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Fanny und Malwina

Komm, Malwina,« rief Fanny zu der fleißigen Schwester, »komm hinaus in den Garten! Laß uns Feierabend machen, denn schon neigt sich die Sonne den Bergen zu und die Luft wird sanft und erfrischend. Siehe, der Frühling ist schön in seiner Pracht, aber ich habe dir noch einen gleich schönen Genuß zugedacht; die Ruhe des Abends, die Stille des Plätzchens dort auf der Terrasse ist so einladend zu geistigem Genuß, darum will ich unfern Lieblingsdichter, den herrlichen Thomson mitnehmen, daß er uns noch schöner die Freuden des Frühlings erkläre!«

So sprach Fanny, und Malwina legte ihre Arbeit hin und folgte der fröhlichen Schwester hinaus in den Garten.

Weiße, süß duftende Schleier hatte der Lenz über den Obsthain geworfen, und dazwischen glühte es lieblich hindurch wie eine jugendliche Aurora, so daß man meinte, die rosigen Pfirsichzweige seien die Verkünder eines neuen Lichtaufgangs, obgleich die Sonne sich längst gegen Westen neigte.

Ueberall wogte das jugendliche Grün in welchen Wellen beim süßen Spiele der Luft; summende Käfer und schwärmende Bienen durchirrten die blühenden Gehege und trieben ihr lustiges Spiel in Strauch und Bäumen. Und die Mädchen setzten sich auf den einsamsten Platz der Terrasse, und Fanny begann Thomsons herrlichen »Frühling« mit Liebe und Andacht zu lesen. Aber je länger sie las, je lauter schienen ihr die Stimmen von außen, je unverständlicher die Laute der eignen Brust, und sie gab Malwina das Buch und sprach: »Versuche du es zu lesen, mir ist es, als verstände ich mich selbst nicht, und doch ist niemand, der uns stört, und die Natur im schönsten Einklang mit dem Gesänge!«

»Fanny,« erwiderte Malwina, »ich liebe wie du den herrlichen Dichter; aber ich vermag nicht zu lesen, jetzt nicht! – Als ich zuerst seinen »Frühling« las, da war es Winter, aber auf seinen Zauberruf erwachten alle Entzückungen des Lenzes in meiner Brust!

Jetzt ist es Frühling – und mir ist, als dürfte ich nicht aus zwei vollen Schalen zugleich trinken, deren jede so Köstliches beut! Siehe, Geliebte, man freut sich wohl innig des wohlgetroffenen Bildes einer teuren Freundin und segnet den Künstler, der die Entfernte uns wiedergab mit dem Ausdruck des Lebens; aber wenn die Freundin nun selbst da ist, hängen wir da nicht viel lieber an ihrer Brust, an ihren Lippen, als an dem Gemälde, und wenn es noch so treu ihre Zuge trägt?«

So sprach Malwina. Da schlug die erste Nachtigall in dem nahen Gebüsch, und ihr sanfter Flötenton goß Seele in die ganze zartentblühte Natur, und die rötlichen Lichter des Abends vergoldeten die weißen Blütengebüsche, und balsamische Düfte zogen umher.

Da legte Fanny das Buch hin und faltete mit Malwina die Hände in stiller Andacht, denn ihre Herzen wallten über vor Entzücken, und sie beteten an, und Gott war in ihrer Seele, indem sie die reiche Herrlichkeit der Natur in sich aufnahmen.

*

Und als sie des andern Tages wieder den Feierabend im Garten zubringen wollten, da fiel ein starker Regen, und die Luft wurde bewölkt und rauh. Da blieben die Schwestern in ihrer Kammer und setzten sich betrübt an ihre Arbeit.

Aber Malwina ergriff das gestrige Buch und begann den herrlichen Gesang zu lesen. Da kam eine Freudigkeit in der Mädchen Herz, gleich der des vorigen Abends, und sie folgten dem Genius des begeisterten Sängers von einer Stufe der Frühlingsseligkeit zur andern und priesen ihn laut, und Fanny rief:

»Wahrlich, Gott hat den Dichter vor allen gesegnet! Trägt er nicht alles, was die Jahreszeiten nur einzeln bieten, vereinigt in seiner Brust? Und kann er nicht auch die düsteren Stellen des Lebens mit dem Licht seiner Phantasie erhellen, daß sie gleich werden den morgenroten Stunden des Maies?«

»Wohl,« erwiderte Malwina, »ist er der erhabene Verkünder Gottes! Laß uns seine tröstende Stimme bewahren für die Tage der Stille, aber da, wo Gott oder die Natur zu uns sprechen, da entbehre das Herz willig des fremden Dolmetschers und empfange in frommer Einfalt das himmlische Wort; denn in solchen Augenblicken haben auch wir das Entzücken des Dichters geteilt!«


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