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Erstes Kapitel.

Meine Geburt. – Mein Name. – Herr Selbstverständlich.

 

Ich bin in Mannheim geboren, nicht gerade in einer der breitesten Straßen, aber doch breit genug, um meinem Dasein hinreichend Luft und Licht zu verschaffen. Der Bewohner des Hauses, in welchem ich das Licht der Welt erblickte, hieß Herr Peter Rau und trieb einen Handel mit allerlei Lebensmitteln. Ich erinnere mich noch recht gut des großen, grün angestrichenen Tores, durch welches man in den Hof blicken konnte. Es hatte zwei Flügel und wurde an jedem Morgen sehr frühe geöffnet. Ich sah dann auf die Straße und machte meine stillen Betrachtungen über die Landleute, welche aus der ganzen Umgegend zum Markte gezogen kamen. Oberhalb des Tores war ein großes gemaltes Schild angebracht, kein Kunstwerk, aber doch anziehend genug für die Kinder, welche ich morgens zur Schule gehen sah. Es stellte eine Landschaft vor, in deren Mitte eine große, rotbraune Kuh einem verehrlichen Publikum andeuten sollte, daß in den Ställen rings um den Hof ganze Ströme frischer Milch flossen. Zur Rechten und zur Linken dieser Kuh befand sich auf der einen Seite ein weißes Huhn und auf der andern ein mit einem schillernden Schweife geschmückter Hahn, der den Kopf hoch erhoben trug und mit seinem geöffneten Schnabel in die Welt hinauszukrähen schien: Frische Eier! Frische Eier!

Unser Haus war durchaus nicht unansehnlich; es hatte eine recht schöne Vorderseite nach der Straße. Aber sobald man nur die Schwelle hinter sich hatte, stand man in einem engen Hofe, der rings von hohen Häusern umgeben war. In diesen Häusern wohnten durchaus keine Millionäre, nicht einmal Leute, die besondere Sorgfalt auf sich selbst verwendeten; es gab da immer Schmutz genug, und nun waren gar die Ställe an die hohen Brandmauern angebaut. Aber trotz alledem war gerade meine Geburtsstätte ziemlich reinlich, denn Herr und Frau Rau waren kluge Leute, und sie wußten, daß bei ihrem Geschäfte Reinlichkeit eine der besten Empfehlungen ist. Der große Stall, in welchem vierundzwanzig Milchkühe standen, war stets in tadellosem Zustande, und ich meine heute noch, den kleinen Laden zu sehen, in welchem Frau Rau die Milch an ihre Kunden verkaufte. Das Zimmerchen war nur klein, aber reizend; es war hellgelb angestrichen, und an den Wänden standen auf Gestellen eine Menge Blechkannen, die wie Silber glänzten; der große tannene Tisch, hinter welchem Frau Rau herumhantierte, war mit Töpfen besetzt, und auch diese waren so rein gescheuert, daß man nicht das kleinste Stäubchen darauf entdecken konnte.

Ich erwachte in einem schönen Stalle zum Leben. Spinnen und Mäuse gab es in demselben nicht, und meine ersten Eindrücke waren durchaus angenehmer Natur.

Das hat das Huhn vor dem Menschen voraus, daß es gleich weiß, was es will, und ein unabhängiges Leben führt. So ein kleines Kind ist doch ein recht armes Würmchen; es weiß nicht, was ihm not tut, es kann sich nicht einmal fortbewegen und ist auf fremde Hilfe angewiesen. Ich aber war kaum aus dem Ei gekrochen, so hüpfte ich schon umher, war lustig und guter Dinge; ja, ich konnte mich schon vorkommenden Falles benehmen. Über mir muß ein besonderer Glücksstern gewaltet haben; denn ich bin unter zahlreichen Geschwistern das einzige, welches am Leben blieb. Kaum vierzehn Tage, nachdem die graue Henne, meine Mutter, gefolgt von uns acht Küchlein, ihr Strohnest verlassen, hatte sie nur noch eines, und dieses eine war ich. Alle übrigen waren gewaltsam ums Leben gekommen: einer meiner Brüder, ein neugieriger Bursche, lief auf die Straße und kam unter das Rad einer Droschke; zwei andere machten sich um die Kühe, die unsere Stallgenossen waren, zu schaffen und wurden totgetreten. Die vier letzten endlich fanden jämmerlich ihren Untergang bei einem Gewitter, das unsern Hof in einen See verwandelt hatte. Da strömte das Wasser von allen Dächern in den Hof herab, und von oben regnete es mit solcher Wucht, daß sich die Ärmsten nicht mehr zu helfen wußten; das eine fiel in die Gosse und ertrank, die drei übrigen starben infolge der Nässe und Kälte. So blieb ich denn allein noch übrig.

