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Die Winde

O sieh', meine Mutter, welche feine Blume dort am Weidenstamme hängt!« rief Alwina, auf eine weiße Winde zeigend, die ihren Kelch soeben der Sonne geöffnet hatte. »O dürft' ich sie pflücken und mit mir nehmen!«

»Sie ist sehr zart, Alwina,« entgegnete die Mutter, »die leiseste Berührung zerstört das reine Weiß ihrer Blätter!«

»Ich will sie vorsichtig fassen und gar nicht antasten,« sprach die Kleine mit bittendem Blick.

Lächelnd gewährte die Mutter, und bald trug Alwina die schöne, weiße Blume mit sorglichen Händen vor sich her.

»Wie klar, wie rein!« rief sie, entzückt die Schimmernde betrachtend.

»Sie ist ein Bild der Jugend,« sprach die Mutter, »so glänzt auch deine Stirn, Alwina! Gleich der Weide am Bach, die diese Blume vor Wetter und Sonne geschützt, hielt Mutterliebe bis jetzt jeden Sturm von dir fern, und das Leben warf noch keinen Schatten auf dein Angesicht. O möchte es stets freundlich an dir vorüberziehen und kein rauher Hauch dich berühren!«

»Nicht wahr, in meinem Stübchen steht die Blume auch vor Sturm und Sonne geschützt?« frug Alwina nach kurzem Nachdenken. »Ich will recht schnell gehen, damit sie nicht traure, daß ich sie von der Weide entfernt habe.«

Fröhlich hüpfte die Kleine davon. – Als sie aber kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt und wieder auf die Blume blickte, stand sie plötzlich still, bestürzt und tief betrübt, denn der Kelch hatte seinen reinen Glanz verloren und der schnelle Luftzug ihre Gestalt zerstört.

»Ach, wie konnte solches geschehen!« rief sie betrübt, »behütete ich nicht die Blume vor jedem Unfall? Was hat sie also verwandelt?«

»Bis jetzt stand die Blume im Schatten und war vor Wind und Sonne gedeckt,« erklärte die Mutter, »jetzt hat sie zum erstenmal der rauhe Lufthauch getroffen und seine Spuren ihrer Gestalt eingedrückt. So fern du sie jedem Unfall hieltest, du konntest sie den Eindrücken von außen nicht entziehen. Allmählich verwandelte sich ihre Gestalt, gleich dem Menschengemüt, an welchem Zeit, Beispiel und Erfahrung mit trübendem Hauche vorüberziehen.«

»Die arme Blume!« seufzte das Kind. »Ach, Mutter, gibt es kein Land, wo milde Lüfte wehen und solche Blumen ganz rein bleiben?«

Da warf die Mutter einen stillen Blick gen Himmel und sprach: »Wahrlich es gibt ein Land, wo alle Blüten, für welche das Leben zu rauh war, sich in voller Lieblichkeit entfalten werden. Einst, Alwina, werden wir hinüber ziehn; möge bis dahin Gottes Vaterhand dein Leben beschirmen!«


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