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Vierzehntes Kapitel.

Das Pfarrershuhn. – Ich gehe in die Predigt.

 

Ich war noch keine acht Tage im Pfarrhause zu Lohstadt, als ich mir wieder vernünftigerweise sagen konnte, daß ich hier meine Tage friedlich zu enden hoffen dürfe.

Alle Welt hatte mich gern, und jeder Tag war für mich ein Festtag; nur der alte Pudel Mustasch konnte sich nicht ganz mit mir befreunden. Mit der Zeit erwarb ich mir selbst eine gewisse Berühmtheit. Die regelmäßigen Besucher des Pfarrhauses kannten alle meinen Namen, und wenn ich einmal über den Dorfplatz spazieren ging, war kein Junge, der nicht mit dem Kreiselspiel eingehalten oder Sorge getragen hätte, daß er dem Pfarrershuhn keine Steine zwischen die Beinchen warf.

Natürlich wurde ich mit dem kleinen Peter alsbald vertraut, und manchmal besuchte ich ihn während des Tages bei Herrn Thomas, dem Schullehrer. Zu diesem Behufe ging ich längs der Gartenmauer; dann kamen mehrere aneinanderstoßende niedrige Dächer, und wenn ich darüber hinweggestiegen war, gelangte ich an das Mäuerchen, welches den Hof des Herrn Thomas einschloß. Die Fenster der Schule standen weit offen, und so bemerkte ich denn bald Peter, der auf einer Bank saß oder an der Tafel stand. War die Stunde der Zehnuhrpause gekommen, regnete es Brotkrumen auf meine Mauer, und der gute Herr Thomas selbst streute manchmal solche.

»Sie ernähren ja mein Buntscheckchen, Herr Lehrer«, sagte zuweilen der Pfarrer lächelnd.

»Ich lasse es nur ernähren, Herr Pfarrer; viele Kinder, welche es sonst vielleicht mit Steinen würfen, werfen es jetzt mit Brotkrumen, und das ist unter allen Umständen besser.«

Ich hatte Herrn Thomas recht gern, und sobald ich seine Stimme im Pfarrgarten hörte, machte ich, daß ich dahin kam. Der Herr Pfarrer und er gingen dann eine Weile in den Wegen spazieren, wobei sie sich manchmal, ohne ein Wort zu sprechen, eine Prise Schnupftabak anboten. Dann setzten sie sich auf eine Bank, welche unter einem alten Birnbaume angebracht war. Sie sprachen über Gartenanlagen, über Ackerbau und auch häufig über die Schulkinder, über ihre Gewohnheiten und was aus ihnen werden solle. Ich hörte sie gerne so plaudern und suchte mir dann diejenigen heraus, welche sie als die gescheitesten und besterzogenen bezeichneten.

Unter mehreren wichtigen Freundschaften hatte ich auch die des Küsters, eines Herrn Michels, geschlossen. Mustasch und ich teilten uns in die Gunst dieses Wackern Mannes, der allerdings etwas gar zu gern Besuche machte und schwatzte. Aber er war doch sehr gut gegen Kinder und Tiere; nie jagte er uns, den Pudel und mich, vom Kirchhofe, der ausschließlich seiner Sorge anvertraut war, außer wenn eine religiöse Zeremonie dort stattfand; sonst ging ich ganz nach Belieben die kleinen Alleen entlang und hüpfte zwischen den Rasenhügeln umher, auf deren jedem ein Kreuz stand. Ich war schon inne geworden, daß auch die Menschen, obwohl sie hoch über uns stehen, nicht ewig leben und manchmal hörte ich darüber aus dem Munde des Pfarrers Worte, deren Sinn ich nach und nach verstand, und die mir, trotz ihrer Einfachheit, sehr bemerkenswert schienen.

Der Pfarrer ahnte nicht, inwieweit ich mich um sein Leben bekümmerte, welches mir voller Geheimnisse schien. Ich hatte sagen hören, daß wenn er seine Tasche von schwarzer Seide und einen großen Stock nahm und Mustasch rief, er Kranke besuchen ginge. Ich hatte ferner gehört, daß wenn mitten in der Nacht die Schelle gezogen wurde und er dann mit einem Landmann und Mustasch wegging, er sich zu irgend einem Sterbenden begab; aber ich begriff nicht, welches Interesse er dabei finden konnte; ebensowenig hatte ich eine Vorstellung über sein Gehen und Kommen und sein Tun und Treiben in der Kirche. Ich wußte, was Michels tat; er zog an dem Seil, um die Glocken zu lauten; er bereitete und besorgte die Gräber, aber die Kirche blieb mir verschlossen, und ich war außer mir vor Neugier.