Seit meinem Familienunglück zeigte mir Frau Rau die Teilnahme, welche man den schwer Geprüften zollt, und ich durfte nach freiem Belieben im Vorderhofe herumhüpfen.

Das Stübchen, in welchem der Milchverkauf stattfand, ging auf diesen Hof, und so hatte ich Gelegenheit, die regelmäßigen Kunden zu beobachten. Vor allen fiel mir dabei Herr Selbstverständlich auf.

Alle Tage um 4 Uhr nachmittags erschien am grünen Tor ein großer, magerer Mann mit langwallenden Haaren, welche bereits ins Graue schimmerten. Er hatte eine blaue Brille, ein sehr starkes, sorgfältig rasiertes Kinn und sein Kopf stak in einem dichten, rotgewürfelten Tuch, das er um den Hals geschlungen trug. Dazu hatte er je nach dem Wetter einen großen baumwollenen Regenschirm oder einen Spanisch-Rohr-Stock mit elfenbeinernem Griff. Er ging in den Milchladen, grüßte mit der Hand und zog schließlich aus der Tasche seines Überziehers ein schwarzes Säckchen hervor.

Während Frau Rau zwei frische Eier in dasselbe gleiten ließ, begann er eine Unterhaltung mit sehr lauter Stimme, denn er war ein wenig taub. Er sprach dann von seiner Mutter, von deren schwankendem Gesundheitszustände und von seinem Ärger, daß er keine Schreibstunden mehr geben könne. Seine Hand – dabei streckte er diesen wichtigen Körperteil aus, welcher bei ihm von außergewöhnlicher Länge und sehr knochig war – sei allerdings ganz fest; aber die Augen, die würden schwach. Selbstverständlich!

Waren andere Kunden zugegen, dann zog er eine vor Alter schäbig gewordene seidene Börse aus seiner Tasche, überreichte der Frau Rau feierlich zwei Zehnpfennigstücke, öffnete dann seine Weste, hinter welche er das Säckchen gleiten ließ, und knöpfte endlich wieder sorgfältig Weste und Überrock zu. Sodann zupfte er sein rotes Halstuch zurecht und verschwand.

»Ein recht wackerer Mann, dieser Herr Selbstverständlich«, Pflegte Frau Rau dann zu sagen.

Wer in die Milchhandlung kam, nannte ihn bei diesem Namen; denn er bediente sich dieses Wortes unaufhörlich, wobei er stets seine rechte Hand erhob und den Zeigefinger gegen den Daumen stemmte.

Am ersten Tage, da er mich bemerkte, hielt er mich für ein Rebhuhn. »Es ist eines, selbstverständlich!« Er setzte mich auf seinen knochigen Finger, betrachtete mich lange durch seine großen blauen Brillengläser und sagte in einem fort: »Buntscheckig wie ein Rebhuhn.«

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»Buntscheckig wie ein Rebhuhn.«

Der kleine Peter Rau, ein recht gescheiter Junge, der eben aus der Schule kam, nannte mich auf der Stelle »Buntscheckchen«, und dieser Name blieb mir dann auch.

Herr Selbstverständlich war entzückt, daß er so mein Pate geworden, ohne zu wissen wie.

