Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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29

Atherton winkte Blake, ihm zu folgen. Sie ließen den Wagen vor dem Gasthaus stehen, traten ein und ließen sich in einer ruhigen Ecke nieder.

»Sie können in Gegenwart dieses Herrn unbesorgt sprechen«, sagte Atherton und zeigte auf Blake.

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, bereiten Sie eine Razzia vor?«

»Ja, und wir wollten Sie bitten, uns einige Ihrer Leute zur Unterstützung mitzugeben. Ich konnte natürlich bei der Verhandlung nichts sagen, aber wir haben die Vorgänge in der Bucht von Marshwyke schon lange beobachtet und nehmen an, daß eine Menge französischer Waren dort eingeschmuggelt wird, vor allem Tabak und Luxusartikel. Aber wir konnten bisher nichts Bestimmtes nachweisen und wußten nicht, ob die Waren hier in die Bucht gebracht werden, oder ob sie im Hafen von Shilhampton an Land kommen. Wir haben aber einen ganz gewissen Dampfer und dessen Kapitän in Verdacht, der regelmäßig zwischen Le Havre und Shilhampton fährt. Wenn der Dampfer das nächste Mal in Shilhampton eingelaufen ist, wollen wir eine bestimmte Stelle der Bucht plötzlich durchsuchen.«

Atherton sah sich um, aber es war niemand in Hörweite.

»Sie meinen natürlich Clents Haus«, sagte er dann leise. »Ganz recht. Wahrscheinlich werden die geschmuggelten Waren dort in das Haus gebracht. Die Hütte und die Höhlen in den Felsen sind uns schon seit langem verdächtig vorgekommen. In der ersten Nacht, nachdem der Dampfer im Hafen von Shilhampton einläuft, wollen wir zuschlagen. Soviel wir wissen, ist das Schiff morgen fällig. Auf jeden Fall müssen wir einen Versuch machen. Wir lassen Ihnen noch genauere Nachricht zukommen.«

*

Atherton und Blake schwiegen auf dem Heimweg, bis sie einen guten Teil der Fahrt hinter sich hatten.

»Ich glaube, wir entdecken in der nächsten Zeit verschiedenes, Blake, und vielleicht ist es größer und bedeutsamer, als wir bisher erwartet haben«, sagte der Polizeikommissar schließlich.

»Wie meinen Sie das?«

»Es werden natürlich mehr Leute als die Clents in die Geschichte verwickelt sein, denn wenn ein ganzes Schmugglersystem besteht, gehört dazu eine große Organisation. Sicher sind Leute im Hintergrund, die die Sache leiten. Wenn die Razzia abgehalten wird, werde ich persönlich an Ort und Stelle sein, und ich glaube, daß es auch für Sie interessant sein könnte.«

Blake antwortete nicht gleich, und dann lachte er ein wenig verlegen, als ob er unangenehm berührt sei.

»Es ist möglich, daß Sie mich für einen sentimentalen Menschen halten, aber ich wünschte, ich hätte das alles nicht gehört.«

»Warum denn nicht?« fragte Atherton erstaunt.

»Gillian Clent hat mir vor kurzem das Leben gerettet. Ich wäre jetzt sicher nicht mehr hier, wenn sie mir nicht zu Hilfe gekommen wäre. Es sieht nach Undankbarkeit und Verrat aus, wenn ich jetzt an der Razzia teilnehme. Ich hielte es unter Umständen sogar für meine Pflicht, sie vor der drohenden Gefahr zu warnen.«

»Nun, das wäre aber wirklich eine Verrücktheit von Ihnen«, erwiderte Atherton brüsk. »Sie dürfen doch Ihren persönlichen Neigungen nicht nachgeben, wenn es sich um Bestrafung von Verbrechen handelt!«

»Ganz recht«, sagte Blake kurz. »Aber Gillian Clent hätte auch davonrudern und mich meinem Schicksal überlassen können. Ich fühle mich ihr zu Dank verpflichtet.«

