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Zweites Kapitel.

Der Tod Jakobs. – Ich ersetze denselben.

 

Als ich eines Morgens erwachte, fror ich ganz entsetzlich. Ehe ich noch die Augen öffnete, machte ich eine unwillkürliche Bewegung, um mich unter dem Flügel meiner Mutter näher an dieselbe anzuschmiegen. Ich bekam aber nur einen derben Schnabelhieb, der mich vollends zu mir brachte. Meine Mutter war fort, und ich saß allein zwischen zwei Hühnern, die ich recht wohl kannte; es waren eigensinnige, bösartige alte Gerippe, dürr und zäh wie Zaunpfähle und bissig wie böse Hunde; das eine hatte mir, als ich mich nur rührte, fast das Auge ausgepickt. Den ganzen Tag über suchte ich meine Mutter im Stall und Hof; vergeblich! Nie hat wohl eines Hühnchens Herz eine größere Verzweiflung gefühlt als das meine an diesem Tage. Um meinen Kummer zu vermehren, kam auch noch Freund Selbstverständlich nicht, und so verbrachte ich denn sehr trübselige Stunden.

»Dein Pate ist krank, Buntscheckchen«, sagte Frau Rau am Abend des dritten Tages zu mir und kehrte sich dann zu einer Nachbarin, welche gekommen war, um Milch zu holen: »Es sind jetzt schon zehn Jahre, daß er wegen der beiden Eier kommt, und in dieser ganzen Zeit ist er nicht ein einziges Mal ausgeblieben.«

Als ich am folgenden Tage 4 Uhr schlagen hörte, schlüpfte ich auf die Straße hinaus und schaute wie gewöhnlich, ohne etwas dabei zu denken, nach der Richtung, woher mein alter Freund zu kommen pflegte. Welche Freude ergriff mich, als ich ihn auf unser Haus zuschreiten sah!

Er kam nicht sachte und abgemessen, wie gewöhnlich, sondern stürmte wie ein Wirbelwind an mir vorüber, ohne mich auch nur zu sehen. Ganz außer Atem kam er zu Frau Rau, welche gerade allein war und ihn auf das freundschaftlichste empfing.

»Sind Sie krank gewesen?« fragte sie ihn.

Herr Selbstverständlich sah in der Tat bleicher aus als gewöhnlich; seine langen, grauen, stets wohl geordneten Haare hingen ihm verwirrt auf den Nacken, und er schien sogar, was sonst nie der Fall war, Eile zu haben.

»Ich war nicht krank, liebe Frau«, erwiderte er, während er das schwarze Säckchen der Frau Rau hinreichte. »Aber selbstverständlich vermuten Sie, daß mir irgend etwas zugestoßen ist. Ach ja, ich habe eine große Prüfung durchzumachen gehabt.«

Herr Selbstverständlich seufzte tief auf und fügte dann leise bei:

»Jakob, der Papagei meiner Mutter, ist plötzlich gestorben.«

Frau Rau nahm dies wichtige Ereignis äußerlich ziemlich gleichgültig auf. Sie sagte nur:

»Ihre Frau Mutter hielt wohl viel auf das Vieh?«

»Selbstverständlich«, erwiderte ihr Kunde in einem Tone, als ob er tief darüber gekränkt sei, daß man so etwas überhaupt habe fragen können. »Er war ihre Zerstreuung, ihre Gesellschaft. Der schreckliche Unfall hat sie ganz außer sich gebracht, so daß ich bei ihrer schwankenden Gesundheit schwere Besorgnisse hegte. Heute geht es ihr wieder besser, selbstverständlich viel besser.«

»Nun, Sie werden ihr einen andern Papagei kaufen, und das wird die gute Frau wohl trösten.«

Herr Selbstverständlich warf ernst den Kopf zurück.

»Sie kennen meine Mutter nicht«, sagte er. »Jakob wird nie ersetzt werden, nie! Selbstverständlich! Wir werden keinen Papagei mehr haben, und wenn ich meine Mutter nur dazu bewegen könnte, daß ein Kanarienvogel oder ein anderes Vögelchen in Jakobs Käfig käme, wäre ich schon recht froh. Ach, wenn ich nur einen Vogel finden könnte, der sie über den Verlust trösten würde, so möchte ich ja gerne bis ans Ende der Welt suchen.«

»Sie werden wohl einen finden, ohne so weit gehen zu müssen«, sagte Frau Rau und hielt ihm das Säckchen mit den beiden Eiern hin. »Wollen Sie Buntscheckchen?«

Ich hockte auf meinen Füßen und hörte ohne besondere Teilnahme der Unterhaltung zu; das aber war eine höchst unerwartete Wendung; ich richtete mich auf und streckte den Kopf in die Höhe, um besser hören zu können.

