Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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14

Als der Beamte den Raum verließ, wandte sich Atherton mit einem bedeutungsvollen Lächeln an Blake.

»Ich kenne diesen Mann«, sagte er leise, indem er nach der halboffenen Türe hinüberschaute. »Er ist ein bekannter Buchmacher und eine Persönlichkeit. Der hat Charakter. Achten Sie mal auf ihn, wenn er jetzt hereinkommt!«

Dem Herrn, der gleich darauf eintrat, war äußerlich nichts von seinem Beruf anzusehen. Er war mittelgroß, untersetzt, hatte ein ernstes Gesicht und machte eher den Eindruck eines ehrsamen Kolonialwarenhändlers im Sonntagsstaat. Er trug einen schwarzen Anzug und einen großen, breiten Filzhut. Seine Wäsche war tadellos weiß, und er schien in guten Verhältnissen zu leben. Eine große goldene Uhrkette zierte seine Weste, und ein Diamantring blitzte am kleinen Finger seiner linken Hand.

»Guten Morgen, Captain«, sagte er mit volltönender etwas salbungsvoller Stimme. »Hoffentlich geht es Ihnen gut. Sie kennen mich ja seit langem, und ich darf wohl sagen, daß wir schon manche Sache erfolgreich durchgefochten haben. Ist das ein Freund von Ihnen?« fragte er, als er einen Stuhl nahm und Blake mit einem forschenden Blick betrachtete.

»Sie haben den Namen von Mr. Blake wahrscheinlich schon in dem Artikel des ›Argus‹ heute morgen gelesen«, entgegnete Atherton. »Wie ich sehe, haben Sie ja das Blatt in der Hand.«

Mr. Cuffe sah Blake nun mit großem Interesse an und machte eine etwas altmodische Verbeugung vor ihm.

»Ihr Diener«, sagte er höflich. »Ich freue mich, daß ich Sie kennenlerne. Natürlich habe ich den Artikel in der Zeitung gelesen«, wandte er sich dann wieder an den Polizeikommissar. »Was ist denn Ihre Meinung über das geheimnisvolle Verschwinden Mr. Malverys?«

»Ich würde gern Ihre Ansicht hören, Mr. Cuffe«, erwiderte Atherton.

Das Gesicht des Buchmachers wurde ernst, und er schüttelte den Kopf.

»Es gibt viele Rätsel auf dieser Welt, Captain. Das weiß ich am besten. In meinem Beruf komme ich ja mit vielen Leuten zusammen. Was ich da manchmal erfahre! Ich könnte Ihnen ganze Romane erzählen, die ich mit meinen Kunden erlebt habe. Ich habe schon oft zu meinen Töchtern gesagt: ›Mädchen, wenn ich einmal genug Geld verdient habe und ihr gut verheiratet seid, dann ziehe ich mich zurück und schreibe alles auf, was ich erlebt habe!‹ Ich habe kaum einen Roman gelesen, der so interessant wäre, wie das Leben selbst.«

»Und was können Sie uns über Mr. Malvery erzählen?« fragte Atherton.

Der Buchmacher zog seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran und gab Blake ein Zeichen, auch näherzukommen.

»Ich habe diesen Artikel gelesen, und deswegen bin ich hergekommen. Aber bevor ich beginne, noch eine Frage. Kann ich frei in Gegenwart von Mr. Blake sprechen?«

»Mr. Blake ist ein reicher Mann«, erklärte der Beamte, »der sich die Aufgabe gestellt hat, die Wahrheit in dieser Sache an den Tag zu bringen. Er hat schon viel Geld dafür ausgegeben.«

»Das ist ja anerkennenswert von ihm, aber ich würde nicht so großzügig mit dem Gelde umgehen. Was ich sage, möchte ich erst im Vertrauen mitteilen. Sie haben wahrscheinlich nicht gewußt, daß der junge Malvery mit mir in geschäftlicher Verbindung stand, bevor er auswanderte.«

»Nein, das war mir unbekannt«, erwiderte Atherton.

»Das ist auch ganz erklärlich. Wir betrachten unser Geschäft ja als diskret und binden nicht jedem anderen auf die Nase, was wir machen. Dick Malvery hat niemals große Wetten bei mir abgeschlossen, dazu hatte er natürlich kein Geld. Aber wir wurden im Lauf der Zeit ganz gut miteinander bekannt.« Mr. Cuffe machte eine Pause und richtete sich etwas auf. »In meinem Leben sind mir ja schon oft Streiche gespielt worden«, fuhr er dann seufzend fort. »Sie wissen, Captain, ich habe ein gutes Herz und werde leicht sentimental. Und solche Leute werden immer betrogen.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, daß Mr. Richard Malvery Sie auch betrogen hat?«

Mr. Cuffe zog ein schönes, buntgesäumtes Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn.

»Ich bin ja gerade hergekommen, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich glaube, das wird einige Aufklärung in die Sache bringen, wenigstens meiner Meinung nach. Durch den Artikel in der Zeitung ist mir erst klar geworden, daß ich etwas Wichtiges zu sagen habe. Und umgekehrt können meine Angaben den Artikel ergänzen.«

»Wir beide sind Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns sagen, was Sie wissen.«

»Vor etwa fünfeinhalb Jahren wanderte Dick Malvery aus und ging in die Fremde. Es war im Oktober.«

»Das Datum weiß ich nicht so genau«, entgegnete Atherton.

