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Der Kinder Opfer

Medor,« sagte die schmeichelnde Cidli, indem sie mit ihrem Bruder hinaustrat vor die niedere Hüttentür, »wie schön ist die Flur im Morgenglanz, wie herrlich blüht der lachende Frühling! Aber Medor, mein Bruder, ist auch schön, hell wogt sein goldenes Haar im Sonnenlicht, und sein Auge ist klar wie der Tag. Freundlicher ist seine Seele als der Lenz, darum lieb' ich ihn auch mehr noch als diesen.«

»Cidli,« sprach der liebliche Knabe, »du weißt, ich habe eine Taube vor allen lieb, die ich sorglich erzog, denn sie ist weiß wie der Schnee und treu und fromm. Aber viel lieber hab ich dich, meine Cidli, denn deine Rede ist süßer als das Girren der Taube, deine Stirn reiner als ihr Gefieder; o möchten die Götter uns nimmer trennen!«

»Nimmer, nimmer, o ihr ewigen Götter!« rief Cidli – und beide Kinder umarmten sich innig. Lange hielten sie sich Brust an Brust umschlossen, bis selige Tränen ihre Augen füllten und Medor ernster begann: »Die Götter sind immer mild und freundlich, aber wir sollen sie auch wieder lieben! Cidli, sahst du den Vater, wenn er die Erstlinge seines Feldes zu jener Höhe trug? Ich weiß es nun, was er dort tat. Er opferte den Göttern, dort an dem kleinen Altar sah ich ihn knien; sein Gebet war den Himmlischen angenehm, denn schöner keimten die Saaten empor zur künftigen Ernte. Komm, Cidli, auch wir wollen ein Opfer zünden! Sind wir gleich noch klein, so wird unser Gebet doch zu den Himmlischen dringen, und sie werden uns segnen!«

»Medor,« entgegnete Cidli, »wohl lieb' ich die Götter wie du. – Aber was bringen wir den Himmlischen zum Opfer dar? Ach, Kinder haben kein Eigentum, und fremdes Gut bringt nimmer Heil und Segen!« Traurig schwieg sie, den Blick zu Boden gesenkt.

»Hast du nicht eine Taube wie ich?« rief Medor mit feurigem Blick.

»Du wolltest?« fragte Cidli, ihr verwundertes Auge zu ihm erhebend.

»Ich will meine Taube hinauftragen,« entgegnete der Knabe. »Eben weil ich sie so lieb habe, weil sie meine größte Freude ist, will ich sie den Göttern opfern! Sie segnen das Herz, das sie also verehrt. Komm, Cidli, wir fangen die Täubchen und tragen sie hinauf, damit die Himmlischen uns wieder lieben!«

Und schweigend folgte Cidli dem Bruder. Fröhlich flatterte die bunt gefiederte Schar der lockenden Stimme des Knaben entgegen. »Lora!« rief Cidli, und herbei kam das zahme weiße Täubchen und pickte nach der dargebotenen Hand und ließ sich willig fangen und binden. Bald hatte auch Medor seinen Liebling gefangen, die rotäugige Lilli mit blendender Brust und reich befiederten Füßen.

In ein Körbchen mit Blumen legten sie das gefesselte Paar, und nun gingen sie Hand in Hand schweigend die Höhe hinan.

Noch schliefen die Eltern, denn die Sonne war erst emporgestiegen und die Blumen erhoben sich mühsam vom süßen Schlummer. Rötlich schimmerten die Höhen, und der Altar glänzte im Purpurstrahl des erwachten Tages.

Sittig knieten die Kinder auf den bemoosten Stufen nieder, und ihre Herzen vereinigten sich zu stillem Gebet. »Segnet, ihr Götter, segnet im Schlummer die liebenden Eltern! Segnet Cidli und Medor und laßt sie wie heut verbunden bleiben durchs ganze Leben!« So beteten die Kinder, den Blick zur Höhe gewendet.

Jetzt gingen sie, die Tauben zu opfern. Zitternd faßte Medor den zarten Hals des flatternden Lieblings; bittend sah die Taube zu ihm empor, da seufzte er und sprach: »Cidli, töte du die Taube, ich habe sie noch immer lieb!« Und eine Träne netzte seine Wangen.

»Wie vermöchte ich doch solches, o ihr Götter!« rief die klagende Cidli. »O habet Mitleid mit uns schwachen Kindern! Noch netzte kein Blut unsre Hände, sie zittern vor dem grausigen Vollbringen. Wollet ihr denn auch das Blut der schuldlosen Tauben, o ihr, die ihr ja selbst die Liebe, das Mitleid seid? Gönnet ihr doch dem kleinen Würmchen das süße Leben, wenn es sich bittend im Staube krümmt. O gewiß, ihr wollet den Tod nicht, das Leben ist euch lieber, das Leben soll euch göttlicher feiern! Medor, binde die Taube nur los; dein Herz hat die Himmlischen verstanden. Unser Opfer wird dennoch zu den Wolken steigen, und die Götter werden uns liebend erhören!«

Und sie lösten die Fesseln der Tauben und trugen sie auf den Altar. Da erhoben sich die Befreiten mit fröhlichen Schwingen und flatterten und stiegen, liebend gesellt, zu dem blauen Aether empor. Jetzt blitzte ihr weißer Fittich noch einmal im Morgenstrahl, bald verschwanden sie in der Glorie des Himmels.

Geblendet wendeten die Kinder die Blicke ab von der strahlenden Höhe und beteten leise, denn ein süßer Trost war in ihr Herz gekommen.

»Cidli, wir bleiben vereint, wie die schimmernden Tauben!« jauchzte Medor. »Das Opfer steigt, und es neigen die Götter sich wohlgefällig zu dem Flehen der Kinder!«


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