Die Tiere, welche manchmal in die Kirche kamen, wurden ohne Unterschied schmählich hinausgejagt, und selbst Mustasch begleitete seinen Herrn nur bis an die Pforte, worauf er dann allein nach dem Pfarrhause zurückkehrte. Man hatte ihm das beigebracht.

Da ich nun Flügel besaß, welche Mustasch abgingen, beschloß ich, einmal ungesehen einer Predigt beizuwohnen. Ich hörte unaufhörlich sagen: die schöne Predigt, die herrliche Predigt, das ist eine Predigt, die einschlägt! Ich suchte einen Weg, wie ich einmal eine solche anhören könne, und, wie gesagt, meine Flügel halfen mir dabei.

Das Dach der Sakristei, in welcher Michels immer aus und ein ging, war nicht sehr hoch und befand sich gerade unter einem Fensterchen, das wegen der großen Hitze geöffnet wurde. Um es zu öffnen, hatte der Küster auf das sehr flache Dach eine kurze Leiter gestellt, auf welcher er zu dem Fenster hinaufstieg; das konnte ich auch, und wenn ich erst aufs Dach geflogen war, stand die Leiter gerade wie für mich da. Eines Sonntags läutete mein Freund Michels mit allen Glocken. Allmählich kamen die Dorfbewohner herbei und traten alle in die Kirche ein. Ich begab mich eiligst auf den Kirchhof und flog auf ein Kreuz, das über dem Grabe eines Kindes stand. Von da aus gelang es mir, auf das Dach der Sakristei zu fliegen. Ich muß gestehen, daß ich über meine Keckheit einiges Herzklopfen empfand. Ich machte mir aber Mut und betrachtete den goldenen Hahn auf dem Glockenturm, als ob ich mich durchaus keiner Schuld bewußt gefühlt hätte. Insgeheim fürchtete ich aber, daß man mich vom Dorfe aus bemerken könne, und nachdem ich eine Weile den Hahn betrachtet, spähte ich die Dorfgasse hinauf und hinunter. Es blieb alles ruhig; die Haustüren waren geschlossen, und wer das Haus hüten mußte, der hatte entweder auf die kleinen Kinder achtzugeben oder sonstige häusliche Beschäftigungen, so daß das neugierige Hühnchen der Aufmerksamkeit vollkommen entging. Da ich nichts Auffallendes bemerkte, beruhigte ich mich wieder und begann, vorsichtig die Leitersprossen hinaufzuklimmen. Auf der starken Ranke einer Schlingpflanze, welche sich um das Fenster zog, faßte ich Fuß.

Einige Zeit blieb ich da mit geschlossenen Augen und hörte dem Gesange zu, der aus der Kirche drang.

Nach einer Weile verstummte der Gesang, und ich hörte nur noch die mir wohlbekannte Stimme des Pfarrers, der noch allein sang. Ich vernahm zwar jedes einzelne Wort, konnte aber nichts verstehen; es mußte eine fremde Sprache sein, deren er sich bediente.

Allmählich rückte ich nun in der Brüstung vor und blickte in die Kirche hinunter; es waren sehr viele Leute da; alle standen aufrecht und schienen dem Pfarrer zuzuhören, welcher an einem um mehrere Stufen erhöhten, kostbar geschmückten Tische stand. Obwohl es heller Tag war, brannten doch viele Kerzen auf demselben. Der Pfarrer hatte ein eigentümliches, rotseidenes Gewand an, das von Goldstickereien glänzte. Auf einmal war alles ruhig; er legte sein kostbares rotes Gewand ab, und nun sah ich, daß er unter demselben ein weißes Untergewand trug; er ging dann zu einer Treppe, die sich um einen Pfeiler herumzog, und verschwand hinter demselben. Einen Augenblick später kam er auf einem erhöhten Platze wieder zum Vorschein und stand nun über der Volksmenge. Nie war mir sein schneeweißes Haupt so schön und so ehrwürdig vorgekommen.

