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Achtzehntes Kapitel.

Die großen Brüder. – Die Jagd. – Die Begegnung.

 

Ich hätte bei Prinzen wohnen können, so würde ich mich nicht glücklicher gefühlt haben als bei meinen Holzhauern. Sie bewirkten, daß ich das Volk lieb gewann, das gute Volk, das froh bei seiner Arbeit lebt und sich reich fühlt, wenn es seinen Kindern zu den Gemüsen eine Suppe geben kann, die mit einem heitern Gesichte gewürzt ist. Ja, bei diesen bescheidenen Freunden fand ich Würde, Güte und frohen Mut.

Vater und Mutter übten eine wahre Autorität in diesen Hütten, und mein kleiner Freund Hans wurde von seinen großen Brüdern gehörig zurechtgewiesen, wenn er einmal unfolgsam sein wollte. Die großen Brüder waren fünfzehn und siebzehn Jahre alt; sie arbeiteten mit ihrem Vater, und aus dieser Werkstätte unter freiem Himmel ertönten nur freudige Gesänge und lustiges Pfeifen. Alle arbeiteten hart, aber das schlug ihnen wunderbar an, und wenn die Suppe auf dem Tische dampfte, gab es keinen Magen, der nicht geneigt gewesen wäre, ihr alle erdenkliche Ehre zu erzeigen.

Natürlich wohnte ich all ihren Mahlzeiten bei und bekam aus der einen oder andern Hand ebenfalls meinen Anteil. Das schwache Tierchen, das sich so artig betrug und die Gesellschaft der Menschen so sehr zu lieben schien, erregte bei ihnen allen die lebhafteste Teilnahme.

So brachte ich recht angenehm einen Teil des Sommers zu; ich hatte mich an mein hölzernes Bein gewöhnt, und mein Gang war viel weniger schwerfällig geworden als im Anfang. Gleichwohl legte mir der Verlust meines Beines harte Opfer auf. Meine Leichtfüßigkeit war dahin; ja, ich konnte nicht einmal mehr meine Flügel brauchen, weil ich fürchten mußte, daß mein einziger Fuß beim Anprall des Niederlassens den Stoß nicht aushalten würde. Ich war deshalb gezwungen, auf der Erde zu leben, da ich doch so gerne mich auf die Gipfel der Bäume geschwungen hätte. Aber noch schrecklicher wäre es mir gewesen, wenn ich meine Tage in einer widerwärtigen Umgebung hätte zubringen müssen.

Glücklicherweise war nun das letztere nicht der Fall; allein dennoch lebte ich nicht lange in Sicherheit. Als Lene und Hans ihre Einrichtungen trafen, um mich Tag und Nacht in der Hütte zu behalten – denn die Tage begannen bereits kalt zu werden –, hörte ich die Großen über einen bevorstehenden Wohnungswechsel sprechen. Die Arbeit ging zu Ende, und es handelte sich darum, in einen Buchenwald überzusiedeln, um dort für die Schuhe des nächsten Frühjahrs das nötige Holz zu schlagen. Die Hütten machten nicht viel Kopfzerbrechen, denn wo man hinkam, konnte man in wenigen Tagen ein paar andere errichten. Mehr Schwierigkeit machte die Übertragung des kleinen Hausrats, und darüber wurde denn auch oft und lange beraten. Von dem Hausrate kam man schließlich auch auf Buntscheckchen zu reden.

»Ich weiß nicht, wie wir das arme Tierchen weiterbringen sollen«, sagte Franz, der ältere der jungen Leute, »der Wald wimmelt von Füchsen, und das Tier kann ihnen bei seiner Krüppelhaftigkeit nicht entgehen.«

»Lassen wir es bis dahin nur immer leben«, erwiderte Jakob, der jüngere. »Lene und Hans würde es gar zu leid tun, wenn sie sähen, daß es getötet würde.«

Diese Unterredung bewies mir zwar, daß man mich gern hatte; aber im Grunde empfand ich doch darüber eine sehr gerechtfertigte Beunruhigung. Vorsichtigerweise verließ ich Lene oder das Kind nicht mehr. Dem letzteren hatte man aus einem alten Unterrocke seiner Mutter einen Anzug zurecht gemacht. Wie sah der Knabe so drollig aus in den weiten Hosen und der Tuchweste, auf welche er übrigens sehr stolz war! Aber er bedauerte lebhaft, daß er sein früheres Häubchen weglegen sollte. Dasselbe hatte nämlich Bänder, während er jetzt ein Hütchen trug, das ihm der Wind jeden Augenblick fortnahm. Er suchte daher sein Häubchen wieder hervor und sah in Hosen und Häubchen zu komisch aus; daraus machte er sich aber nichts, denn im Walde sah ihn ja doch niemand. Nur des Sonntags, wenn er mit seiner Mutter in die Kirche des nahen Dorfes ging, trug er seinen Hut.

