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Viertes Kapitel.

Meine Feindin.– Schreckliche Entdeckung.– Geldsorgen.

 

Ich hatte mich, so gut es irgendwie möglich war, eingerichtet, und doch konnte ich mich nicht behaglich fühlen. Alles um mich her war mir zu alt und zerfallen; ich war auch gar zu einsam und blieb daher viel zu häufig meinen Gedanken überlassen. Nur bei dem Kohlenbrenner hatte ich eine gemütliche Gesellschaft; aber um dorthin zu kommen, mußte ich immer an einer Frau Zungschwert vorüber; das war eine alte Frau mit einem bösartigen Gesicht. Dieselbe hatte im Hausflur eine Art Kramladen errichtet, d. h. es stand unmittelbar an der Türe ein kleiner Tisch auf zwei Böcken, und auf diesem Tische lagen Nesteln, Knöpfe, Garn, Nadeln und derartige Dinge, die sie an die Vorübergehenden verkaufte. So oft ich an ihr vorbeikam, rief sie mir eine Grobheit zu. Sie sagte offen, daß sie Kinder und Tiere nicht leiden könne. War ich glücklich über die schreckliche Schwelle geschlüpft, an welcher dieser weibliche Drache Wache hielt, so fand es sich noch häufig, daß Genoveva in die Schule gegangen war, daß der Junge in seinem Bettchen schlief, und daß die Großen vollständig in ihrer Arbeit steckten. Dann dachte niemand daran, mich zu streicheln oder mir Brotkrümchen zu geben, und deshalb war ich doch gekommen.

Mein armer Herr vernachlässigte mich seit einiger Zeit. Seine Mutter war leidend; aus diesem Grunde war er mißgestimmt und mürrisch. Eines Morgens vergaß er sogar, mir mein Frühstück zu bringen, und ging weg, ohne mir nur guten Morgen gesagt zu haben. Ich schlüpfte rasch aus meinem Gefängnisse und ging dann ganz leise vorwärts, bis ich an die Stubentüre kam.

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Ich sah die alte Dame aufrecht in ihrem Bette sitzen

Dieselbe stand halb offen, und ich sah die alte Dame aufrecht in ihrem Bette sitzen; vor demselben saß die Händlerin und nahm eben eine Prise Tabak.

»Es geht doch besser, liebe Frau«, sagte sie; »Sie sehen diesen Morgen viel klarer aus. Ich habe dies auch Herrn Julius gesagt; der arme Mensch konnte vor Besorgnis gar nicht mehr schlafen.«

»Er bringt gar nichts vorwärts, Frau Zungschwert.«

»Aber, liebe Frau, mit der guten Erziehung, welche Herr Julius empfangen hat, sollte er sich doch aus der Sache ziehen können.«

Die alte Dame schlug beide Hände zusammen, daß es klatschte. »Sprechen Sie mir doch nicht von diesen sogenannten guten Erziehungen!« rief sie; »da hängt man sein Hab und Gut daran, und schließlich kommt ein Pflastertreter heraus. Julius hätte besser das Geschäft seines Vaters gelernt, als daß er Schreiber wurde. Jener war ein guter Schneider, aber Julius bringt jetzt nichts fertig als Abschriften zu schmieren, und damit verdient er nicht das Salz in der Suppe. Für einen so wenig aufgeweckten Kopf gibt's nichts Besseres als ein Geschäft, Frau Zungschwert; Bücher und dergleichen Dinge sind zu hoch für solche Leute. Julius wäre vielleicht ein ganz guter Schneider geworden, denn er ist flink in den Händen; aber jetzt beschäftigt er sich gar mit Politik. Das hat ihm das bißchen Verstand, das er hatte, vollständig aus der Bahn gebracht, und er ist weiter nichts mehr als ein alter Knabe.«

»Das ist wahr; er hat sein Spielzeug. Will er immer noch sein Vieh behalten?«

Sein Vieh? Wollten sie von mir sprechen? Ich paßte doppelt auf.

»Gewiß«, erwiderte die Mutter des Herrn Selbstverständlich; »er sagte mir, daß das Hühnchen fast keiner Nahrung bedürfe; aber es bekommt doch immer zerkrümeltes Brot, ohne die Frucht, die er ganz bestimmt hinter meinem Rücken kauft.«

»Und es wäre gar kein übler Braten. Nach Ihrem Unwohlsein, glaube ich, würde Ihnen nichts so gut tun als eine kräftige Hühnerbrühe. Aber Herr Julius ist einmal für dieses Buntscheckchen eingenommen, und ich erlebe noch, daß es ihm durchgeht. Das Tierchen ist sehr neugierig und streicht fast beständig auf der Straße herum.«

»Julius hat mir gesagt, es verlasse nie seinen Korb.«

Die dicke Händlerin begann höhnisch zu lachen.

