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Siebtes Kapitel.

Eine demütige Freundin. – Die Geschichte des Blinden.

 

Ich darf die Meinung nicht aufkommen lassen, als ob ich in meiner angenehmen, ja glänzenden Lage meine früheren Freunde gänzlich vergessen hätte. Ebenso wie die Menschen, ja vielleicht mehr als die Menschen, bewahrte mein Herz die Erinnerung an sie. Hinter meinem goldenen Gitterwerk hatte ich oft Stunden ernsten Nachsinnens, und wenn mich dann Kamilla so unbeweglich, den Schnabel tief in das Gefieder meines Kropfes gesteckt, in einer Ecke sitzen sah, sagte sie zu ihrer Mutter:

»Du glaubst nicht, Mutter, wie ernst manchmal Buntscheckchen aussieht: es gibt Augenblicke, in denen ich meine, daß es über irgend etwas nachdenkt.«

Ach ja, ich dachte nach! Ich dachte an die Familie Rau, an die holländische Kuh, die mir manchmal fehlte, an Herrn Selbstverständlich, über welchen ich aus dem Munde der Frau Dauler von Zeit zu Zeit einige Nachrichten hörte, an den Schuhflicker, an die Näherin und vornehmlich an Melina, die mir eine liebe Freundin gewesen. Ich war nicht so töricht, daß ich der äußeren Lage und der mehr oder weniger glänzenden Kleidung der Leute eine überschwengliche Wichtigkeit beilegte. Was kümmerte es mich, ob das Kleid von Linnen oder von Seide, das Schuhwerk von Leder oder von Atlas war? Ob ihr Blick liebevoll und offen, ihr Lächeln voll Güte, ihre Stimme und ihre Hand sanft, danach bemaß ich meine Achtung und meine Zuneigung.

Kamilla war für mich eine zweite Melina, nur reich und wohl erzogen. In meiner Zuneigung aber war kein Unterschied zwischen beiden.

In meinem glücklichen Leben vergaß ich, wie bereits bemerkt, meine alten Freunde nicht, und wie groß war eines Morgens meine Aufregung, als ich Töne vernahm, welche mich an die Geige des Blinden im Hofe der Frau Rau erinnerten. Ich lauschte aufmerksam und war schließlich überzeugt, daß er es sei, der im Hofe spielte. Ganz bestimmt war er nicht allein, Melina war bei ihm, sie streckte schüchtern nach den Vorübergehenden ihre kleine, braune Hand aus. Ich empfand ein heftiges Verlangen, sie wiederzusehen, aber ich war allein und folglich doppelt eingeschlossen. In der Hast rannte ich eine Weile in meinem Vogelhaus auf und nieder, da bemerkte ich eine rote Schnur, die außerhalb an den Drähten herabhing; ich wußte eigentlich nicht, was ich tat, aber in meinem Eifer hatte ich den unwiderstehlichen Drang, irgend etwas zu tun. Ich zwängte meinen Kopf durch zwei Stäbe, ergriff mit dem Schnabel die Schnur und zog daran, so heftig ich konnte. Wie durch ein Zauberwerk öffnete sich plötzlich die Türe des Käfigs. Ich sprang ins Zimmer und suchte einen Ausgang, um zu sehen, was in dem inneren Hofe vorging. Ich fand eine halb offene Türe und gelangte durch dieselbe in das Speisezimmer, dessen Fenster in den Hof ging. In einem Nu hatte ich mich auf die eiserne Brüstung geschwungen, und mit großer Freude bemerkte ich meine beiden Freunde; der blinde Greis spielte die Geige, und Melina ließ ihr großes, funkelndes Auge an den schönen Fenstern umherschweifen, die alle geschlossen blieben.

Plötzlich sah sie mich auf der Brüstung. Sie erkannte mich und streckte mir mit einem Freudenrufe die Arme entgegen. Ich dachte an nichts mehr; auf die Gefahr hin, meine Beine auf dem Hofpflaster zu zerbrechen, flog ich hinunter, aber Melina hatte schon ihr Schürzchen ausgebreitet, und so kam ich mit einem tüchtigen Ruck davon.

Freilich war derselbe etwas heftig, und ich wurde ein wenig davon betäubt; ehe ich von meiner Betäubung wieder ganz zu mir gekommen, hörte ich die Stimme Kamillas.

