Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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6

Am selben Nachmittag um drei Uhr verließen Blake und Atherton das Auto am Marshwyke-Kreuzweg. »Nun sind wir angelangt«, sagte der Beamte. »An dieser Straßenkreuzung hat Abinett den Fremden am 27. Februar abgesetzt. Drüben, jenseits der Bucht, liegt Malvery Hold. Der Turm dort hinten gehört zu der alten Kirche von Malvery. Dort hinter den Gärten sehen Sie das Dorf. Aber im Augenblick interessiert uns nur die Ortschaft zur Linken – Marshwyke.«

Zunächst gingen sie eine kurze Strecke nach Osten, dann kletterte Atherton eine steile Anhöhe hinauf und winkte Blake, ihm zu folgen.

»Ich möchte Ihnen einmal die ganze Gegend hier erklären, denn um Licht in diesen merkwürdigen Fall zu bringen, muß man vor allem die Örtlichkeiten genau kennen. Wir sind hier in der Nähe der großen Bucht, die zwischen uns und Malvery liegt. Sie ist nicht ganz einen Kilometer breit; früher war sie viel breiter. Sehen Sie den Streifen Marschland an diesem Ufer? Und drüben auf der Malveryseite ist er noch breiter als hier. Vor fünfundzwanzig Jahren dehnte sich die Bucht über die zwei Kilometer aus, durch Errichtung der großen Barre wurde sie aber so weit eingeengt, wie Sie es jetzt in der Ferne sehen können. Die beiden Streifen Marschland wurden damals trockengelegt. Ich weiß allerdings nicht, ob sich die große Arbeit gelohnt hat, denn auf dem neugewonnenen Land können sich höchstens ein paar Gänse oder einige Ziegen ernähren.«

Blake schaute interessiert umher, obwohl er die Gegend aus den Beschreibungen seines Freundes schon ziemlich gut kannte. Atherton wandte sich jetzt nach Osten und erklärte weiter.

»Sehen Sie die Häuser dort? Das ist Marshwyke. Das große Gebäude ist die Mühle. Das war früher einmal ein betriebsamer Platz. Sie sehen es noch an der ausgedehnten Anlage. Als die Mühle noch in Gang war, herrschte hier lebhafter Schiffsverkehr. Aber jetzt ist alles in Verfall, und die Maschinen rosten und verderben. Die Hälfte der Häuser in Marshwyke steht leer, und die paar Leute, die dort noch wohnen, verdienen ihren Lebensunterhalt durch Fischen, Krabben- und Austernfang. Es sind merkwürdige Leute, und es ist ein so merkwürdiger Ort. Aber bevor wir dorthin gehen, möchte ich Ihnen noch zwei andere interessante Punkte zeigen.« Er führte Blake zu einem Vorsprung und deutete auf eine einsame Hütte, die am äußersten Ende der Bucht zwischen Marshwyke und der langen braunen Barre lag.

»Sehen Sie drüben dieses seltsame Gebäude? Es ist teils aus den Trümmern eines Schiffes, teils aus Steinmauern mit Tonmörtel errichtet. Dort wohnen die Clents. Ich habe Ihnen bereits von der Familie erzählt. Judah, der Sohn, fährt zeitweise zur See, und dann wieder führt er ein rätselhaftes Leben hier an der Küste. Ich möchte gerne wissen, was er treibt, wenn er an Land ist. Die alte Clent könnte ein wunderbares Modell für einen Maler abgeben, der die Zauberhexe von Endor darstellen wollte. Und die Tochter war und ist noch immer eine große Schönheit, das heißt für Leute, die eine gewisse teuflische Schönheit lieben. Man hat hier viel darüber geredet, daß Dick Malvery sie hat sitzenlassen. Hat er niemals über Gillian Clent gesprochen?«

»Nein. Er hat mir von allerhand Leuten in dieser Gegend erzählt, aber die Clents hat er nie erwähnt.«

»Aha! Dann wird das Gerücht schon wahr sein. Aber nun will ich Ihnen noch den anderen wichtigen Punkt zeigen. Zwischen dem Dorf und der Clentschen Wohnung ist ein großer schwarzer Pfahl eingerammt; er ragt aus dem Sand hervor. Können Sie auch die kleineren Pfähle sehen, die quer durch die Bucht hindurchlaufen, von dieser Seite bis nach Malvery hin?«