Er begann nun, in der mir verständlichen Sprache zu den Leuten zu reden, und ich hätte nie geglaubt, daß mein guter Freund, den ich so einfach im Garten seine Zwiebelbeete bearbeiten sah und der sich so leutselig mit Michels, Kreszenz und dem kleinen Peter unterhielt, mit solcher Begeisterung so erhabene Dinge sagen könne. Mir stand der Verstand still, und es schwindelte mir vor den Augen; ich konnte zuweilen seinem Gedankenfluge gar nicht mehr folgen und war unfähig, zu erfassen, was er sagte. Aber die Bauern und Bäuerinnen schienen es ganz gut zu verstehen, wenn er von der Unsterblichkeit, von der Verantwortlichkeit, von der Tugend sprach, Worte, die ich zuweilen gehört, deren Bedeutung ich aber nicht verstand.

Als er mit seiner Predigt zu Ende war, kletterte ich wieder die Leiter hinunter, flog auf den Kirchhof und von da in den Garten.

Was war das nun? Ich war erregt; ich fühlte einen inneren Drang, eine innere Qual. Warum verstand ich das nicht, da doch alles, was ich verstand, mich so sehr anzog, und da ich doch auf jedes Wort aufmerkte? Warum verstanden das die Bauern und ich nicht? Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren?

Ich war doch ganz verständig. Mustasch war anhänglich und treu; ich hatte schon viele Züge auffallender geistiger Kräfte von Tieren gehört. Da war ein Hund, der spielte Domino; ein Affe wartete bei Tisch auf; der Biber baut sich Häuser; der Elefant, das Pferd kennen die Stimme ihres Herrn und gehorchen nur dieser.

Warum verstand ich nun diese Worte nicht?

»Wenn ich ab und zu in die Predigt gehe«, so dachte ich schließlich, »komme ich doch noch hinter die Bedeutung dieser Worte und hinter die Lösung dieses Rätsels. Ich muß also hineingehen.

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Ich erkletterte so schnell als möglich meinen Beobachtungsposten.

Am folgenden Donnerstag sah ich den Herrn Pfarrer den Weg über den Kirchhof nehmen. Michels hing sich mit Gewalt an das Glockenseil, und eine Menge Kinder eilten in die Kirche. »Halt«, dachte ich, »da kann ich vielleicht etwas hören«, und erkletterte so schnell als möglich meinen Beobachtungsposten. Die Schlingpflanze verbarg mich nach außen, und nach innen konnte mein Kopf kaum größer erscheinen als der eines andern Vögeleins, welche zu Dutzenden um die Kirche flogen, und deren eines sich auch zuweilen in das Innere ihres Gewölbes verirrte, ohne daß jemand daran Anstoß nahm.

Diesmal bemerkte ich keinerlei Prachtentfaltung; es brannten keine Kerzen, und es waren auch keine Blumen in der Kirche; nur eine einzige Lampe flimmerte wie ein Stern; die Kinder befanden sich gerade unterhalb des kleinen Fensters, auf dessen Brüstung ich saß. Sie waren in ihren gewöhnlichen Kleidern, viel geflickt und teilweise auch zerrissen. Es gab da einige, die halb schliefen, andere blickten in der Kirche umher, die klügsten lasen in einem kleinen Buche. Als der Herr Pfarrer kam, wurden alle ruhig; er ging unter den Kindern hin und her und sprach mit ihnen, wobei er manchmal ein Buch zu Rate zog, das ebenso aussah wie das Buch, welches die Kinder selbst hatten. Auf einmal blieb er vor einem Knaben stehen, nannte ihn beim Namen und richtete verschiedene Fragen an ihn. Das wiederholte sich zu verschiedenen Malen, und so kam auch der Pfarrer endlich zu einem kleinen Knaben namens Reinhard, den ich ganz gut kannte, denn er führte die Kälber an den Bach, welcher am Pfarrgarten vorüberfloß. Ich gestehe, ich war ein wenig ärgerlich darüber, daß der Herr Pfarrer diesem Knaben seine Aufmerksamkeit schenkte; denn er sah gerade so geistlos in die Welt wie seine Kälber.

»Wie«, sagte ich mir, »der Herr Pfarrer läßt sich nie herbei, an mich das Wort zu richten, er schenkt mir nur die demütigende Teilnahme, die man den Tieren gewährt, und da befaßt er sich mit diesem Reinhard, der keinen Verstand und keine Einsicht hat, und der überhaupt das schmutzigste, häßlichste und stumpfsinnigste Kind ist, das man sich denken kann.«

In meinem Ärger darüber streckte ich den Kopf so weit als möglich vor, um besser zu hören, was er sagte.