»Das ist nicht übel: Buntscheckchen ist reizend«, erwiderte der alte Schreiblehrer und ließ seine Augen rings umherschweifen, um mich zu suchen. Er bemerkte dabei nicht, daß er mit den Absätzen seiner Lackschuhe fast auf mich trat. »Ich habe oft von Buntscheckchen mit meiner Mutter gesprochen, und sie möchte es gerne einmal sehen; aber ich will Sie nicht berauben, Frau Rau, und der kleine Peter würde darüber nicht geringen Kummer haben.«

»Dem will ich allerdings nicht widersprechen, aber wenn ich auf den Knaben hören wollte, so käme nicht ein einziges Huhn aus dem Hofe. Er kam schon außer sich über die Mutter Buntscheckchens, deren ich mich schon ihres Alters wegen entledigen mußte. Wenn Ihnen also das Hühnchen gefällt, so nehmen Sie es nur. Es ist das drolligste Tier, das ich mir denken kann; aber für einen Milchhandel taugt's nicht, und wenn Sie es nicht nehmen, so kommt es binnen kurzem in die Bratpfanne oder an den Spieß.«

Ich verstand zwar noch nicht den ganzen Sinn dieser Worte, aber doch überlief es mich kalt vom Kamme bis zum Fuße, als ich sie hörte.

»Aber Sie wissen vielleicht nicht, wohin mit dem Tierchen?« fragte Frau Rau weiter.

»Um Vergebung«, schrie Herr Selbstverständlich der Verkäuferin ins Ohr, »wir haben einen großen Hof!« Damit steckte er seine beiden Eier in die Tasche und beschrieb dann mit ausgebreiteten Armen einen Kreis in der Luft, um die ungeheure Ausdehnung des Hofes besser zu bezeichnen. »Wir haben ein recht niedliches Gärtchen mit Fruchtbäumen darin, und ausgezeichnete Nachbarschaft.«

»Aber keine Hühner?«

»Selbstverständlich, nein. Der Eigentümer duldet kaum die Käfige, die man vor die Fenster hängt.«

»Ja, wo wollen Sie denn da Buntscheckchen hinbringen?«

»Ah, das wäre in unserem Holzställchen gut aufgehoben, und da es nicht auf dem Hofe herumstrolchen könnte, würde ich es unter einen großen Korb setzen; das wäre ein ganz reizender Käfig, ein wahres Häuschen.«

»Nun, wenn Sie es brauchen können, nehmen Sie es«, sagte Frau Rau, bückte sich rasch und ergriff mich, ehe ich noch daran denken konnte, mich zu retten.

»Wie, es war da? So nahe bei mir?«

»Ja, es streckte das Köpfchen in die Höhe, als ob es jedes Wort verstände. Es ist ein gar drolliges Tierchen, und Sie werden vielen Spaß mit ihm haben; ich würde aber kaum Nutzen von ihm ziehen können. Aber wie werden Sie es fortbringen? Soll ich Ihnen einen Korb geben?«

»Nein, nein; was würde meine Mutter sagen, wenn ich einen Korb über die Straße trüge! Sie hat in diesem Punkt ihre eigenen Ansichten. Selbstverständlich! Geben Sie her, ich will es schon unterbringen.«

Damit faßte er mich mit der linken Hand und steckte mich ohne Umschweife in eine Tasche seines weiten Überziehers. »Ganz gut«, sagte Frau Rau; »es ist nicht größer als eine Faust, Sie können es so überall mitnehmen. Bitte, lassen Sie mich noch einmal sehen.«

Ich glaubte, sie wollte mir noch einen zärtlichen Abschiedskuß geben, wie das Melina tat; aber Frau Rau war durchaus nicht gefühlvoll; sie betastete mir einfach den Kropf und sprach:

»Es hat sich vollgefressen; Sie können es mitnehmen, mein Herr!«

Ich reiste ab, eingequetscht zwischen den langen, trockenen Fingern des Herrn Selbstverständlich wie in einer Beißzange. Tausend Gedanken wirbelten durch mein armes Köpfchen; ich dachte mit tiefem Bedauern an die holländischen Kühe, an das braune Pferd, an meine Kameraden vom Hühnergeschlechte, an Melina, die Näherin, die Familie Rau, selbst an den alten Schuhflicker; aber doch reizte mich das Unbekannte meiner Zukunft, ich empfand eine unbeschreibliche Neugier, was jetzt kommen würde, und dies Gefühl half mir den Schmerz überwinden. Ich war eben noch sehr jung und hatte daher gar wenig Erfahrung.