Er kam nicht selten mit einer Handvoll Brotkrümchen, rief mich in einen Winkel, und dann gab es einen ausgezeichneten kleinen Imbiß.

Da ich ihn immer allein kommen und gehen sah, stand ich aus Dankbarkeit stets auf der Lauer, bis er den Milchladen verließ; dann hüpfte ich ihm nach und gab ihm das Geleite bis an das große Tor. Er hatte bald diese zarte Aufmerksamkeit bemerkt und sah sich nun stets um, ob ich ihm auch folge.

Meine andern Bekanntschaften im Hofe waren ein Schuhflicker, der sein Lager und seinen Dreifuß im Zwischengeschoß aufgeschlagen hatte; dann wohnte noch ein Blinder da, der jeden Morgen, von seinem Enkelkinde Melina geführt, mit einer großen Geige unter dem Arm das Haus verließ; und endlich wohnte noch in einem Dachstübchen eine Näherin, die vor ihrem Fenster ein Blumengestell angebracht hatte und mich häufig durch das Blätterwerk betrachtete. Ich hatte sie recht gern, denn sie war sehr lieb und immer sauber. Am Morgen unterschied man nämlich im Milchladen die Frauen, die dorthin kamen; da waren ihrer genug, die am Tage wie Pfauen geputzt über die Straße gingen, und am frühen Morgen kamen sie mit zerzausten Haaren und in zerrissenen Unterröcken mit ihrem Topfe herbei und holten Milch.

Ich machte, daß ich von ihnen wegkam, denn ich wollte mir meine Füße an ihren alten Schleppkleidern nicht beschmutzen. So ist es eben, wenn man noch jung ist, dann ist man eitel und will sich sein Aussehen nicht verderben; und ich war damals noch sehr jung.

Der Schuhflicker und seine Frau mochten mich recht gut leiden, und sie empfingen mich immer mit einem freundlichen Lächeln, so oft ich mein Köpfchen über die Schwelle ihrer Stubentüre streckte. Aber die Leute hatten absonderliche Gewohnheiten; der Mann war immer an seinen mit Leder überzogenen Dreifuß gefesselt, und die Frau putzte beständig ihre Töpfe. An dem Tage, den man Sonntag nennt, ruhte überall die Arbeit, nur bei ihnen nicht. Herr Rau trug dann eine Halsbinde und einen Überrock; Frau Rau setzte eine reichbebänderte Haube auf; die junge Näherin, der Geiger und sein Enkelkind gingen fort mit einem Buch mit Goldschnitt unterm Arm; dabei waren sie schön gekleidet. Nur der alte Schuhflicker klopfte sein Leder und zog seinen Pechdraht, als ob für ihn nicht mehr Sonntag sei als für die große schwarze Katze, die unter seiner Werkbank schlief, oder für das arme Buntscheckchen, das auf dem Hofe herumflatterte und, von einer unbegreiflichen Sehnsucht nach Unbekanntem getrieben, manchmal auf die Straße schlüpfte und aus der Rinne trank – wenn das Wasser rein war; das war aber nicht oft der Fall.

Die Ausflüge, welche ich mir über den ummauerten Bezirk meines Geburtsortes erlaubte, gaben mir einen oberflächlichen Begriff der Welt, und die mir innewohnende eigentümliche Fähigkeit, die Sprache der Menschen zu verstehen, entwickelte mein kleines Gehirn in hohem Grade.

»Welche Dächer«, sagte ich mir, »welche Balkone, welche Wetterfahnen, welche Menge Leute!«

Von Zeit zu Zeit schwang ich meine Flügel, welche mir eben zu wachsen anfingen; ich wollte mich über alle diese Mauern und Dächer hinausschwingen; aber wo hat je ein Huhn über vier- und fünfstöckige Häuser hinausfliegen können?

Ich beneidete die Vögel, die nach ihrem Belieben sich über alle diese Hindernisse leicht hinwegschwingen konnten, und doch begriff ich, daß es eigentlich unvernünftig wäre, wenn ich mich über mein Unvermögen beklagen wollte. Ich ergab mich darein, daß ich eben nur ein bescheidenes Hühnchen war; ja, ich mußte mich noch glücklich preisen, daß Tiere und Menschen mich gern hatten.

