsbewohner genoß und Engel von Zeit zu Zeit ihre Heimat verließen, um in der neuen Schöpfung zu lustwandeln, da geschah es, daß einer derselben ein Tal betrat, über welches der Frühling seinen reichsten Segen ausgegossen hatte. Lilien und Rosen, Tulpen und Anemonen, und was der Lenz Entzückendes hervorbringt, standen hier in holder Eintracht verbunden. Süße Düfte überströmten die liebliche Stelle, und wohltätiger schien selbst der Strahl der Sonne hier zu verweilen. Ueberrascht und entzückt von der Schönheit dieses Anblicks, durchirrte der Engel die reiche Blumenwelt, viele der holden Erscheinungen laut preisend, bis er endlich auch zu der hohen Lilie kam. Stumm und selig in ihr Anschauen versunken, fand er kein Wort, ihre Schönheit zu preisen; aber er faltete die Hände und dachte an Gott, dessen Hand mit so viel Lieblichkeit der Blume Antlitz geschmückt hatte, und betete still.

Als aber der Engel das Tal verlassen, siehe, da wand sich eine giftige Schlange aus den Blumen hervor – dieselbe, die später das erste Menschenpaar verführte – und sie kam vor die Lilie mit bösen Gedanken; denn des Engels stilles Gebet hatte ihr Herz mit Groll und Haß gegen die Blume erfüllt, und sie sann darauf, wie sie sie verderbe. – Teilnehmendes Mitleid heuchelnd, blickte die Schlange zu der hohen Lilie empor und begann: Wie ungerecht, o du arme Verlassene, war der Schöpfer dieser Blumen gegen dich! Siehe, alle deine Schwestern wurden mit der lieblichsten Farbe bekleidet, und der Engel war von ihrem Anblick entzückt und bewunderte laut ihre Schönheit; nur dich betrachtete er mit schweigendem Unmut, weil du ganz reizlos und unbedeutend erscheinst so vielem Farbenglanz gegenüber. O hätte ich dich früher gesehen, ich hätte dir ein anderes Gewand gegeben, denn es steht in meiner Macht, dich über alle deine Schwestern zu erheben und dich zu der Königin der Blumen zu machen!

Die Schlange aber hatte, indem sie diese Worte sprach, das Gift des Neides und der Eitelkeit in das Herz der Lilie gegossen. Allmählich durchdrang seine Glut ihren Busen und verwandelte ihre Bescheidenheit in hoffärtige Begier, und sie schaute im Kreise ihrer Schwestern umher und fühlte sich zum ersten Mal verletzt von der Schönheit der Rose und der Pracht der Tulpen, die vor ihr im Abendgold leuchteten.

Du hast recht, sprach sie jetzt zu der Schlange, bitteres Unrecht ist mir geschehen! Ich, die Erhabenste von allen, sollte alle überstrahlen an Schönheit und Pracht. Kannst du, so gib mir der Rose Glut und den bunten Schimmer der Tulpen! Ich kann es nicht ertragen, mich von diesen Geringen verdunkelt zu sehen! Also sprach die Lilie, und ihre Wangen erglühten in den Flammen des Neides und des Hochmuts. – Schau in den Quell zu deinen Füßen! Was du wünschest, geschah bereits, sprach die Schlange, und mit heimlichem Triumph, daß es ihr gelungen war, die Reine zu verderben, zog sie höllischer Freude voll von bannen. – Ueberrascht von der flammenden Glut, die das zarte Weiß ihres Kelches durchdrungen, beschaute die Lilie ihr glänzendes Bild. Mit immer größerem Wohlgefallen hing sie an ihm, denn durch das Verderben, das sie aus dem Gifthauch der Schlange gesogen, war zugleich ihr Sinn befleckt und befangen worden, und sie hatte nicht mehr die Macht, das wahre Schöne zu erkennen und vom falschen Prunk zu unterscheiden. – Ha! ihr eitlen Blumen, so sprach sie zu ihren Schwestern, was seid ihr fortan neben mir? Gleicht mein Antlitz nicht der Sonne? Und stehe ich nicht gebietend über euch erhaben, eine Königin aller Blumen? Und sie breitete ihre Blätter in hoffärtigem Dünkel auseinander, um sich auch die Gestalt der Sonne zu geben, und schaute immer stolzer und herrischer zu den stillen Schwestern herab.

Als aber der Engel wieder das Tal besuchte, um vor der hohen Lilie still an Gott zu denken und sich an ihrem Anblick zu erfreuen, siehe, da fand er die traurige Verwandlung. Voll Bestürzung und tiefer Trauer stand er da vor dem fremden Bild. Dahin war der liebliche Duft, der sonst dem bescheidenen Kelche der Blume entströmte, und das zarte Weiß ihrer Blatter war in flammendes Rotgelb verwandelt. Er sah, gehässige Leidenschaften hatten sich des Herzens der Blume bemächtigt und sie also entstellt, daß keine Spur ihrer sonstigen Lieblichkeit vorhanden war. Weinend kehrte er sein Antlitz von der Betörten, und in sein Herz kam eine tiefe Trauer, denn er ahnte die verderbliche Macht zum ersten Male, die tief verhüllt unter den Blumen des Paradieses lauerte.

Die Blume aber nahm sein Schweigen für tiefe Bewunderung, und ihr Stolz wucherte fort, von Geschlecht zu Geschlecht, und so blüht sie noch heute in den Gärten der Menschen, wenn auch nicht zu ihrer Freude, so doch zur stillen Belehrung.«

Erast schwieg. Nachdenklich blickte Elwire auf die Blumen herab.

»Ich werde beide Lilien in meinen Garten pflanzen, mein Vater!« begann sie. »Führe du mich zu der Feuerlilie, wenn du einem eitlen Wunsch in meiner Seele begegnest!«

»So lange du das Bild der reinen Lilie im Herzen trägst,« entgegnete der Vater, »wird dieses jede eitle Begier zurückweisen. Laß es daher ein schönes Vorbild bleiben, so werden die guten Menschen, gleich jenem Engel, wenn auch nicht bewundernd, so doch freudig und fromm in deiner Nähe weilen und dankbar an Gott denken, der des Weibes Seele zum Tempel der stillen, aber heiligsten Tugenden gebildet hat.«


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