Der Kleiderwechsel war übrigens nur eine Vorbereitung zu einem andern Wechsel in der Lebensweise meines kleinen Freundes Hans. Er hatte noch keine acht Tage sein Röckchen mit den Hosen vertauscht, als er die Ankündigung bekam, daß es nächsten Montag in die Schule ginge. Hans nahm diese Ankündigung keineswegs freundlich auf. Schon das bloße Wort »Schule« erregte seinen heftigen Zorn, und mit einer Entschiedenheit, welche man dem kleinen Burschen nicht zugetraut, erklärte er, daß er lieber in den Hütten bleiben und spielen wolle.

Aber der Vater kam und gab dem empörten Burschen einige gelinde Ohrfeigen, welche eine beruhigende Wirkung auf ihn äußerten.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Seine Mutter und Lene gaben sich den ganzen Tag über alle erdenkliche Mühe, um Hans über den erschrecklichen kommenden Montag zur Vernunft zu bringen. Wenn sie sich aber heiser geplaudert und meinten, sie hätten ihn einigermaßen mit seinem Lose versöhnt, dann fing er an zu heulen: »Ich will aber nicht in die Schu...u...u...u...le.«

Für mich dachte ich, daß das doch gar zu arg sei; ich bedauerte seine Umgebung und hätte ihn gern ermuntern wollen, etwas folgsamer und minder ungebärdig zu sein.

Am folgenden Montag war ich dabei, als er angezogen wurde; es war einer der stürmischsten Auftritte, die ich je erlebt: er wollte sein Häubchen aufsetzen, barfuß laufen und sträubte sich mit allen Kräften gegen das Waschen. Lene mußte ihm die beiden Hände halten, während seine Mutter ihm das Gesicht wusch; und während sie ihm die Hände reinigte, machte er sich das Gesicht wieder schmutzig. Jetzt sollte er beten, aber er war auch böse mit dem lieben Gott, bis seine Mutter seine Hand ergriff und mit Gewalt das Kreuz machte. Endlich war der neue Schüler fertig; er hatte neue Holzschuhe an den Füßen, sein Hütchen auf dem Kopf, sein Buch unter dem Arm, ein dickes Stück Brot und eine schöne Speckschnitte in Blätter eingewickelt in der Tasche, dazu aber ein grämliches, verweintes Gesicht und ein entsetzlich schief gezogenes Mäulchen.

Lene nahm ihn bei der Hand und zog ihn einige Schritte fort; seine Mutter, die bald einsah, daß er so nicht vorwärts kommen würde, schnitt sich endlich eine Gerte und kam hinter den beiden drein. Wenn er dann durchbrennen oder stehen bleiben wollte, wies sie ihm mit ihrem einfachen Instrumente den richtigen Weg.

Ganz zuletzt humpelte ich. Ich war einerseits empört über das Benehmen des Jungen, anderseits aber war ich auch neugierig darauf, ob man ihn in solcher Weise bis in die Schule führen würde.

Bei der ersten Lichtung umarmten ihn Lene und seine Mutter nochmals, wobei sie ihm empfahlen, recht geschickt zu sein und seine Aufgabe gut zu lernen. Er weinte dazwischen unaufhörlich, und als seine Mutter und seine Schwester fort waren, warf er Hut, Buch und Brot auf die Erde und wälzte sich voll Verzweiflung im Moose. Ich sah ihn mitleidig an, denn dieser Ausbruch eines kindischen Zornes kam mir wirklich höchst erbärmlich vor. Auf einmal hörte ich Lachen und Singen, das immer näher kam. Hans hörte dasselbe ebensogut wie ich; ich glaubte, er schämte sich, denn plötzlich sprang er auf und raffte Hut, Buch und Brot zusammen. Kaum war er damit zu Ende, kamen drei kleine Knaben auf einem Waldwege über die Lichtung. Sie gingen unter allerlei Späßen zur Schule und trugen ihre Bücher mit einer Kordel zusammengebunden unter dem Arm.