Oft schlüpfte ich ärmliches Ding mitten zwischen unsere schöne graue Kuh, welche den trübseligen Ernst ihrer holländischen Abstammung nicht verleugnen konnte, und das kleine braune Pferd, das den Milchkarren zog und in der Stallecke seinen Stand hatte. Ich fand's ganz vergnüglich, zuzusehen, wie es mit seinen schönen, weißen Zähnen Klee und Heu fraß, und wenn Frau Rau ihm den Hafersack um die Nase band, dann hütete ich mich wohl, aus seiner Nachbarschaft zu kriechen. Unser Rößlein war nämlich ein wenig Feinschmecker und liebte es, die ganzen Backen voll Hafer zu haben. Um nun gehörige Portionen zu erhalten, warf es heftig den Kopf zurück, damit der Hafer im Sacke in die Höhe flog, und bei dieser Gelegenheit sprangen immer einige Körner heraus, welche dann mir zugute kamen. Das Pferd hatte meinen Eifer, in seiner Nähe zu sein, recht wohl bemerkt und richtete seine großen, glänzenden Augen mit einem gewissen Wohlgefallen auf mich. Offenbar glaubte es, die Bewunderung hätte mich kleines Tierchen in die Ecke geführt, wo das Pferd stand, und es waren doch eigentlich nur die Haferkörner, denen ich nachging. Im stillen mußte ich über die Selbsttäuschung, welcher es sich hingab, lachen.

Aber nicht alle meine Vergnügen waren so gewöhnlicher Natur. Ich hegte große Liebe zur grauen Henne, meiner Mutter, welche sich aber, leider muß ich dies sagen, wenig um mich bekümmerte. Ich folgte ihr treu, wohin sie ging; weit war das nicht. Sie erholte sich nicht von dem Verluste ihrer Kleinen, und unaufhörlich stöberte sie unter den Hühnern und Küchlein herum, ob sie dieselben nicht entdecke. Diese Sorge um die Abwesenden versöhnte mich damit, daß sie sich so wenig um mich bekümmerte, und ich tröstete mich für ihre Gleichgültigkeit dadurch, daß ich anderweitige Freundschaften schloß. Da war der kleine Peter Rau; der lief mir immer nach, um mich zu haschen, und wir spielten prächtig zusammen; dann war da der alte Schuhflicker, Herr Selbstverständlich und vor allen Melina, das liebe kleine Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, das nie vorüberging, ohne mir ein Kußhändchen zuzuwerfen.

Wenn sie und ihr Großvater von ihrem Tagewerk zurückkamen, dann hörte ich immer dem Konzerte zu, welches sie für die Angrenzer des Hofes gaben. Der Blinde stemmte seine Geige an die linke Schulter, nahm den Fiedelbogen in die Rechte und strich über die Saiten hin. Ich fand die Töne, die er entlockte, wunderschön. Die Fenster wurden eines nach dem andern geöffnet, und man warf kleine Geldstücke in den Hof, welche Melina sorgfältig aufsammelte. Ich saß dabei entweder auf ihrem Arm oder auf ihrer Schulter; war sie mit dem Einsammeln zu Ende, so bekam ich meinen Kuß, und sie ließ mich zur Erde flattern. Dann nahm sie ihren Großvater bei der Hand und zog ihn in einen dunkeln Gang, der noch viel unangenehmer war als unsere Hühnersteige. Wenn sie in demselben verschwunden waren, dann suchte ich meine Mutter auf und schlummerte unter ihren Flügeln den Schlaf der Unschuld.

Mein Leben war dunkel und eintönig, aber ruhig, und ich sehnte keine Änderung desselben herbei. Leider ist mir seitdem klar geworden, daß auf Erden alles dem Wechsel unterworfen ist, und ich war noch recht jung, als ich die erste Erfahrung dieser bittern Wahrheit machte.

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