»Er sagte auch, der Hauseigentümer habe ihm den Zins nachgelassen; er ist ein guter Mensch, der Herr Julius, aber er versteht nichts vom Leben. Ich wette, er ist ohne Frühstück fortgegangen.«

»Jawohl, er mußte auswärts frühstücken.«

»Und Sie, liebe Frau?«

»Bei mir ist's schon vorüber.«

»Nun gut, dann wird Ihnen morgen Buntscheckchen ein prachtvolles Frühstück liefern. Heute Abend nehme ich es aus dem Korbe, und in einem Augenblick habe ich ihm den Hals umgedreht, es gerupft und an den Spieß gesteckt. Herr Julius wird freilich ein wenig jammern, aber der Appetit wird Ihnen das Herz gegen diesen kindischen Jammer verhärten.«

Ich hörte nichts weiter, denn ich machte mich so schleunig als möglich aus dem Wege. In meinem Schrecken glaubte ich schon, die knochigen Finger der Frau Zungschwert an meinem Halse zu fühlen. Mit ausgebreiteten Flügeln eilte ich über den Hof, auf die Straße, und dann immer weiter, so schnell ich konnte, bis ich endlich an einem freien Platz ankam und da ein wenig aufzuatmen begann. Aber kaum schlug ich mein Auge auf und blickte um mich, so hatte ich das schrecklichste Bild vor mir, welches ein armes Hühnchen, das kaum noch etwas vom Leben genossen, nur haben kann.

Auf dem Platze waren viele Läden mit großen Scheiben an Fenstern und Türen, so daß man von außen hineinblicken konnte, und es standen auch viele Leute vor diesen Fenstern. Hinter einem derselben bemerkte ich schaudernd eine Menge toter Genossen meiner Art. Da lagen welche von allen Farben und Größen, sauber gerupft und den Kopf in ein blutiges Papier gewickelt, unter welchem noch einzelne Halsfedern heraussahen. So erblickte ich Tauben, Schnepfen, Enten, Gänse und leider, leider auch eine ganze Menge Hähne und Hühner. Der Schrecken zwang mich, meine Blicke unverrückt darauf hinzurichten, und da gewahrte ich eine Art offenen Kamin; ich sah in demselben die helle Kohlenglut, und darüber an drei dünnen eisernen Stangen wurden drei meiner Vettern gebraten. Ich starrte mit weit aufgesperrtem Schnabel die Unglücklichen an, bereit Haut langsam unter dem Einflusse des Kohlenfeuers sich bräunte. Ich war anfangs ganz starr, und als ich endlich wieder zu mir selbst gekommen, begab ich mich wiederum auf schleunige Flucht. Schließlich kauerte ich mich in einem Winkel nieder, wo ich hoffen durfte, wenigstens für den Augenblick unbemerkt zu bleiben.

Ich wollte mir nun die unangenehmen Erinnerungen aus dem Kopfe schlagen und mein Interesse den vorübergehenden Personen zuwenden, aber es ging nicht. Beständig standen die drei Hühner am Bratspieße vor meinen Augen. Ich wußte nicht, was aus mir werden sollte, und fühlte mich als das ärmste und verlassenste Geschöpf von der Welt. Hier sprach man davon, mir den Hals umzudrehen, dort sah ich meinesgleichen am Bratspieße stecken!

Schließlich sagte ich mir, daß mein Herr mich doch nicht von dieser schrecklichen Frau Zungschwert würde ermorden lassen, und es würde wohl am besten sein, zu ihm zurückzukehren, wobei ich mich jedoch bereit halten wollte, meine Wohnung jeden Augenblick zwischen den Holzhaufen des Kohlenbrenners aufzuschlagen; ich kehrte also zurück und bot all meinen Scharfsinn auf, um zu verhindern, daß meine Feindin mich erblicke. Ich schlich zwischen den Tischböcken durch, und mein Flügel streifte dabei ihren alten grauen Rock.

