Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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25

Rachel war zuerst so erregt, daß sie nicht imstande war, den Brief zu öffnen. Mit zitternden Händen reichte sie ihn Atherton zurück.

»Bitte, machen Sie ihn für mich auf, und lesen Sie ihn vor«, bat sie.

Der Polizeikommissar löste die einzelnen Blätter sorgfältig voneinander. Das Papier war ausgewaschen, und er fürchtete, daß die Mitteilung unleserlich geworden sein könnte. Aber mit einiger Mühe gelang es ihm doch noch, die Worte zu entziffern. Dick mußte mit einem sehr harten Bleistift geschrieben haben, denn die Buchstaben waren scharf in das Papier eingedrückt. Blake und Strahan traten näher und sahen ihm über die Schulter.

»Der Brief trägt keine Ortsbezeichnung und kein Datum«, begann Atherton. »Hören Sie bitte:

›Liebe Rachel, Du wirst erstaunt sein, dieses Schreiben zu erhalten. Ich bin wieder nach Hause gekommen, und was noch mehr bedeutet, ich habe draußen in der Fremde Erfolg gehabt und bringe genügend Geld mit, um alle meine Schulden hier zu bezahlen. Ich war heute abend in Malvery Hold und habe in meinem Zimmer etwas verwahrt, bevor ich nach Shilhampton ging, wo ich zu tun habe. Heute abend kann ich leider nicht mehr nach Hause kommen. Ich habe seit meiner Ankunft in England von einer Sache erfahren, die ich erst aufklären muß, bevor ich zu Euch zurückkehren kann. Es kann sein, daß meine Abwesenheit ein oder zwei Tage, vielleicht auch eine Woche dauert. Aber so lange ich auch fernbleibe, mache Dir keine Sorgen. Früher oder später komme ich zurück. Bitte, geh in mein Zimmer, wenn Du diesen Brief bekommst, und nimm meine Brieftasche an Dich, die in dem alten Sekretär liegt. Du findest tausend Pfund in Banknoten darin. Verwahre sie bitte, bis ich wiederkomme.

Mit herzlichem Gruß

Dick‹.«

Atherton legte den Brief auf den Tisch und sah Rachel an, die seinen Blick verstört und verzweifelt erwiderte. »Ach, immer noch keine Gewißheit!« sagte sie hoffnungslos. »Wir wußten ja schon, daß er an jenem Abend in Shilhampton war. Aber wohin ist er gegangen? Glauben Sie, daß er sich nach London gewandt hat?«

»Nein, das glaube ich nicht!« rief Blake. »Vor allem müssen wir jetzt herausbringen, wo er diesen Brief schrieb, und wie er dazu kam, ihn diesem Matrosen zu geben. Ich gehe jede Wette ein, daß er nicht von Shilhampton fortgegangen ist. Wir müssen zwischen hier und diesem Ort weiter nach ihm forschen.«

»Vielleicht bekommen wir in Kürze darüber eine Mitteilung«, sagte Atherton. »«Wie Sie wissen, Blake, kam ich heute morgen hierher, um Ihnen etwas mitzuteilen. Gestern abend erhielt ich einen Brief von dem Besitzer des Gasthauses ›Zum Mond und Stern‹, das in den Außenbezirken von Shilhampton liegt. Er schreibt, daß er leider nicht persönlich kommen könne, weil er krank zu Bett liegt, aber wenn ich ihn aufsuchte, könnte er mit Mitteilungen machen, die sich auf das Verschwinden Richard Malverys beziehen. Sobald wir nun hier die nötigen Anordnungen wegen des Toten getroffen haben, wollen wir hinfahren und hören, was dieser Mann zu sagen hat. Doktor, wenn Sie zum Dorf gehen, seien Sie doch so liebenswürdig und schicken Sie den Polizisten her. Er soll dafür sorgen, daß der Tote fortgebracht und alles zu der Totenschau vorbereitet wird.«

Sie verabschiedeten sich von Rachel und versprachen, sie sofort von jedem Fortschritt zu verständigen. Dann nahm Blake neben Atherton Platz, und sie fuhren zu dem Gasthaus »Zum Mond und Stern«.

»Glauben Sie nicht, daß wir heute morgen einen großen Schritt weitergekommen sind?« fragte Blake.

»Ich glaube kaum. Meiner Meinung nach ist dieser Brief nur der Beweis dafür, daß Dick Malvery jetzt erst von dem gefälschten Scheck erfahren hat, und daß er daraufhin irgendeinen bestimmten Entschluß gefaßt hat. Haben Sie sich eigentlich schon einmal überlegt, warum er wohl seine Absicht änderte, und statt nach Hause zurückzukehren, diesen Boten schickte?«

»Nein. Wie denken Sie denn darüber?«

»Dick Malvery hat wahrscheinlich dauernd über diesen gefälschten Scheck nachgedacht, seitdem ihm Stephen Pyke in London davon erzählte. Sie wissen doch noch, was uns die Pykes darüber sagten?«

»Ja. Dick soll vollständig ahnungslos gewesen sein.«

»Und daraus schlossen wir, daß er den Scheck nicht direkt von Boyce Malvery, sondern von einer Zwischenperson erhalten hatte. Ich nehme nun an, daß sich Dick Malvery plötzlich entschloß, während er in Shilhampton oder in der Nähe war, diese Person ausfindig zu machen, da sie doch am geeignetsten war, ihn von dem Verdacht zu reinigen und alles aufzuklären. Nehmen wir einmal an, daß meine Annahme richtig ist, dann können wir ferner aus dem Inhalt des Briefes folgern, daß er nicht genau wußte, wo er diese Person finden konnte. Er schreibt doch wörtlich, daß seine Abwesenheit ein oder zwei Tage, vielleicht auch eine Woche dauern könnte. Einen gewissen Anhaltspunkt mußte er also haben, sonst hätte er wohl nichts von ein oder zwei Tagen geschrieben.«