»Ja, das kann ich alles sehen.«

»Sie bezeichnen einen Weg durch die Bucht bei Ebbe. Die Leute müssen dann den Pfählen entlanggehen, denn der Boden der Bucht ist gefährlich. Es gibt hier sehr viel Triebsand. Bitte betrachten Sie diesen Weg ganz genau. Nach den Worten des Fuhrmanns ist anzunehmen, daß Dick Malvery nach Marshwyke ging. Und der Weg quer durch die Bucht ist der kürzeste von Marshwyke nach Malvery Hold. Der Gedanke ist mir allerdings gerade erst gekommen – aber Richard Malvery könnte in den gefährlichen Triebsand geraten und verschwunden sein.«

Blake fuhr zusammen.

»Das ist eine sehr glaubwürdige Theorie!« rief er. »Kann man die Pfähle absuchen lassen?«

»Nein, das ist so gut wie ausgeschlossen. Die Leute hier glauben, daß diese Stellen grundlos sind. Seitdem ich in Brychester bin, verschwand ein Wagen mit Pferd darin – spurlos! Nun wollen wir aber einmal zum ›Gelichteten Anker‹ gehen und mit Nick Briscoe sprechen.«

Blake mußte zugeben, daß er selten einen öderen und verlasseneren Ort als Marshwyke gesehen hatte. Die Mühle und die umliegenden Häuser sahen aus, als wären sie mit Schrappnells bombardiert worden. Durch die eingeschlagenen, zertrümmerten Fenster und die zerbrochenen Türen konnte man Massen zusammengebrochenen Mauerwerks und heruntergefallener Sparren auf den Böden erkennen. Die Straße war hoch mit Binsen und Gras bewachsen. Auch die bewohnten Häuser sahen traurig und ärmlich aus, und die Frauen und Kinder, die in den Türen standen und die Fremden anstarrten, hätten eher in eine Hottentottensiedlung als in ein englisches Dorf gepaßt. Das einzige anständige Gebäude war der Gasthof, der aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte.

»Was die Leute mühsam verdienen, wandert hier durch die Gurgel«, sagte Atherton mit einem grimmigen Lachen. »Nun achten Sie einmal auf Mr. Briscoe. Dieser Wirt gehört zu den Leuten, die dicht halten, wenn sie etwas wissen, und es sich noch sehr überlegen, wem sie ihre Kenntnis mitteilen.«

*

Die Gaststube im ›Gelichteten Anker‹ war leer, als Atherton und Blake eintraten; aber gleich darauf erschien der korpulente Wirt, ein Mann in mittleren Jahren von dunkler Hautfarbe. Er war nicht im mindesten erstaunt, den Polizeikommissar hier zu sehen, und winkte den beiden zu, in das Zimmer zu treten, das er eben verlassen hatte.

»Kommen Sie herein, meine Herren, hier bei mir ist es wärmer und gemütlicher. Ich hatte schon eine Ahnung, daß ich Sie heute sehen würde, Captain«, wandte er sich an den Beamten. »Ich habe den Aufruf gerade gelesen. Der Polizist hat einen im Gasthaus zurückgelassen.«

Bei diesen Worten zeigte er auf die Bekanntmachung, die auf dem Tisch lag.

»Warum meinten Sie denn, daß ich kommen würde, Briscoe?« fragte Atherton.

»Nun, ganz einfach. Wenn Dick Malvery an dem Abend in Brychester war, dann ging er doch sicherlich auch nach Hause. Und in den alten Zeiten ist Dick niemals nach Hause gegangen, ohne im ›Gelichteten Anker‹ einzukehren!«

»Können Sie sich nicht erinnern, daß Sie ihn Ende Februar in der Gegend hier gesehen haben?«

»Nein«, versicherte Briscoe nachdrücklich, »bestimmt nicht. Ich wäre sehr erfreut gewesen, wenn er aufgetaucht wäre, denn er schuldet mir noch nahezu dreißig Pfund!«

»Haben Sie nicht Ende Februar einen großen, schlanken Mann mit dunklem Bart gesehen, den Sie für einen Fremden hielten?« fragte Atherton weiter.