»Ah, da ist der Kleine von den Hütten«, sagte einer derselben. »Kommst du mit in die Schule, Hans?«

»Ja«, sagte dieser, seine Tränen aus Scham zurückhaltend, und dann folgte er ihren Schritten mit stolz gehobenem Kopfe.

Als ich mich, noch lächelnd über die entschlossene Miene, welche das Bürschchen plötzlich angenommen, umkehrte, bemerkte ich seine Mutter und Lene, die, hinter einem Busche verborgen, alles gesehen und gehört hatten.

Abends kam Hans halb lachend halb weinend nach Hause; er hatte seine Aufgabe hergesagt, von einem Großen einen Rippenstoß bekommen und mit den Kleinen sich trefflich unterhalten, die er gelehrt hatte, Pfeifen aus Holunderzweigen zu schnitzen.

Am folgenden Tage sträubte er sich immer noch, aber weniger, in die Schule zu gehen. Nach und nach gewöhnte er sich jedoch daran und wurde schließlich ein ganz guter Schüler.

Am Donnerstag begannen wir wieder unser umherschweifendes Leben, und da die Unterhaltung der Größeren mir nicht aus dem Gedächtnis kam, gingen mir tausend ausschweifende Pläne durch den Kopf.

An diesem Tage wurde keine Schule gehalten, und Hans konnte sich daher mit mir beschäftigen. Ich wollte mich einmal umsehen, ich hatte keine Ahnung, wie weit die gute Familie, bei der ich mich befand, wegziehen würde; ich wollte auch sehen, was denn eigentlich hinter den Bäumen sei, welche mir die Aussicht versperrten. Es war mir nicht schwer, Hans zu einem weiteren Ausfluge zu verlocken; ich brauchte nur voranzuhumpeln, so ging mir der Knabe nach. Allein zu gehen wagte ich nicht, ich fürchtete, mich zu verirren und meinem Feinde, dem Fuchse, zu begegnen, dessen heimtückische Gewohnheiten ich jetzt kannte.

Was ich fand, befriedigte mich nicht sonderlich; ich hatte geglaubt, daß der Ausgang des Waldes nahe sei und daß ich in dem freien Lande leicht einen Zufluchtsort finden könne, wenn ich einmal infolge des Umzuges der Holzschuhmacher gezwungen sei, mich anderswo unterzubringen. Aber wie weit ich auch ging, kam ich doch aus dem Dickicht auf eine Lichtung und von der Lichtung in ein Dickicht, und so ging es endlos fort. Plötzlich hörte ich eigentümliche Töne, welche meinen kindlichen Begleiter in große Aufregung zu setzen schienen. Er brach in den Ruf aus: »Die Jagd! die Jagd!« und sprang dann, so rasch er konnte, vorwärts.

Das ging so schnell, und außerdem war Haus so klein, daß ich ihn bald aus den Augen verlor. Ich fuhr aber fort, immer in derselben Richtung zu hüpfen. Da kam ich an einen Kreuzweg und wußte nun nicht, wohin. Ich blieb oben auf der Böschung sitzen und dachte darüber nach, was wohl die Töne bedeuteten, die ich gehört. Es war ein wahres Trompetengeschmetter, welchem von Zeit zu Zeit ein wütendes Bellen antwortete. Ich fragte mich nicht ohne gewisse Beklemmung, wie nur alle diese Hunde hätten zusammenkommen können?

Mir gegenüber erstreckte sich eine weite Lichtung; plötzlich bemerkte ich ein schönes Tier, das zögernden Schrittes über dieselbe ging. Die Ohren waren gespitzt, als ob es lausche. Das Tier hatte dieselbe Anmut wie ein Reh, nur war es viel größer und stärker. Auf dem Kopfe trug es ein weitzackiges Geweih, das aus der Stirne hervorzuwachsen schien. Auf einmal tönten Hörner, wütendes Bellen erscholl, und das Tier jagte in rasendem Laufe über die Lichtung. Hinter ihm brachen auf allen Fußsteigen Hunde und Menschen zu Fuß und zu Pferd aus dem Dickicht und folgten der Spur des Flüchtlings, welcher wie der Blitz im Walde verschwunden war.