Ich suchte meine Verwirrung möglichst niederzukämpfen und wollte mich vor allem des Schutzes meines Herrn versichern. Zu diesem Behufe ging ich dreist in das Zimmer, woselbst ich mit eigenen Ohren gehört hatte, wie man sich gegen mein Leben verschworen.

Mutter und Sohn waren allein und sprachen lebhaft miteinander.

»Julius, ich sage dir, ich will mich begnügen«, sagte die alte Dame.

»Nein, Mutter, nein; ich weiß ganz bestimmt, daß dein Magen etwas anderes nicht verträgt. Du mußt deine frischen Eier haben.«

»Aber wenn wir doch keinen Pfennig Geld mehr besitzen?« Und die alte Dame schüttelte in fieberhafter Bewegung eine leere Geldbörse.

»Frau Rau wird uns borgen.«

»Nein, das wird sie nicht, und sie hat auch recht.«

»Nun denn, so lasse mich meine Uhr aufs Pfandhaus tragen.«

»Armes Kind, du hast ja gar kein anderes Vergnügen, als daß du nachsehen kannst, welche Stunde es ist. Außerdem ist diese Uhr das einzige Andenken an deinen Vater, das wir noch nicht verpfändet haben. Warten wir es noch ab, Frau Dauler wird sich vielleicht noch unser erinnern.«

»Wie sollte sie an ihren alten Schreiblehrer denken, da Kamilla krank ist?«

»Kamilla wird gesund werden, und in zehn Tagen bekommst du den Betrag für deine Abschriften; es handelt sich also nur darum, bis zu diesem Zeitpunkte zu leben.«

»Wir werden leben, Mutter, aber du mußt dein Ei haben.«

»Du faselst, Julius, geh!«

Mein Herr ging denn auch und stieg trübselig die Treppe hinauf. Ich folgte ihm, ohne recht zu wissen, warum, und dachte unterwegs darüber nach, welche Sorge die Menschen doch mit diesem Gelde hatten. Bei der Familie Rau sah ich viele dieser kleinen Metallstücke, die beständig aus einer Hand in die andere gingen, und wenn der blinde Musiker oder Melina sich über irgend etwas beklagten, so war es immer darüber, daß sie so wenig Geld hätten.

Unter diesen Gedanken kam ich hinter Herrn Selbstverständlich in ein kleines, elendes Dachstübchen, woselbst seine Schlafstätte sich befand. Als er sich umwandte, sah er mich dicht an seinen Fersen und bückte sich, um mich zu streicheln. Dann ging er leise in der kleinen Mansarde auf und ab, sprach dabei mit sich und richtete auch wohl zuweilen an mich das Wort.

»Nein, Buntscheckchen«, sagte er, »ich werde nie zugeben, daß Mutter sich ihres frischen Eies beraubt; ich, ich kann das, aber sie nicht: selbstverständlich, selbstverständlich! ... Ach, armes Buntscheckchen, wie ist das Leben oft so hart, und wie oft muß man sich gegenwärtig halten, daß es da oben eine Belohnung gibt, sonst wäre es schier unerträglich! Da soll ich jetzt im kräftigsten Alter von Almosen leben! Mit meinen Augen sind meine Schüler fort, und der Abschreiberlohn wird nie so viel eintragen, daß ich meiner Mutter frische Eier kaufen kann; das ist doch selbstverständlich, ja, es ist selbstverständlich!«

Er nahm seine Uhr und betrachtete dieselbe.

»Diese Uhr kommt von meinem Vater; es wäre hart, wenn ich mich von ihr trennen müßte; alles, was wir noch auf das Pfandhaus getragen haben, ist dort geblieben. Ach, Buntscheckchen, armes Buntscheckchen, was machen?«

Ich sah ihn traurig an und gluckste; aber war ich nicht selbst das unglücklichste Geschöpf, und lag es nicht vollständig außer meiner Macht, ihm zu helfen?

Plötzlich schlug er sich vor die Stirne.

»Mein Kissen!« sagte er.

Er stürzte zu seinem eisernen Bettgestell, nahm das Kissen heraus und machte von einem großen Bogen Papier einen Umschlag um dasselbe. Dann band er es noch mit einer Kordel zusammen, faßte es unter den Arm und eilte hinunter, wobei er immer vier Stufen auf einmal nahm, als ob er ein Dieb sei. Ich erschrak bei dem Gedanken, allein in dieser Dachstube zu bleiben, und flatterte ihm nach, so daß wir zusammen unten in dem kleinen Gange ankamen, in welchem sich eine sehr vornehm gekleidete Dame befand.

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