Ich öffnete die Augen; meine kleine Herrin betrachtete Melina und mich mit einem vollständig verblüfften Gesichte.

»Buntscheckchen, Buntscheckchen«, sagte Melina, ihren Mund wider meine Flügel drückend.

»Du kennst mein Huhn?« rief Kamilla in noch größerer Überraschung.

»Ja, Fräulein, ich hab' es gesehen, da es noch ganz klein war. Vater, es ist das Buntscheckchen der Frau Rau.« Der Blinde kam näher und berührte mit seinen Fingern meinen Kopf.

»Armes Ding«, sagte er, »Melina hat recht um dich getrauert.«

In diesem Augenblick öffneten sich zwei oder drei Fenster, und Melina sagte hastig:

»Vater, es sind Leute an den Fenstern, die hören.«

Der Blinde nahm wiederum den Fidelbogen und spielte die durch meine Ankunft unterbrochene Arie weiter.

Herr und Frau Dauler waren an der Türe erschienen, die in den Hof führte, und blieben unter dem Schutzdache derselben stehen. Ich bemerkte, wie sie Melina herbeiwinkten.

Diese ging schüchtern zu ihnen. Sie betrachteten sie aufmerksam, und Frau Dauler fragte endlich in einem eigentümlich bewegten Tone:

»Wie nennst du dich, mein Kind?«

»Melina, gnädige Frau.«

»Aber dein Zuname?«

»Mein Vater will nicht, daß ich ihn ohne seine Erlaubnis nenne.«

»Komm, so wollen wir zusammen zu ihm gehen.«

Frau Dauler nahm Melina an der Hand und ging mit ihr zu dem Blinden.

»Vater, da ist eine Dame, die mich um meinen Namen fragt«, begann Melina, »soll ich ihn sagen?«

Der Blinde zog die Augenbrauen zusammen.

»Die Elenden haben keinen Namen«, erwiderte er rauh.

»Sagen Sie doch lieber: die Unglücklichen«, murmelte Frau Dauler, die Hand auf seine Schulter legend.

Der Blinde erhob den Kopf, und seine Augenlider machten eine Bewegung, als ob sie sich öffnen wollten. Ich erschrak.

»Diese Stimme ist mir nicht unbekannt«, sagte er.

»Sie erinnern sich doch wohl noch der Cäcilie Perger, mein Herr?«

»Ob ich mich ihrer erinnere? Es war die beste Freundin meiner ...«

Er hielt plötzlich inne und fuhr mit einer schmerzlichen Handbewegung an die Stirne.

»Sind Sie Herr Sandel?«

»Ja, gnädige Frau.«

Frau Dauler kehrte sich gegen ihren Gatten und winkte ihm; er kam eilig herbei.

»Ich habe mich nicht getäuscht, mein Freund«, sagte sie, »es ist Herr Sandel.«

Herr Dauler war im höchsten Grade überrascht.

»Und jetzt, gnädige Frau, jetzt wäre auch ich begierig zu wissen, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?« fragte plötzlich der Blinde.

»Das werden Sie bald erfahren, Herr Sandel; lassen Sie sich einstweilen daran genügen, daß wir von den besten Absichten beseelt sind. Wollen Sie mir Ihre Adresse geben?«

»Die gebe ich niemals«, erwiderte der Blinde mißtrauisch. »Melina, wo bist du?«

»Hier, Vater«, sagte das Kind, das mich eben Kamilla zurückgegeben.

»Aber«, entgegnete aufs neue Frau Dauler, »man könnte Ihnen oder Ihrem Töchterchen doch Teilnahme bezeigen wollen.«

Der Blinde wurde unruhig und legte seine Hand auf die Schulter Melinas.

»Nein, nein«, sagte er, »ich weiß wohl, daß es Leute gibt, welche mein Kind mir nehmen wollen, aber ich gebe es nicht her; nein, ich werde mich nie von ihm trennen; komm, Melina!«

»Vater, ich habe noch nichts gesammelt.«

»Was liegt daran, komm!«

Er zog sie fort. Frau Dauler legte ihren Mund an das Ohr Kamillas und flüsterte ihr etwas zu, was ich nicht verstehen konnte; Kamilla lief den beiden nach.