Meine Art zu reisen gestattete mir nicht, unterwegs Beobachtungen anzustellen, und ich kam in das Haus des Herrn Selbstverständlich, ohne es von außen gesehen zu haben.

Ich wußte, daß wir am Ziele angekommen waren, als ich meinen neuen Herrn mit der an ihm gewohnten Stimme laut schreien hörte:

»Mutter, rate, was ich dir bringe?«

»Eier, ohne Zweifel«, erwiderte eine matte und krächzende Stimme.

»Viel Besseres noch, viel Besseres! Rate!«

»Julius, ich kann diese Späße nicht leiden; du bist ein großes Kind, weil du deiner alten Mutter immer Rätsel aufgibst.«

»Wohlan denn, so sieh selbst!«

Herr Selbstverständlich zog seine linke Hand aus der Rocktasche und hielt mich triumphierend seiner Mutter so nahe ans Gesicht, daß ich dicht unter der Nase einer alten, ach, sehr alten Frau saß. Der Empfang, den ich fand, war indes kein freundlicher; sie fuhr wie erschrocken zurück und gab mir einen derben Klapps auf den Schnabel.

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»Schaffe mir das Tier fort, Julius!«

»Schaffe mir das Tier fort, Julius, das ist ja ein Huhn!«

»Ja, ein Huhn ist's, selbstverständlich; aber es sieht aus wie ein Rebhuhn. Sieh nur dies Köpfchen, dies Gefieder! Nein, mein Buntscheckchen ist kein gewöhnliches Huhn!«

»Das also ist dein Buntscheckchen? Altes Kind!«

»Buntscheckchen ist's, selbstverständlich; Frau Rau hat es mir für dich gegeben.«

»Um eine Kraftbrühe daraus zu machen?«

Ich fühlte die Finger, die mich hielten, erbeben.

»Nein, nein, als eine kleine Kostgängerin, als ein häusliches Rebhuhn, welches zu unserer Zerstreuung dienen soll. Du wirst sehen, welchen Spaß wir an dem Tierchen haben werden.«

»Armer Julius, ich begreife nicht, wie du dir solche Dinge einbilden kannst; gehe weg mit deinem Huhn!«

»Selbstverständlich, Mama; aber ich wünschte, daß du das Tierchen einmal hüpfen sähest.«

Er bückte sich, um mich auf den Fußboden zu setzen, und als er fühlte, daß ich seiner linken Hand entglitt, wollte er mich instinktmäßig mit der rechten erhaschen. Ich hörte ein ganz leises Krachen. Herr Selbstverständlich richtete sich rasch in die Höhe und rief bestürzt:

»O weh, die Eier!«

Leider war die Omelette fertig. Er entfernte sorgfältig sein rotes Halstuch, und als er die Weste öffnete, lief ihm die gelbe Brühe das Hemd herunter. Im Zimmer verbreitete sich der Duft zerbrochener Eier.

»Aber was hast du denn gemacht? an was denkst du nur?« sagte die alte Dame, indem sie sich erregt aufrichtete. »Ehe du dich mit diesem Vieh beschäftigtest, hättest du doch die Eier in Sicherheit bringen müssen.«

»Selbstverständlich, Mutter, selbstverständlich; aber ich glaube, eins ist noch ganz«, erwiderte der Unglückliche, während er das schwarze Säckchen hervorschob, aus welchem die Brühe troff. »Ja«, versicherte er freudig, nachdem er einen Blick in das Säckchen geworfen; »dein Ei ist unversehrt. Ich bitte, zünde die Spirituslampe an; ich komme sogleich wieder, um dein Essen zu bereiten.«

Er nahm mich, brachte mich in einen dunklen Gang, stellte mich dort hin und verschwand dann wiederum in das Zimmer.