»Aber gegen Gillian Clent persönlich soll doch gar nichts unternommen werden. Ihr soll doch nichts geschehen. Im übrigen haben Sie doch nichts mit den Plänen der Zollbeamten und der Polizei zu tun. Sie haben sich doch die Aufgabe gesetzt, das Verschwinden Dick Malverys aufzuklären.«

»Nun, ich habe mich schließlich auch noch um andere Dinge zu kümmern. Vor allem möchte ich seiner Schwester helfen. Malvery Hold ist das traurigste und ungemütlichste Heim, das ich jemals gesehen habe. Man wird unwillkürlich schwermütig, wenn man sich dort aufhalten muß.«

Atherton sah auf die bewegte See und die schweren Wolken am Himmel. Sie waren die Anzeichen für einen von Südosten aufziehenden Sturm.

»Wir werden ein böses Unwetter bekommen«, sagte er dann. »Voriges Jahr um diese Zeit hatten wir auch einen schrecklichen Sturm, und ich kann mich darauf besinnen, daß damals viel Schaden angerichtet wurde. Das alte Malvery Hold wird wieder sehr darunter leiden.«

»Dann will ich mich einmal umsehen, ob ich dort irgendwie helfen kann. Nun ist auch noch Jakob Elphick gestorben, und Miß Malvery hat gar keine männliche Hilfe mehr.«

Blake stieg am Ende der Bucht aus und ging von da zu Fuß nach Malvery Hold. Der Wind hatte bereits eine große Stärke erreicht, und der junge Mann mußte sehr dagegen ankämpfen, um vorwärts zu kommen. Der äußere Verfall des Hauses machte wieder einen deprimierenden Eindruck auf ihn. Alles, was mit Malvery Hold in Verbindung stand, schien dem Untergang geweiht zu sein. Er dachte an den toten Elphick und an Sir Brian, der zitternd und hilflos wie ein Kind in seinem Stuhl saß, während das Herrenhaus über ihm zusammenzustürzen drohte. Schon bevor Blake das Tor erreicht hatte, hörte er den Wind in den verlassenen Räumen und Dachkammern heulen, und als er den Fahrweg entlangging und über abgebrochene Äste und Zweige stieg, sah er, wie die großen Ulmen vom Sturm hin und her gepeitscht wurden.

Rachel Malvery war sofort wieder nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie bei der Totenschau ihre Zeugenaussage gemacht hatte. Sie kam ihm jetzt in der Halle entgegen und führte ihn in einen Raum, der augenblicklich als Wohnzimmer benützt wurde. Blake erzählte von dem Ausgang der Verhandlung, von der Theorie, die sich Mr. Stubbs gebildet hatte, und von der beabsichtigten Razzia.

»Es scheint so, als ob die Clents immer mehr zum Mittelpunkt der Ereignisse würden«, meinte er schließlich.

»Ich habe schon immer geglaubt, daß wir die Lösung des Geheimnisses bei ihnen suchen müssen«, erwiderte Rachel.

»Ich bin aber nicht nur hergekommen, um Ihnen das zu sagen. Das ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich wollte Sie vor allem fragen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Jakob Elphick muß begraben werden, und Sie haben jetzt niemand im Haus, der Sie unterstützt. Und es wäre zu viel für Sie, wenn Sie diese Dinge allein ordnen sollten. Ich bleibe jedenfalls in der Nähe, ich kann ja im Wachtturm schlafen. Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Doktor Strahan hat schon Anordnungen getroffen. Einige Verwandte des alten Jakob, die im Dorf wohnen, holen ihn von hier ab. Wenn Sie hierbleiben wollen, bin ich Ihnen sehr dankbar. Es ist niemand hier, und ich fürchte, daß es auch mit meinem Vater zu Ende geht.« Er sah Rachel an, die ruhig und gefaßt vor ihm stand. Sie war abgespannt und müde von den vielen Nachtwachen am Krankenbett ihres Vaters. Impulsiv ergriff er ihre Hände.