Dieses mir völlig neue Schauspiel erweckte meine rege Teilnahme; ich suchte mir einen bequemen und etwas erhöhten Platz, um eine bessere Umschau halten zu können. In diesem Augenblick bogen sich vor mir die Zweige auseinander, ein junger Mann erschien und stieg auf den Weg hinunter. Derselbe war wie alle, welche an mir vorübergekommen, in eine graue Joppe mit großen, glänzenden Knöpfen gekleidet. Er hatte elegante, hohe Stiefel und eine runde Reitkappe auf. Über seiner Schulter hing eine Flinte und an einem Bande ein Horn, das wie Gold glänzte. Der junge Mann nahm einen Augenblick seine Mütze ab, um den Schweiß von seiner Stirne zu trocknen. Ich sah bei dieser Gelegenheit sein volles Gesicht und erkannte auf der Stelle Heinrich, den Vetter Kamillas.

Ich erinnerte mich seiner ganz genau; es war sein rundes Antlitz, es waren seine blauen Augen, sein blonder Schnurrbart, seine offenen, geistvollen Züge.

Er schaute eine Weile vor sich, dann setzte er das Horn an den Mund und entlockte ihm Töne, die ich bezaubernd fand. Zwei Reiter kamen langsam die Straße herab, ein Herr und eine Dame. Der Herr stand bereits in männlichem Alter, aber die Dame schien mir noch sehr jung zu sein. Sie kamen näher, und als die Dame ihren langwehenden Schleier zurückschlug, erkannte ich mit freudig aufjauchzendem Herzen Kamilla.

Ihr Anblick versetzte mich in einen wahren Taumel. Ohne auf mein hölzernes Beinchen Rücksicht zu nehmen, hüpfte ich auf die Böschung. Ich tänzelte auf dem einen Fuße herum und stieß alle möglichen Schreie aus; aber meine Bewegungen blieben unbeachtet, und mein Geschrei mußte man wohl infolge des im Walde herrschenden Lärmes überhört haben, denn die drei begannen sofort eine völlig ruhige Unterhaltung.

»Ich glaube, der Hirsch ist gefallen«, begann Heinrich, »ich habe das Halali gehört, als ich hier ankam. Geben Sie sich also nicht die Mühe, weiter zu gehen.«

»Armes Tier«, sagte Kamilla, die inzwischen viel größer geworden war; aber sie war doch dieselbe geblieben.

»Wo hast du dein Pferd gelassen, Heinrich?« fragte Herr Dauler.

»Ich habe es an einen Baum in der Lichtung gebunden, Onkel; wollen Sie mich an dem Jagdwagen erwarten; ich werde mich dort anschließen.«

Sie waren im Begriff, sich zu entfernen. In der Verzweiflung vergaß ich, daß ich ein Krüppel sei. Ich flog nach einem Zweige, auf welchem ich mich natürlich nicht halten konnte, und fiel mitten in den Weg.

Heinrich fuhr zusammen. Er kehrte sich um und bemerkte mich.

»Ich glaubte, es sei ein Hase, den meine Hunde aufgejagt und der mir zwischen die Beine lief«, sagte er lachend. »Es ist ein Huhn. Aber sonderbar, es hat ein hölzernes Beinchen«, fügte er bei.

Er hatte mich aufgehoben und prüfte neugierig mein Bein.

»Heinrich«, sagte plötzlich Kamilla, welche über den Hals ihres Pferdes gebeugt mich von weitem betrachtete.

Er hob den Kopf in die Höhe.

»Es ist Buntscheckchen!«

Nein, in meinem Leben vergesse ich den Ton dieser Stimme nicht; mein Herz schlug, wie noch nie das Herz eines Huhnes geschlagen.

»Aber ... in Wahrheit ... es sieht ihm ähnlich ... abgesehen von dem Bein ...«

»Heinrich, bringe es mir her, ich bitte dich!« unterbrach Kamilla die Betrachtungen ihres Vetters.

Ich ging in die Hände Kamillas über, die ausrief:

»Es ist's! Freilich, es ist's! Vater, sieh einmal, mein armes Buntscheckchen! Welch ein Abenteuer! Ich kann es doch mitnehmen, nicht wahr?«

»Liebes Kind, ich glaube nicht, daß du dazu ein Recht hast, und vor allem: ist es auch wirklich Buntscheckchen?«

»Natürlich, Vater; so sieht ja kein anderes Huhn aus; außerdem sehe ich da am Halsgefieder noch die Spuren davon, wie ich ihm einmal die Federn schnitt, um es herauszuputzen. Freilich, es ist's, und es gehört mir!«

»Frage einmal diese Kinder, ob es dir gehört«, erwiderte Herr Dauler.