Glücklicherweise hatte dieser Gang ein kleines, offenstehendes Guckloch. Ich schwang mich auf ein zur Seite stehendes Tischchen und von da auf die Brüstung, um einen Blick ins Freie zu werfen.

Ach, welche Enttäuschung! Ich erwartete doch zum mindesten einen ähnlich belebten Hof wie bei Frau Rau; aber ich sah einen engen, gepflasterten Raum, ringsum von alten, baufälligen Häusern umgeben, und an jedem Fenster hing ein Käfig. Längs der Mauer zog sich ein schmaler Erdstreifen hin, und auf diesem Erdstreifen standen einige höchst kümmerlich dreinschauende alte Sträucher. Das war der freundliche Garten mit Fruchtbäumen drin, das der geräumige Hof! Ich sah noch Herrn Selbstverständlich vor mir, wie er mit beiden Händen den Kreis am Himmel beschrieb, als ob, um den Raum dieses Hofes und Gartens anzudeuten, gar nicht Platz genug auf der Erde sei.

Seitdem begriff ich erst, welchen possierlichen Gebrauch die Menschen von einer ihnen eigentümlichen Gabe machen, die sie Einbildungskraft nennen. Aber als Herr Selbstverständlich Besitz von mir ergriff, war mein Mangel an Erfahrung noch so groß, daß ich meinte, sein Hof sei wirklich so umfangreich, wie er ihn beschrieb; jetzt fühlte ich mich aufs äußerste entmutigt.

Als Herr Selbstverständlich wiederkam, fand er mich traurig in einer Ecke kauernd. Vergebens streute er die schönsten Brotkrumen, die er erst im Wasser aufgeweicht hatte, vor mich; mein Magen war wie zusammengeschnürt, und ich hätte nichts essen können.

»Du schläfst im Stehen, armes Buntscheckchen«, sagte der treffliche Mensch; »warte, ich will dich in dein Schlafkämmerchen bringen.«

Er brachte mich in eine Küche, neben welcher ein kleiner, mit Holz und Kohlen angefüllter Raum sich befand. Dort setzte er mich in eine Ecke und stülpte einen großen, von Weiden geflochtenen Korb über mich. Ich gestehe, mich erfaßte ein mächtiger Zorn, als ich mich unter diesem Korbe sah, und wütend hüpfte ich in demselben hin und her.

Das also war das reizende Vogelhäuschen, das er in so lachenden Farben der Frau Rau geschildert hatte! O Einbildung! Einbildung!

Wenn ich nicht von Natur munter und aller Listen voll gewesen, so wäre ich vor Langeweile in diesem sonderbaren Käfig gestorben, oder, was noch viel schlimmer gewesen, meine geistige Kraft wäre vollends versteinert.

Aber glücklicherweise hatte ich, obwohl noch ein ganz kleines Ding, ausgezeichnete Anlagen; meine geistige Spannkraft war nicht gering anzuschlagen, und selbst in dieser Stunde der Angst faßte ich den Entschluß, gegen mein böses Schicksal zu kämpfen. Wenn es auch nicht in meiner Macht stand, meiner niederträchtigen Lage mich gänzlich zu entziehen, so wiegte ich mich doch in die Hoffnung, daß ich sie verbessern könne.

Ungeachtet meiner männlichen Entschlüsse schlief ich sehr schlecht, und als ich am folgenden Morgen erwachte, taten mir alle Glieder weh. Recht bittere Gedanken drangen auf mich ein. Welches Leben drohte mir auf diesem einsamen, stillen Hofe zwischen den beiden alten Leuten, an denen ich, wie ich tief fühlte, nie ein ähnliches Interesse nehmen würde, wie an meinen jungen Freunden auf dem Rauschen Hofe!

Meine trübselige Stimmung konnte nur vermehrt werden, als ich bemerkte, daß Herr Selbstverständlich vergaß, mir mein Frühstück zu bringen; mein Magen kam bereits in bedenkliche Gärung, als er endlich erschien. Er hob den Korb weg, und ohne meine Niedergeschlagenheit zu bemerken, begann er, mir Brotkrumen zu streuen, die ich schleunigst aufpickte. Dabei hörte ich seinen Bemerkungen zu, während ich immer fraß.