»Ich will zu Ihnen halten, was auch kommen mag«, sagte er mit stockender Stimme. »Sagen Sie mir nur, was ich machen soll, ich will alles für Sie tun.«

Sie erwiderte den Druck seiner Hände leicht und lächelte ein wenig, als sie zu ihm aufschaute.

»Ich verstehe Sie. Augenblicklich gibt es nichts zu tun – aber es ist so schön, wenn man einen Menschen in der Nähe weiß, auf den man sich verlassen kann. Es wird mir alles viel leichter werden, wenn Sie im Hause sind. Aber jetzt müssen Sie sich stärken.«

Sie ließ ihm eine Mahlzeit servieren und ging dann wieder zu ihrem Vater.

Im Laufe des Tages wurde der Sturm immer stärker und heftiger. Einige Leute aus dem Dorf kamen und holten die Leiche des alten Elphick ab. Äste krachten, und in dem Gehölz wurden ganze Bäume vom Sturm entwurzelt und umgestürzt. Das Dach eines kleinen Schuppens löste sich und fiel krachend und polternd in den Hof. Und noch immer nahm das schreckliche Höllenkonzert zu. Die Wogen in der Bucht stiegen höher und donnerten gegen das Ufer. Der Graben um das Schloß trat aus seinen Ufern, so daß der Hof und die Keller des Hauses überschwemmt wurden.

Am Spätnachmittag bahnte sich Blake einen Weg zum Wachtturm und sah dort die entsetzliche Verwüstung, die das Unwetter in dem Gehölz angerichtet hatte. Auch das Dach des Wachtturmes war vom Sturm abgerissen worden und ein Teil des Obergeschosses eingestürzt. Mit größter Anstrengung kämpfte sich Blake wieder zum Haus zurück. Als er dicht davor stand, stürzte einer der Schornsteine ein und riß ein großes Loch in die Dachfläche. Der Tod schien auf den schwarzen, düsteren Wolken und auf den weißen, schaumgekrönten Wellen daherzureiten, die vom Sturm getrieben, gegen das Ufer brandeten. In dieser Nacht schlief keine lebende Seele am Strand und im Dorf.

Blake erwartete jeden Augenblick, daß ganz Malvery Hold zusammenstürzen würde wie ein Kartenhaus. Die Mädchen waren mit Rachel im Zimmer des alten Brian versammelt. Dieser Raum lag im Erdgeschoß und war noch am sichersten. Blake ging von einem Stockwerk zum andern, vom östlichen Flügel zum westlichen. Dachsparren krachten, Fenster wurden eingedrückt, Glasscheiben splitterten auf den Boden. Es war, als ob Riesenhände das Werk der Menschen zerstören und das ganze Haus in Stücke reißen wollten. Gegen Mitternacht erreichte der Sturm seine höchste Gewalt und wurde zum Orkan. Mit ohrenbetäubendem Lärm donnerten die sich überstürzenden Wellen gegen die Küste, und die Natur war in wildem Aufruhr. Blake starrte aus einem Fenster der großen Halle in die Nacht hinaus, als Rachel plötzlich seinen Arm leicht berührte.

»Kommen Sie leise«, sagte sie. »Ich glaube – es geht zu Ende mit ihm.«

Blake folgte ihr eilig in das Zimmer des alten Sir Brian. Beim flackernden Licht der Lampe sah er den hageren alten Mann mit dem gespenstisch weißen Haar in seinem Sessel sitzen. Seine abgezehrten Wangen hatten die Farbe von gebleichtem Elfenbein. Zwei Mädchen standen neben ihm. Als Rachel wieder hereinkam, trat die eine etwas beiseite.

»Er hat sich nicht bewegt, seitdem Sie fortgingen«, sagte sie leise.

Plötzlich öffnete Sir Brian die Augen, hob den Kopf und sah sich um. Einen Augenblick lang hörte sein Zittern auf, und er sprach mit klarer Stimme:

»Mein Sohn Richard – mein Sohn Richard –«

Dann fiel sein Kopf nach hinten, und seine Gestalt sank in sich zusammen. Sir Brian Malvery war nicht mehr.

 


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