Auf der Böschung des Weges waren Hans und hinter ihm Lene erschienen.

»Wißt ihr, wem dieses Huhn gehört, Kinder?« fragte Kamilla.

»Uns!« schrie der Junge, »uns gehört's!«

»Habt ihr es schon lange?« fragte Kamilla weiter. »Von wem habt ihr es gekauft?«

Lene erwiderte, daß sie mich nicht gekauft hätten, und erzählte darauf unser erstes Zusammentreffen.

»Also, Vater, kann ich wohl von meinem Hühnchen wieder Besitz ergreifen! Heinrich, sei so gut und gib dieser Kleinen fünf Mark.«

Heinrich zog seine Börse und gab den gewünschten Betrag Lenen, die ihren Augen nicht trauen wollte, als sie das große Geldstück sah. Der arme Junge dagegen kannte zwar den Wert, den ich als sein täglicher Spielkamerad für ihn hatte, aber nicht den Wert des Geldes; er war minder zufrieden über den Tausch und betrachtete mich zudem noch als ein ihm gehöriges Eigentum.

»Ich will mein Huhn haben!« schrie er und warf wütend seinen Hut auf die Erde; »Lene, nimm ihr mein Huhn ab!«

Kamilla warf dem Jungen einen mitleidigen Blick zu; aber sie setzte ihr Pferd in Trab und entzog sich damit den entrüsteten Forderungen des kleinen Hans.

Das war nun für ein Huhn eine ganz ungewöhnliche Art, zu reisen. Ich war schon gegangen und geflogen; ich war auf Karren und Heuwagen gefahren; ich war einmal in einer Rocktasche und ein anderes Mal in einem linnenen Sacke getragen worden; jetzt saß ich zu Pferde. Fand ich etwas dabei zu beklagen? Ich war auf dem Gipfel des Glückes, und die Reihe der Prüfungen, die ich hinter mir hatte, schien mir in dieser wunderbaren Weise zu enden.

Herr Dauler und Kamilla kamen, nachdem sie etwa fünf Minuten durch den Wald geritten waren, zu einem großen, runden, freien Platze. Hier mußte der Sammelpunkt der Gesellschaft gewesen sein; denn auf dem Platze hielten viele Wagen, und unter denselben bemerkte ich eine große Kutsche mit zwei Grauschimmeln, und am Schlage stand ein schwarzer Livreebedienter. Ich erkannte Wagen und Pferde von Burbach und meinen Freund Sansi. Kamilla zeigte mich ihrer Mutter, die in der Kutsche saß, und Sansi, welcher mir ebenfalls seine alte Freundschaft bewahrt hatte. Man bedauerte herzlich meine Verstümmelung, und alle schienen froh zu sein, daß sie die Ungerechtigkeit, deren Opfer ich war, wieder gutmachen konnten. Von den Armen Kamillas ging ich in die Arme Sansis über. Dieser scheute sich nicht, mich auf den Schoß zu nehmen, und beeilte sich, dem Kutscher das Abenteuer mit der Viper zu erzählen.

So kehrte ich triumphierend in das Herrenhaus von Burbach zurück.

Im Augenblick, da die Kutsche von der Landstraße abbog, überkam mich eine grausame Erinnerung. Würde ich Trine wiederfinden und unter ihre übelwollende Herrschaft zurückfallen? Ich fand kaum Zeit, dieser Sorge mich hinzugeben, als ich ein Weib bemerkte, welches, einen Pack unter dem Arme, unter zornigen Gebärden sich entfernte.

»Da ist Trine, die fortgeht«, sagte Sansi zum Kutscher; »wenn das die Tiere wüßten, welche sie zu besorgen hatte, wären sie froh.«

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»Ich will mein Huhn haben!«

»Sie ist also endgültig entlassen, Sansi?«

»Ja. Heute morgen ist's fertig geworden. Sie hat mit ihrem Holzschuh ein kleines Truthähnchen, an welchem das Fräulein großes Vergnügen hatte, totgeschlagen.«