»Ach, Buntscheckchen«, sagte er, »du machst ein freundliches Gesicht, du hast auch guten Appetit; man sieht, daß dein neues Haus dir gefällt, kleiner Ausbund! Du begreifst das Angenehme deiner gegenwärtigen Lage. Selbstverständlich!«

Nie hatte ich so sehr bedauert, daß mir die Gabe der Sprache versagt war, als in diesem Augenblicke. Wie hätte ich dem armen alten Träumer die Wahrheit sagen wollen! Glücklicherweise erging er sich nur in allgemeinen Redensarten und kam nicht auf seinen geräumigen Hof und seinen prachtvollen Garten mit Fruchtbäumen zurück, sonst hätte ich es wahrhaftig nicht ausgehalten, und da ich den Korb nicht mehr über meinem Kopfe hatte, wäre ich im stande gewesen, einen Fluchtversuch zu wagen.

Als ich mein Frühstück zu mir genommen, setzte mich Herr Selbstverständlich wie einen Papagei auf seinen langen Zeigefinger und trug mich zu der alten Dame, welche auf einem wurmstichigen Sessel an ihrem Kaffeetische saß. Sie ließ sich herab, mich zu streicheln, während der gute Julius ihr erzählte, er habe mich ganz munter unter meinem Korbe gefunden, ich hätte mein Frühstück bereits verzehrt, und es sei selbstverständlich, daß ich mich schon in die neuen Verhältnisse eingewöhnt habe.

»Das ist ein ganz liebes Hühnchen, ich gebe es zu«, erklärte sie und steckte mir ein Brotkrümchen in den Schnabel; »aber es ist eben doch nur ein Hühnchen.«

»Wenn du es in einen Käfig bringst, Mutter, so würde es jedermann für ein junges Rebhuhn halten.«

»Wie kannst du nur solche Dinge reden, Julius! Was denkst du nur! in einen Käfig, am Ende gar in den Salon! Bring nur das Tierchen wieder unter seinen Korb und sorge mir ja, daß es nicht in dem Hofe herumstrolche, das könnte uns Unannehmlichkeiten zuziehen!«

Julius, der bereits gehofft hatte, mich in sein Familienleben einzuführen, konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken; aber er trug mich als folgsames Kind in den Hof und stülpte dort den entsetzlichen Weidenkorb wieder über mich.

Ich hatte jetzt ziemlich gut gefrühstückt, und das kleine Ereignis samt der Luftveränderung hatte mich mindestens ein wenig aus meiner Niedergeschlagenheit aufgerüttelt; ich konnte doch wieder auf ein Mittel sinnen, um mein düsteres Sklavenlos zu verbessern.

Offenbar, so dachte ich, hat mein armer Herr ein großes Herz, aber ein kleines Hirn, und wenn er auch noch so gut ist, so werde ich hier doch vor Hunger und Langeweile zu Grunde gehen. Den ganzen Tag in dieser engen Zelle zuzubringen, das wäre ein wahrhaft tödlicher Gedanke. Wenn es mir daher nicht gelingt, ein Mittel ausfindig zu machen, wie ich nach Belieben ein und aus gehen kann, dann gibt es einen Auftritt wie damals, als er mich zum erstenmal einsperrte, und ich werde mir nötigenfalls mit Gewalt ein gewisses Maß von Freiheit erringen.

Gewaltsame Mittel aber widerstrebten mir einem so guten Menschen gegenüber, und so begann ich denn den Versuch, ob ich nicht ganz in der Stille hinausschlüpfen könnte.

Ich hatte gedacht, wenn ich alle meine Kräfte zusammennähme, so könnte ich vielleicht den Korb lüften, der auf flachem Erdboden stand; aber wie sehr ich auch immer mit dem Schnabel zwängte und mit den Füßen mich stemmte, der Korb blieb schwer wie ein Bleiklumpen auf seiner Stelle. Als ich mich überzeugt hatte, daß es auf diesem Wege nicht gehe, versuchte ich es auf andere Weise. Ich scharrte mit meinen Füßen einen kleinen Minengang, auf welchem ich durchzuschlüpfen versuchte. Das kostete viele Mühe, aber ich kam dabei doch vorwärts; zuerst konnte ich mein Köpfchen hinausstrecken; ich zog es wieder zurück und kratzte weiter. Als ich wiederum probierte, ging schon der Hals durch; jetzt schob ich mit Flügeln und Beinen, ich zwängte glücklich den Korb ein wenig in die Höhe – und frei war ich.

Ach, wie schlug mein Herz! Jetzt hätte ich singen mögen!