»Ich weiß es aber noch ganz genau. Es war zwei Tage nach dem großen Rennen, und zwar an einem Freitag. Damals kam der junge Malvery ungefähr um halb sieben abends zu mir in meine Privatwohnung in Shilhampton. Wir saßen gerade beim Abendbrot. Es war ungewöhnlich, daß er in meine Wohnung kam, denn normalerweise trafen wir uns in meinem Büro in der Stadt. ›Cuffe‹, sagte er freundlich zu mir, ›es tut mir leid, daß ich Sie zu Hause stören muß‹ – er war immer ein sehr vornehmer und höflicher Gentleman – ›aber ich möchte Sie bitten, mir diesen Scheck einzulösen. Die Banken sind schon geschlossen, und ich kann kein Geld bekommen, brauche aber den Betrag noch heute abend, weil ich in einer sehr wichtigen Angelegenheit nach London fahren muß.‹ – ›Ganz gewiß‹, sage ich, ›wenn ich das Geld zu Hause habe, sollen Sie es bekommen, denn der Scheck ist ja so gut wie bares Geld.‹ – ›Es sind hundert Pfund, und mein Vetter Boyce Malvery hat ihn unterschrieben.‹ – ›O, dann ist die Sache in Ordnung.‹ Ich zahle also die hundert Pfund, betrachte den Scheck und sehe, daß er in Ordnung ist. Dann lege ich ihn in meine Schublade. Der junge Malvery verabschiedet sich, nachdem er noch ein Glas Whisky-Soda mit mir getrunken hat, und dann ist er mit dem Expreßzug nach London gefahren. Und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen«, schloß Mr. Cuffe traurig.

Atherton und Blake, die der Erzählung des Buchmachers interessiert gefolgt waren, sahen sich bedeutungsvoll an.

»Nun, und wie verhielt es sich mit dem Scheck?« fragte der Beamte.

Der Buchmacher sah von einem zum anderen und schüttelte den Kopf.

»Der junge Malvery war seit einigen Jahren mein Kunde. Ich wußte, wer er war, wußte, daß er den Titel einmal erben würde, und zweifelte durchaus nicht an seiner Ehrlichkeit. Ich zahlte den Scheck bei meiner Bank ein; und er wurde auch honoriert. Nachher habe ich allerdings erfahren, daß der junge Mr. Malvery von zu Hause fortgelaufen war, und daß man ihn seit jenem Abend nicht mehr gesehen hat. Es wurde damals viel darüber geredet, daß er weggegangen wäre, ohne jemand ein Wort zu sagen. Er soll sich nicht einmal von seinem Vater und seiner Schwester verabschiedet haben. Und man wußte auch, daß er eine Menge Schulden hinterlassen hatte. Ich habe keinen Schaden durch ihn erlitten, und deswegen habe ich mir auch weiter keine Sorgen gemacht, bis ich eines Tages bitter erfahren mußte, welche Ungerechtigkeiten es in der Welt gibt, und wie anständigen Leuten ihre vornehme Gesinnung gewöhnlich schlecht gelohnt wird. Als Mr. Boyce Malvery am Quartalsabschluß sein Scheckheft nachrechnete, fand er, daß man einen Scheck von hundert Pfund zu seinen Lasten gebucht hatte. Er konnte sich jedoch nicht darauf besinnen, seinem Vetter einen derartigen Scheck ausgestellt zu haben. Er ging zu seiner Bank, ließ ihn sich zeigen und erklärte ihn dann für eine Fälschung. Man mußte natürlich annehmen, daß der junge Dick der Übeltäter war, der ihn gefälscht hatte.«

Bis dahin hatte Blake schweigend und mit großem Interesse zugehört, aber jetzt sprang er erregt auf.

»Das kann ich nicht glauben!« rief er. »Dick Malvery mag ja ein wilder Junge gewesen sein, und er mag eine Menge Schulden gehabt haben, aber niemals war er ein Fälscher! Das ist Unsinn!«

»Halten Sie es wirklich für möglich, daß er unschuldig ist?« fragte Mr. Cuffe liebenswürdig. »Das würde mich sehr freuen. Es spricht für Sie, daß Sie so für Ihren Freund eintreten. Aber ich habe selbst gehört, daß Mr. Boyce Malvery in meiner Gegenwart sagte, sein Name auf dem Scheck wäre gefälscht. Nun hat aber doch der junge Dick mir den Scheck gegeben und behauptet, daß er ihn von seinem Vetter erhalten hätte. Was soll man da glauben?«

»Ich möchte erst ein paar Fragen stellen«, unterbrach ihn Atherton. »Was wurde denn nun aus dem Scheck? Vermutlich überging man die Sache stillschweigend.«

»Da haben Sie recht«, entgegnete der Buchmacher.

»Die Sache wurde totgeschwiegen. Ich hatte mein Geld ja bezahlt bekommen, für mich war also die Sache in Ordnung. Ich kann nicht sagen, wie Mr. Boyce sich mit der Bank geeinigt hat. Aber soviel ich weiß, ist weiter nichts draus geworden, um den Familiennamen nicht in die Öffentlichkeit zu ziehen. Ich versprach, den Mund zu halten und nichts weiter zu unternehmen. Und bis heute habe ich auch geschwiegen.«

»Und warum sprechen Sie nun heute zu mir, Mr. Cuffe? Warum kommen Sie zur Polizei?« fragte Atherton.

Der Buchmacher lächelte.

»Das werde ich Ihnen sagen«, entgegnete er leise. »Ich glaube, daß da nicht alles in Ordnung war. Ich meine nicht nur Ende Februar, sondern auch schon vor fünfeinhalb Jahren. Sie haben herausgebracht, daß ein Mann, der schielt, Dick Malvery in London in seinem Hotel am 26. Februar besuchte. Ich kenne diesen Menschen, das ist Stephen Pyke. Er war früher mein Angestellter und hat nun ein eigenes Geschäft. Daniel, der Bruder von Stephen Pyke, ist Kassierer bei der Bank in Brychester. Warum hat nun wohl Stephen Pyke Dick Malvery in London besucht?«

 


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