»Nun, mein kleiner Reinhard«, sagte der Pfarrer gütig, »versuche doch einmal zu begreifen, warum dich Gott geschaffen.«

Reinhard kratzte sich hinter den Ohren, aber er gab keine Antwort.

»Nun, Kleiner, so sag mir doch, wofür bist du auf der Welt?«

Reinhard betrachtete eine Weile nachdenklich seine nackten, mit getrocknetem Schlamm überzogenen Füße. Endlich erhob er den Kopf, fuhr einmal rasch mit dem Ärmel unter der Nase her und sagte dann laut und entschieden:

»Für die Kälber!«

Alle Kinder platzten über diese Antwort in Lachen aus, und doch schien mir dieselbe durchaus nicht töricht. Wozu war er denn in der Tat da, als um die Kälber an den Bach zu führen?

»Ich frage dich nicht«, bemerkte der Pfarrer wieder, »mit welcher Arbeit du dir den Unterhalt deines Lebens verdienst. Ich will wissen, wozu dir der liebe Gott, der uns alle geschaffen, das Leben gegeben hat? Nivel, sag du es mir.«

Nivel war nicht viel besser gekleidet als Reinhard; aber er sah sauberer aus; er war ordentlich gewaschen und gekämmt und hatte ein Paar lebhaft glitzernde Augen. Derselbe besann sich nicht lange, sondern sagte mit heller Stimme:

»Gott hat mich geschaffen, um ihn zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch die ewige Seligkeit zu erlangen.«

»Brav, Nivel. Hörst du's jetzt, Reinhard? Du bist nicht geschaffen worden, um die Kälber zu hüten, sondern um den lieben Gott zu erkennen, ihn zu lieben und ihm zu dienen. Du kannst das, Kleiner, obgleich du an deinem Verstande nicht schwer trägst. Ja, ihr Kinder, selbst der Hirtenbube, den der Lehrer trotz aller Mühe nicht rechnen und lesen lehren konnte, kann Gott erkennen, ihn lieben und ihm in seiner Weise dienen. Du bist ein Mensch, ein Christ, verstehst du, Reinhard, und das ist etwas Großes. Aber du mußt auch als ein Mensch denken und handeln lernen; deine Beschäftigung hat nichts Entwürdigendes an sich, aber du mußt dich über die Tiere, mit welchen du dich beschäftigst, erheben. Hast du auch schon einmal über den Unterschied, der zwischen dir und deinen Kälbern besteht, nachgedacht?«

Reinhard hörte auf, sich hinter den Ohren zu kratzen, und schaute den Pfarrer fest an:

»Das sind Tiere«, antwortete er verächtlich.

»Und die Tiere haben keine ...«

Der Pfarrer blickte um sich und wiederholte:

»Nun, und die Tiere haben keine ...«

»Keine Seele!« schrien zwanzig Stimmen.

»Richtig, Kinder, richtig; das fehlt in der Tat den Tieren; sie haben keine unsterbliche, nach dem Ebenbilde Gottes geschaffene Seele. Das habt ihr gut gemerkt; es gibt Tiere, die mit wunderbarem Instinkte begabt sind, die fast ebenso verständig und gut scheinen wie viele Menschen, aber sie haben keine Seele, keine unsterbliche Seele. Ihr kennt ja alle meinen alten Pudel Mustasch. Ihr wißt alle, wie er im vorigen Jahre an der großen Eiche ein Kind aus dem Wasser gezogen, das sich baden wollte und ohne Zweifel ertrunken wäre, wenn er nicht hineingesprungen. Er ist verständig und treu, aber es ist doch nur ein Pudel. Ihr kennt Buntscheckchen, mein Hühnchen. Es ist erstaunlich, welche Fähigkeiten dieses Tierchen entwickelt, aber es ist doch immer nur ein Huhn, es hat keine Seele.«

Der Pfarrer öffnete sein Büchlein aufs neue und rief einen andern Knaben auf; aber ich lieh seinen Worten keine weitere Aufmerksamkeit mehr, es brauste mir um die Ohren, ich hatte genug gehört. Ich begriff jetzt das tiefe Elend meiner Bestimmung; ich hatte Verstand, Witz, ich hatte Gefühl; aber – ich hatte keine Seele!

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