Ich war also frei; ich konnte mit den Flügeln schlagen und in dem kleinen Zwinger nach Herzenslust auf Abenteuer ausgehen. Meine erste Aufregung beruhigte sich rasch, und ich suchte nun vor allen Dingen meinen gegenwärtigen Aufenthaltsort näher kennen zu lernen.

Natürlich geschah dies unter Anwendung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln.

Ich ging ganz still längs der Mauern, und sobald ich irgend eine Türe gehen hörte, kauerte ich mich nieder. So kam ich rings um den Hof und entdeckte da, welches Glück! daß jenseits der Mauer ein weiter, leerer Raum war. Auf demselben sah ich Holzhaufen; die Holzstücke waren in Reihen gelegt, so daß immer eine Lage quer über der andern sich befand. Zwischen diesen Holzhaufen sah ich Gras und Blumen. Ich schlich mich in diesen durch einen Zaun eingeschlossenen Raum und erkannte, daß ich da ziemlich lange, meiner Gesundheit sehr zuträgliche Spaziergänge machen könne; auch mußte ich hier Nahrung genug finden, wenn der gute Herr Selbstverständlich mich einmal vergessen sollte. Nachdem ich mich überall umgesehen, kam ich ohne ein halsbrechendes Abenteuer wiederum in meinen kleinen Hof. Ich verbarg mich da unter dem Blätterwerk eines verkrüppelten Gesträuches, wie solche in dem Garten des Herrn Selbstverständlich standen. Hier entschloß ich mich klüglich, den Nachmittag über unsichtbar zu bleiben. Das gelang mir denn auch. Mehrere Leute kamen im Laufe des Nachmittags in den Hof, ohne mich zu sehen; Herr Selbstverständlich streifte sogar zweimal den Zweig, unter welchem ich saß, ohne mich zu bemerken. Ich verfehle jedoch nicht, hier eine Tatsache mitzuteilen, die mir aufs neue bewies, wie sehr mein guter Herr von der Einbildung geplagt war. So oft er in den Hof kam, näherte er sich dem Korbe, klopfte freundlich mit der Hand auf den Deckel und richtete allerhand zärtliche Bemerkungen an mich. Einmal wendete er sich um und sagte zu seiner Mutter, die an der Türschwelle stand:

»Buntscheckchen ist klug, Mutter, wirklich klug. Es rührt sich nicht von der Stelle, außer wenn ich ihm nahe komme. Soeben sehe ich da zwischen den Korbweiden seine kleinen Augen funkeln; das Tierchen möchte gern mit mir kommen, das ist selbstverständlich.«

Ich mußte in meinen Kropf lachen, da ich aus seinem eigenen Munde hörte, welchen Täuschungen er sich hingab, und gelobte mir, über mein geringes Hühnerurteil sorgfältig zu wachen, damit ich nicht solchen Einbildungen verfalle wie er.

Als der Abend kam, begann meine Lage ziemlich unangenehm zu werden. Jedenfalls kam Herr Selbstverständlich, um mir zu essen zu bringen, und wenn ich dann nicht seinen Verdacht erregen wollte, mußte ich doch wieder unter meinem Korbe sein. Hätte mein guter Herr ahnen können, was ich den Tag über getrieben, so würde er mir ohne Zweifel in seiner blinden Anhänglichkeit lieber die Füße zusammengebunden haben, als daß er mich auf einem Hofe frei herumlaufen ließ, woselbst mir von der Straße aus irgendwelche Gefahr drohen konnte.

Ich versuchte deshalb, auf demselben Wege in den Korb hineinzuschlüpfen, wie ich aus demselben herausgeschlüpft war; aber das ging nicht. Meine Arbeit war von innen gemacht, und von außen brachte ich den Korb nicht in die Höhe.

Nicht ohne Aufregung erwartete ich den verhängnisvollen Augenblick. Als Herr Selbstverständlich erschien, kauerte ich mich neben den Korb an die dunkelste Stelle, und da er denselben aufhob, wobei er mich mit den zärtlichsten Namen bezeichnete, schlüpfte ich rasch darunter.

Ich speiste vortrefflich zu Nacht, denn mein Spaziergang hatte meine Eßlust geweckt. Dann wünschte mir mein Herr freundlich guten Abend. Ich schlief in Frieden ein und träumte davon, wie ich mein Leben in angenehmster Weise zubringen wollte.

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