Briscoe, der eine gute Flasche Whisky aus seinem Privatschrank geholt hatte und eben seine besten Gläser putzte, hielt plötzlich in seiner Beschäftigung inne und setzte sich auf den nächsten Stuhl.

»Großer Gott!« rief er. »Das ist doch nicht etwa Dick Malvery gewesen? Ich sah ihn für einen Amerikaner an.«

»Erzählen Sie uns doch, was Sie von dem Mann wissen«, bat der Beamte. »Sie können ruhig vor Mr. Blake sprechen. Er ist ein Freund Dick Malverys und war in Kanada sein Teilhaber. Mr. Blake hat auch diese Belohnung ausgesetzt, Briscoe. Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel, daß Richard Malvery am 27. Februar abends in Brychester war. Abinett fuhr ihn später bis zum Kreuzweg von Marshwyke. Der Fuhrmann hat ihn aber auch nicht erkannt. Und dann muß er hier ins Dorf gegangen sein. Er ist also in Ihr Gasthaus gekommen?«

»Ja, der Mann, den Sie vorher beschrieben haben, war hier«, erwiderte der erstaunte Wirt. »Ich kann mich ziemlich genau besinnen; es war Ende Februar oder Anfang März. Die Nacht war dunkel, und ich hatte nur eine Lampe in der Gaststube brennen, deshalb konnte ich ihn nicht so genau sehen. Aber trotz allem kann ich mich noch sehr genau auf ihn besinnen. Er ließ sich ein Glas Whisky geben und saß kurze Zeit in der hinteren Ecke. Deshalb habe ich ihn auch nicht recht beobachten können. Er sagte nicht viel, und ich hielt ihn für einen Amerikaner, der nach Shilhampton wollte. Jedenfalls fragte er nach dem Weg dorthin.«

»So? Wollte er nach Shilhampton gehen?« fragte Atherton.

»Ganz klar war das eigentlich nicht«, entgegnete Briscoe. »Er sagte nur in fragendem Ton: ›Das ist doch die Straße nach Shilhampton?‹ Ich bejahte es, und als er sich ein paar Minuten später verabschiedete, ging er auch in dieser Richtung fort.«

»War zu der Zeit noch jemand in der Gaststube?«

»Ja, noch zwei andere Leute. Der alte Peter Flint und Zekel Harneß. Die werden sich sicher auch noch auf ihn besinnen.«

»Die ausgesetzte Belohnung wird ihr Gedächtnis schon in Bewegung setzen«, meinte Atherton. »Er ging also in Richtung nach Osten fort, mit anderen Worten«, sagte er etwas leiser, »er ging auf das Clentsche Haus zu.«

Der Wirt sah ihn mit einem verständnisvollen Blick an, und auch er dämpfte seine Stimme.

»Ja, ja, ich weiß schon, was Sie meinen.«

»Sie wissen, womit Judah Clent damals drohte?«

»Ich weiß es ganz genau, denn er stieß auch in der Gaststube seine Drohungen aus, und ich mußte ihn mehr als einmal verwarnen. Er war damals sehr wütend auf Richard Malvery.«

»Ein Mann von seinem Charakter trägt lange nach. Wissen Sie nun vielleicht zufällig, Briscoe, ob Judah Clent Ende Februar zu Hause war?«

»Das kann ich im Augenblick nicht sagen, aber ich werde es bald erfahren. Jetzt ist er jedenfalls da, und heute abend kommt er sicher hierher. Und dann wird er wahrscheinlich auch einen recht großen Mund über die Bekanntmachung haben!«

»Also seien Sie klug. Wenn Sie etwas hören, dann lassen Sie es mich wissen, Briscoe. Und noch eins, aber im Vertrauen: Wir haben guten Grund zu der Annahme, daß Dick Malvery fünfzehnhundert Pfund in der Tasche hatte, als er an jenem Abend aus Brychester wegging.«

Der Wirt zog die Augenbrauen hoch und schüttelte langsam den Kopf.

»Da muß doch irgend etwas nicht stimmen! Am Ende hat ihn noch einer erschlagen!«

»Ja, es ist möglich, Briscoe, daß Sie einer der letzten waren, die ihn gesehen haben«, pflichtete Atherton bei.

»Das heißt«, mischte sich Blake plötzlich ins Gespräch, »wenn er wirklich tot ist.«

 


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