»Eure Adresse?« fragte sie ganz leise das kleine Mädchen, welches sich umwendete, um mir einen letzten Blick zuzuwerfen.

»Hochgasse Nummer 40.«

Kamilla kam eilig zu ihrer Mutter zurück, und wir stiegen dann zusammen wieder die Treppe hinauf.

Auf die ganze Familie hatte diese Begegnung einen so tiefen Eindruck gemacht, daß Kamilla an mich nicht im entferntesten dachte, und so kam ich denn nicht in den Vogelbauer, sondern blieb im Salon und wurde Ohrenzeuge der folgenden Unterhaltung, die meine ganze Teilnahme erweckte.

»Das ist entsetzlich«, sagte Herr Dauler, das Zimmer durchmessend. »Das ist entsetzlich. Da sieht man, wohin der Leichtsinn und ein blindes Beharren auf unvernünftigen Wünschen führen.«

»Wie mir, so schien es auch dir unglaublich, Hermann, bis endlich kein Zweifel mehr möglich war.«

»Es ist auch unglaublich, Cäcilie, gestehe, es ist in der Tat unglaublich! Freilich ...

Nicht immer scheint das Wahre wahr zu sein.«

Damit verließ er den Salon.

Kamilla gehörte nicht zu jenen vorlauten Kindern, welch ihre Eltern sofort mit Fragen bestürmen, wenn irgend ein unvorhergesehener Umstand ihre Neugier erregt. Aber diesmal war sie doch auch gleich mir auf die Erklärung dieser rätselhaften Begegnung gespannt, und kaum hatte ihr Vater den Salon verlassen, als sie sich ihrer Mutter näherte und sprach:

»Mutter, das kleine Mädchen des Blinden ist ein recht artiges Kind. Kannst du mir sagen, warum ihr beide, du und Vater, so sehr über sie erstaunt waret?«

»Ja, meine Tochter, du bist verständig genug, um aus dieser beweinenswerten Geschichte Nutzen zu ziehen. Diese arme Kleine ist die Tochter meiner besten Freundin.«

»Das ist allerdings erstaunlich, Mutter; indessen sind nicht alle reich, die wir gern haben: so habe ich z. B. Sansibar recht gern.«

»Ganz richtig, mein Kind, aber die Mutter Melinas stand mit mir auf gleichem gesellschaftlichen Fuße. Wir waren zusammen in einer der vorzüglichsten Erziehungsanstalten im Elsaß, und als sie sich verheiratete, war ihre Mitgift nicht geringer als die meinige.«

»Und ihre Tochter sucht Pfennige auf dem Straßenpflaster?«

»Leider, leider, und mir nagt dies doppelt am Herzen.«

»Aber wie wird man denn arm, wenn man einmal reich ist?«

»Nichts ist leichter. Man gibt nur noch einmal, zweimal, dreimal soviel aus, als man Einkünfte hat; man gibt aus, ohne zu rechnen, und man wird bald dahin kommen, daß nichts mehr zu rechnen da ist.«

»Du könntest dich also zu Grunde richten, Mutter?«

»Freilich.«

»Und wie könnte das sein?«

»Ich habe vier Dienstboten, ich könnte deren acht nehmen; ich habe zwei Pferde und könnte deren vier haben; ich kaufe mir während eines Jahres viermal neue Kleider; ich könnte dies jeden Monat tun; dein Vater könnte spielen, wetten, Seltenheiten sammeln, mit fürstlichem Aufwande reisen u. dgl.; es gibt nichts Leichteres, als sich zu Grunde zu richten, wenn man nicht gerade ein fabelhaftes Vermögen besitzt, und selbst auch damit wird man fertig.«

»Melina hätte also reich sein können?«

»Ihre Mutter war es. Mein Kind, diese Geschichte ist sehr ernst für dein Alter; aber es ist vielleicht doch gut, sie dir zu erzählen. Die Mutter Melinas war eine Waise. Sie war in ihrer Jugend ein ganz gutes Kind, dabei aber leichtsinnig und hartnäckig in allem, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt. Diese beiden Eigenschaften finden sich häufig zusammen vereint. Mit achtzehn Jahren kam sie zu einer etwas strengen Tante und setzte sich nun in den Kopf, daß sie wohl oder übel gegen sie in einem Zustand beständiger Auflehnung sich befinden müsse. Verstehst du das?«