»Ich glaube, Sie haben das Richtige getroffen. Wenn wir nur erfahren könnten, wer ihm den Scheck gab oder schickte!«

»Ich habe eine schwache: Vermutung«, erwiderte Atherton lächelnd, »aber die Sache ist im Augenblick noch zu ungewiß, so daß ich nicht einmal zu Ihnen darüber sprechen möchte. Trotzdem arbeite ich natürlich in dieser Richtung weiter. Aber heute morgen muß ich etwas herausbringen, was von unmittelbarer Wichtigkeit ist, und zwar, wann Dick diesen Brief an seine Schwester schrieb: vor oder nach seinem Besuch bei den Pykes?«

»Das halten Sie für so wesentlich?«

»Ja. Und ich hoffe, daß uns der Wirt vom ›Mond und Stern‹ in dieser Beziehung einige Aufklärung geben kann. Dort liegt das Gasthaus.« Atherton zeigte auf ein Gebäude, das vor ihnen an der Straße vor den Klippen lag. »Und dort sehen Sie Stephen Pykes Villa. Aus dem Brief des Wirts schließe ich, daß Malvery in dem Gasthaus war. Natürlich hat der Mann auch von der großen Belohnung gehört und hat sicher etwas zu berichten.«

Das Gasthaus zum »Mond und Stern«, vor dem sie jetzt abstiegen, lag einsam an der Straße, die von Shilhampton nach Marshwyke führt. Es war sehr ruhig in der Gaststube, als Atherton und Blake eintraten. Der Polizeikommissar wurde anscheinend erwartet, denn gleich darauf erschien eine kräftige Frau in mittleren Jahren und führte sie in ein anderes Zimmer. Dort saß in einem bequemen Lehnsessel ein alter Mann, dessen rechter Fuß mit Wolltüchern umwickelt war.

»Guten Morgen, meine Herren«, begrüßte er sie, während die Wirtin den beiden Besuchern Stühle anbot. »Sie sehen ja, daß ich nicht zu Ihnen kommen konnte«, wandte er sich dann an Atherton. »Ich habe leider einen Gichtanfall, aber ich wollte Sie doch gern wegen der Sache sprechen, für die eine so große Belohnung ausgesetzt ist«, fuhr er fort, als seine Frau gegangen war. »Es handelt sich um den jungen Mr. Richard.«

»Wissen Sie denn etwas?« fragte Atherton.

»Ja, aber ich wußte nicht, daß es damit in Zusammenhang stand, bis ich den Bericht in der Zeitung las. Wenn man natürlich von einer Belohnung von tausend Pfund hört, dann strengt man sich an und denkt nach, ob einem nichts einfällt.«

»Nun, dann erzählen Sie einmal. Der Herr hier ist Mr. Blake, der die Belohnung ausgesetzt hat. Sie können also in seiner Gegenwart frei sprechen.«

»Ich erinnere mich daran, daß in den dunklen Nächten gegen Ende Februar ein großer, schlanker Herr hier ins Gasthaus kam und mich fragte, ob ich ihm Bleistift und Papier geben könnte. Er wollte einen Brief schreiben. Er sah aus, als ob er von Übersee käme.«

»War er allein?« fragte Atherton.

»Nein, er hatte einen jungen Burschen von neunzehn oder zwanzig Jahren bei sich. Es war ein Matrose, wie ich an seinem blauen Anzug sah. Der Junge hatte seine besten Kleider an und schien auf Urlaub zu sein. Jeder trank ein Glas, und der Fremde kaufte eine Handvoll Zigarren für den Matrosen. Er hatte übrigens einen schwarzen Bart, das habe ich beobachtet, während er den Brief schrieb. Nachher sprachen die beiden noch in der Ecke miteinander, und ich sah, wie er dem Matrosen den Brief und Geld gab. Nachher sagten sie gute Nacht und gingen wieder. Und nun denke ich mir, daß dieser Fremde vielleicht der junge Mr. Richard gewesen sein könnte.«

»Daran kann man wohl kaum zweifeln«, erwiderte Atherton. »Mr. Malvery war an dem Abend in unmittelbarer Nähe. Können Sie mir nun sagen, um wieviel Uhr er hier war?«

»Ja, das weiß ich noch. Als die beiden weggingen, schlug es gerade neun.«

»Und haben Sie gesehen, nach welcher Richtung sie gingen?«

»Gesehen habe ich es nicht, aber ich habe gehört, daß der eine nach Marshwyke und der andere nach Shilhampton ging. Aber wer nun nach der einen und wer nach der anderen Richtung ging, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nur, daß sie sich vor der Tür verabschiedeten und in verschiedenen Richtungen fortgingen.«

»Haben Sie den Matrosen nicht gekannt?«

»Nein, er war mir vollkommen fremd. Ich habe ihn weder vorher noch nachher gesehen.«

»Sie werden den armen Kerl auch nicht wieder zu Gesicht bekommen«, entgegnete Atherton und erzählte dem Wirt, daß man den Mann heute morgen tot in Malvery Hold aufgefunden hat.

Dann verabschiedeten sie sich von dem Wirt und gingen wieder zu ihrem Wagen hinaus.

»Genau das, was ich erwartete«, meinte Atherton, als sie einstiegen. »Ich fahre jetzt nach Shilhampton, denn ich habe Stephen Pyke etwas zu fragen, und später muß ich zu Boyce Malvery.«

 


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