»Das ist doch ein boshaftes Weib, Sansi!«

»Das will ich meinen.«

Der Wagen fuhr durch das Gittertor des Herrenhauses, und nachdem Sansibar von seinem Sitze herabgestiegen, brachte er mich in den großen Hühnerhof, woselbst ich früher gelebt und unter der Herrschaft Trinens gelitten hatte. Abgespannt von all diesen Gemütsbewegungen, streckte ich mich regungslos auf den Sand. Einige neugierige Hühner kamen herbei und kehrten bald zu ihren gewöhnlichen Beschäftigungen wieder zurück. Ein alter Hahn, der den Kopf erhoben hatte, als er das Gatter öffnen hörte, steckte den Schnabel geschwind wieder unter seine Federn. Die Jugend schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Nur die ganz kleinen Küchlein entfernten sich nicht, und die vorwitzigsten sprangen sogar mit der ihrem jugendlichen Alter eigentümlichen Vertraulichkeit auf mir herum.

Ich war in Burbach fremd geworden; aber nach einigen Tagen schon hatte ich meine alten Gewohnheiten wieder aufgenommen und mich mit jedermann bekannt gemacht.

Ich war nicht mehr die Landstreicherin von früher: schwere Zeiten hatten mein Urteil gereift und meinen Gedanken eine sehr ernste Richtung gegeben. Ich fühlte, daß mein Abenteuerleben zu Ende war. Unter dem Schutze Kamillas und Sansibars, von jedermann gekannt und von der Nachfolgerin Trinens, einem jungen, sehr sanften Mädchen, sorgfältig gepflegt, hatte ich nur den einen Wunsch noch: daß man mich leben lasse, und in müßigen Stunden empfand ich das eigentümliche Verlangen, meine bescheidenen Erlebnisse zu beschreiben.

Das Studierzimmer Kamillas stand mir offen; ich verbrachte dort ganze Tage, meine Erinnerungen in ein Heft kritzelnd, welches ich in dem letzten Fache der Bibliothek versteckte. Am Tage, da ich die letzte Zeile schrieb, hörte ich von dem Besuch einer Schriftstellerin reden. Diese Neuigkeit machte großen Eindruck auf mich. Ich zog mich in das kleine Studierzimmer zurück, zerrte das Heft, in welchem ich in einer unförmlichen, aber völlig lesbaren Schrift meine Abenteuer beschrieben, hervor und blätterte nachdenklich in demselben. Welcher Ruhm wäre es für mich, wenn ich mich gedruckt sähe, dachte ich bei mir, und da mein Verstand in vielem dem der Menschen glich, warum sollte ich da nicht versuchen, mein Andenken über mein Leben hinaus zu erhalten?

Ich kam von einem Gedanken zum andern, und schließlich sagte ich mir, daß die Geschichte Buntscheckchens ebensogut eine Geschichte wäre wie jede andere. Ich nahm hurtig ein weißes Blatt Papier und schrieb darauf folgende Notiz:

»Buntscheckchen, das seine Erlebnisse beschrieben, bittet, dieselben dem Urteil eines Verlegers zu unterbreiten.«

Ich steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb die Adresse der Schriftstellerin darauf, und als ich Stimmen hörte, welche mir die Ankunft des erwarteten Besuches andeuteten, nahm ich meinen Brief in den Schnabel und stellte mich oben auf die Treppe. Die Sache war zu auffallend, als daß sie nicht bemerkt worden wäre. Kamilla rief:

»Sehen Sie, Buntscheckchen hat ein Papier in seinem Schnabel!«

Sie bückte sich, nahm es mir ab und reichte es ihrer Freundin mit den Worten hin: »Es ist an Sie gerichtet.«

Die Dame las den Inhalt laut. Man war sehr erstaunt, man eilte nach der Bibliothek, ich brachte mein Manuskript herbei, und Kamilla las es laut vor. Das gab ein Lachen und Überraschungen ohne Ende. Schließlich versprach die Dame, mit einem großen Verleger zu sprechen, und ich habe jetzt die Gewißheit eines größeren oder beschränkteren Nachruhms. Dies schmeichelt mir ungemein, aber dann kommen mir wieder die Worte des Pfarrers ins Gedächtnis und zerstreuen die Rauchwolken meiner Eitelkeit.

Ist es denn so wünschenswert, zu leben, wenn man nach dem Tode nicht weiterlebt, und was ist das bißchen rein menschlichen Ruhmes, der nur eine Spanne Zeit hindurch dauert? Ach, mögen es meine künftigen Leser wissen: meine geistigen Fähigkeiten, meine Erfolge, mein Leben gäbe ich hin, wenn ich damit eine Seele erlangen könnte!

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