»Ganz gut, Mutter! In unserer Klasse befindet sich ein kleines, blondes Mädchen, welches sich gegen jede Aufgabe und Lehrstunde sträubt; das macht auf mich auch den Eindruck der Auflehnung.«

»Ganz richtig; diese Kleine hat etwas von dem Charakter der armen Mathilde. Ihre Tante wurde dessen überdrüssig, und sie wünschte, ihre Nichte vernünftig verheiratet zu sehen. Mathilde behandelte diese Frage, die doch eine der wichtigsten ist, wie ein Kind; sie spottete über alle höchst achtungswerten Männer, die ihr vorgestellt wurden, und erklärte endlich, sie würde einen Herrn Sandel heiraten. Dieser Sandel war allerdings ein Mann von glänzendem Äußern, aber verschwenderisch; er war ein Künstler, oder vielmehr er hatte nicht gerade künstlerisches Talent, sondern eine gewisse Sucht, als Künstler zu gelten; kurz, sie traf eine durchaus unpassende Wahl. Alle, die ihr näher standen, und darunter auch dein Vater und ich, boten ihr möglichstes auf, um sie von diesem Irrwege abzubringen. Es war indes vergeblich. Sie heiratete nach ihrem Kopfe und stürzte sich dann in so rauschende Vergnügungen, daß ich sie vollständig aus dem Auge verlor. Vor etwa zwei Jahren hörte ich, daß sie gestorben, nachdem ihre Vermögensverhältnisse gänzlich zerrüttet waren. Zugleich vernahm ich, daß ihr Mann blind geworden sei und sich in einer entsetzlichen Lage befinde. Ich stehe mit einer ihrer Verwandten in Briefwechsel, und diese ist untröstlich darüber, das Kind Mathildens allen Widerwärtigkeiten preisgegeben zu sehen. Dein Vater ließ es sich sehr angelegen sein, Sandels Aufenthalt zu entdecken; aber seine Bemühungen hatten nie Erfolg. Freilich, wie tief wir auch seinen Fall annahmen, unter den wandernden Straßenmusikanten hätten wir ihn nicht gesucht. Der Arme, dessen geistige Kräfte auch gelitten zu haben scheinen, tut, wie ich aus seinen Worten entnehme, alles mögliche, um sich den Nachforschungen seiner Verwandten zu entziehen. Er fürchtet, daß man ihm seine Tochter nehme, und nicht ohne Grund; denn wenn man ihn entdeckte, würde man allerdings einen solchen Versuch machen.«

»Warum denn aber, Mutter?«

»Weil sie für ein solch irrendes und umherschweifendes Leben nicht geschaffen ist. Doch das sind Fragen, welche über deine Fassungskraft hinausgehen. Ich wollte nur deine Teilnahme für das arme Kind wecken, weil ich mich ganz bestimmt mit ihm beschäftigen werde.«

»Darf ich das auch, Mutter?«

»Gewiß, Kamilla, gewiß. Wenn du es wünschest, so wollen wir dieses gute Werk zusammen tun.«

Kamilla kam darüber in eine so freudige Erregung, daß sie mich auf ihrem Arme ganz vergaß und sich ohne weiteres ihrer Mutter um den Hals warf. Ich wäre unter diesem Ausbruche der Zärtlichkeit beinahe erstickt und rettete mich mit Mühe in mein Vogelhaus, woselbst ich die wunderbaren Ereignisse dieses Tages überlegte.

Ich war mit mir selbst recht zufrieden. Hätte ich nicht die Geschicklichkeit gehabt, mein Türchen zu öffnen, hätte mein Herz mich nicht dazu gedrängt, selbst auf Gefahr meiner gesunden Knochen zu Melina zu fliegen, dann würde Kamilla auch nicht in den Hof gegangen sein, um mich zu fordern; Herr und Frau Dauler wären auch nicht auf den Blinden aufmerksam geworden; meine gute, kleine Melina hätte dann auch nicht die Teilnahme einer Person erregt, welche sie vielleicht diesem bettelnden Herumstreicherleben entriß, und mein Hühnchenverstand sagte mir, daß ein solches Leben für ein so kleines, liebes Mädchen durchaus nicht passe. Da ich nun zu diesem allem die Veranlassung war, fühlte ich mich nicht wenig stolz.

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